2. Oktober 1808, 10 Uhr vormittags. Goethe steigt die Treppe zum Vorsaal der ehemaligen kurmainzischen Stadthalterei hinauf, dem Erfurter Regierungsgebäude. Er trägt Hofkleidung, gestickter Rock, Kniehosen, Seidenstrümpfe, Degen und Schnallenschuhe. Vor dem Audienzzimmer hält Goethe inne. Wenig später wird er hineingerufen.
"Der Kayser sitzt an einem großen Tische frühstückend;
Zu seiner Rechten etwas entfernt vom Tische Talleyrand,
zu seiner linken ziemlich nah Daru, mit dem er sich über die Contributions-Angelegenheiten unterhält.
Der Kayser winkt mir heranzukommen.
Ich bleibe in schicklicher Entfernung vor ihm stehen.
Nachdem er mich aufmerksam angeblickt, sagte er:
"Vous êtes un homme";
Ich verbeuge mich.
Er fragt: wie alt seyd ihr?
Sechzig Jahr.
Ihr habt euch gut erhalten."
1808 ist ein Wendejahr. In den Steinwüsten Spaniens werden die napoleonischen Adler von einer Guerilla irritiert. Das durch keine Niederlage entmutigte Österreich rüstet heimlich zu neuem Kriege. Im gedemütigten Restpreußen beginnt Stein mit der Reformarbeit. Geheimbünde planen die Volkserhebung.
Derweil entfaltet Napoleon auf dem Dresdner Fürstentag noch einmal die ganze Pracht des Imperiums. Es wird nicht länger von der Kraft der Ideen getragen. Es ruht allein auf dem Genie des Kaisers. Vier Könige, acht Herzöge, Abhängige allesamt, bilden sein Gefolge in Erfurt. Dazu der Zar. Ihm will Napoleon imponieren, ihm bietet er die Teilung Europas an. Napoleons Ringen um Alexander, durchkreuzt vom Verräter Talleyrand, ist das weltpolitische Thema dieser Tage von Erfurt, deren Abende ganz dem "Théatre francais" und dem göttlichen Talma gehören. Ihn hat Napoleon samt seiner Theatertruppe nach Erfurt beordert.
Vor diesem welthistorischen Hintergrund bildet die Begegnung mit Goethe gewiss nur eine Fußnote. Und doch, welch ein Augenblick! Die beiden überlebensgroßen Gestalten der Epoche stehen einander gegenüber. Hier der Dichter von Weltruhm, dort der Beherrscher der Welt. Geist und Macht, Gedanke und Tat.
Gustav Seibt gelingt es, die Begegnung von Dresden minutiös zu rekonstruieren. Aus dem Ein-Stunden-Gespräch entwickelt er ein Zwei-Personen-Drama, das die großen Akteure in ein ungewohntes Licht taucht. Abziehbilder wie das vom unpolitischen Goethe und dem kriegswütigen Emporkömmling Napoleon werden deutlich retouchiert. Im Mittelpunkt steht Goethe; er ist die Hauptperson, die Napoleon umkreist. Dieser zieht die Fäden. Napoleon reicht die königliche Entourage nicht. Er möchte die wahren Olympier kennenlernen. Auch Christoph Martin Wieland hat er nach Erfurt gerufen, so wie er zuvor in Berlin Johannes von Müller einbestellt hat. Beide zieht er in seinen Bann, den Historiker Müller so sehr, dass dieser die Seiten wechselt und als Minister in Jérômes Musterstaat Westphalen anheuert.
Mit Goethe streift er Persönliches, verwickelt ihn vor allem jedoch in ein literarisches Fachgespräch. Beim "Werther" hält er ihm eine kompositorische Unstimmigkeit vor. Der Einwand gilt; Goethe muß es lächelnd einräumen. Der Kaiser ist von unstillbarem Wissensdurst. Siebenmal soll er den "Werther" gelesen haben; das Buch war im ägyptischen Kriegsgepäck. Napoleon hat einen eigenen Bibliothekar, der ihm Unmengen von Büchern zuführen muß. Er kennt die Klassiker, besonders die Herrschergeschichten der griechisch-römischen Antike. Goethe fordert er auf, nach Paris zu kommen und ein Cäsar-Drama zu schreiben. Das ist bei einem zweiten Gespräch, ein paar Tage später.
Wie man weiß, bleibt Goethe in Weimar, den Cäsar-Stoff greift er nicht auf. Doch ohne Zweifel beeindruckt ihn der Kaiser, der sich auf dem Feld des Geistes fast so sicher bewegt wie auf dem des Krieges. Es schmeichelt ihm, von Napoleon als Gleicher behandelt zu werden.
Tatsächlich muss Goethe, um Napoleon vorurteilsfrei gegenüberzutreten, keine innere Reserve überwinden. Er bewundert den großen Korsen schon lange. Den Code Civil erkennt er als Errungenschaft. Hoch rechnet er dem Kaiser dessen bahnbrechenden Vorstoß zur Sicherung des Urheberrechts an. Mögen ihn die Patrioten dafür auch schmähen: Der sich ausbreitende Franzosenhass ist Goethe zuwider; Vaterlandsliebe, die sich zum Feindeshass steigert, wird ihm stets fremd bleiben. Napoleon misst er mit dem Sondermaßstab des Genies:
"Napoleon ist für Goethe zu einer absoluten Größe geworden, die er mit vollkommener moralischer Unbefangenheit beobachtet."
Ein Ausnahmemensch, das ist Napoleon für den Dichter, erst recht nach der Erfurter Begegnung. Noch 1828, in einem Gespräch mit Eckermann, retourniert er das verbrüdernde "C’est un homme":
"Da war Napoleon ein Kerl! – Immer erleuchtet, immer klar und entschieden, und zu jeder Stunde mit der hinreichenden Energie begabt, um das, was er als vorteilhaft und notwendig erkannt hatte, sogleich ins Werk zu setzen. Sein Leben war das Schreiten eines Halbgottes von Schlacht zu Schlacht und von Sieg zu Sieg. Von ihm könne man wohl sagen, dass er sich im Zustande einer fortwährenden Erleuchtung befunden, weshalb auch sein Geschick ein so glänzendes war, so wie es die Welt vor ihm nicht sah und vielleicht auch nach ihm nicht sehen wird."
Das 19. Jahrhundert steht dem Titanismus naiv und sorglos gegenüber; es hat die hemmungslose moralische Entgrenzung der modernen Tyrannei noch nicht erlebt. Stolz trägt Goethe den ihm von Napoleon verliehenen Orden der Ehrenlegion, trotzig trägt er ihn auch dann noch, als des Kaisers Stern längst im Sinkflug ist. Nach Erfurt, nach dem Rendezvous der Ungleichen-Gleichen, fühlt er sich Napoleon wahlverwandtschaftlich verbunden. Immer wird er von ihm als "meinem Kaiser" sprechen.
Im "Epimenides", geschrieben nach der Niederlage des Kaisers, lässt sich Goethe nicht zu der erwarteten Verurteilung des einst von aller Welt Gefürchteten, jetzt Verhöhnten hinreißen. Napoleons Sturz erscheint als tragisches Scheitern, vorbestimmt durch die notwendige Wiederherstellung der kosmischen Ordnung.
"Doch, was dem Abgrund kühn entstiegen,
kann durch ein ehernes Geschick,
den halben Weltkreis übersiegen,
zum Abgrund muß es doch zurück."
Gustav Seibt hat mit "Goethe und Napoleon" eine glanzvolle Miniatur geschaffen. Seibt genügt ein einziger Lichtstrahl, um eine ganze Epoche zu erhellen. Daraus ist ein Buch entstanden, das als Muster erzählender Geschichtsschreibung gelten kann.
Gustav Seibt, Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung, C.H.Beck München 2008
"Der Kayser sitzt an einem großen Tische frühstückend;
Zu seiner Rechten etwas entfernt vom Tische Talleyrand,
zu seiner linken ziemlich nah Daru, mit dem er sich über die Contributions-Angelegenheiten unterhält.
Der Kayser winkt mir heranzukommen.
Ich bleibe in schicklicher Entfernung vor ihm stehen.
Nachdem er mich aufmerksam angeblickt, sagte er:
"Vous êtes un homme";
Ich verbeuge mich.
Er fragt: wie alt seyd ihr?
Sechzig Jahr.
Ihr habt euch gut erhalten."
1808 ist ein Wendejahr. In den Steinwüsten Spaniens werden die napoleonischen Adler von einer Guerilla irritiert. Das durch keine Niederlage entmutigte Österreich rüstet heimlich zu neuem Kriege. Im gedemütigten Restpreußen beginnt Stein mit der Reformarbeit. Geheimbünde planen die Volkserhebung.
Derweil entfaltet Napoleon auf dem Dresdner Fürstentag noch einmal die ganze Pracht des Imperiums. Es wird nicht länger von der Kraft der Ideen getragen. Es ruht allein auf dem Genie des Kaisers. Vier Könige, acht Herzöge, Abhängige allesamt, bilden sein Gefolge in Erfurt. Dazu der Zar. Ihm will Napoleon imponieren, ihm bietet er die Teilung Europas an. Napoleons Ringen um Alexander, durchkreuzt vom Verräter Talleyrand, ist das weltpolitische Thema dieser Tage von Erfurt, deren Abende ganz dem "Théatre francais" und dem göttlichen Talma gehören. Ihn hat Napoleon samt seiner Theatertruppe nach Erfurt beordert.
Vor diesem welthistorischen Hintergrund bildet die Begegnung mit Goethe gewiss nur eine Fußnote. Und doch, welch ein Augenblick! Die beiden überlebensgroßen Gestalten der Epoche stehen einander gegenüber. Hier der Dichter von Weltruhm, dort der Beherrscher der Welt. Geist und Macht, Gedanke und Tat.
Gustav Seibt gelingt es, die Begegnung von Dresden minutiös zu rekonstruieren. Aus dem Ein-Stunden-Gespräch entwickelt er ein Zwei-Personen-Drama, das die großen Akteure in ein ungewohntes Licht taucht. Abziehbilder wie das vom unpolitischen Goethe und dem kriegswütigen Emporkömmling Napoleon werden deutlich retouchiert. Im Mittelpunkt steht Goethe; er ist die Hauptperson, die Napoleon umkreist. Dieser zieht die Fäden. Napoleon reicht die königliche Entourage nicht. Er möchte die wahren Olympier kennenlernen. Auch Christoph Martin Wieland hat er nach Erfurt gerufen, so wie er zuvor in Berlin Johannes von Müller einbestellt hat. Beide zieht er in seinen Bann, den Historiker Müller so sehr, dass dieser die Seiten wechselt und als Minister in Jérômes Musterstaat Westphalen anheuert.
Mit Goethe streift er Persönliches, verwickelt ihn vor allem jedoch in ein literarisches Fachgespräch. Beim "Werther" hält er ihm eine kompositorische Unstimmigkeit vor. Der Einwand gilt; Goethe muß es lächelnd einräumen. Der Kaiser ist von unstillbarem Wissensdurst. Siebenmal soll er den "Werther" gelesen haben; das Buch war im ägyptischen Kriegsgepäck. Napoleon hat einen eigenen Bibliothekar, der ihm Unmengen von Büchern zuführen muß. Er kennt die Klassiker, besonders die Herrschergeschichten der griechisch-römischen Antike. Goethe fordert er auf, nach Paris zu kommen und ein Cäsar-Drama zu schreiben. Das ist bei einem zweiten Gespräch, ein paar Tage später.
Wie man weiß, bleibt Goethe in Weimar, den Cäsar-Stoff greift er nicht auf. Doch ohne Zweifel beeindruckt ihn der Kaiser, der sich auf dem Feld des Geistes fast so sicher bewegt wie auf dem des Krieges. Es schmeichelt ihm, von Napoleon als Gleicher behandelt zu werden.
Tatsächlich muss Goethe, um Napoleon vorurteilsfrei gegenüberzutreten, keine innere Reserve überwinden. Er bewundert den großen Korsen schon lange. Den Code Civil erkennt er als Errungenschaft. Hoch rechnet er dem Kaiser dessen bahnbrechenden Vorstoß zur Sicherung des Urheberrechts an. Mögen ihn die Patrioten dafür auch schmähen: Der sich ausbreitende Franzosenhass ist Goethe zuwider; Vaterlandsliebe, die sich zum Feindeshass steigert, wird ihm stets fremd bleiben. Napoleon misst er mit dem Sondermaßstab des Genies:
"Napoleon ist für Goethe zu einer absoluten Größe geworden, die er mit vollkommener moralischer Unbefangenheit beobachtet."
Ein Ausnahmemensch, das ist Napoleon für den Dichter, erst recht nach der Erfurter Begegnung. Noch 1828, in einem Gespräch mit Eckermann, retourniert er das verbrüdernde "C’est un homme":
"Da war Napoleon ein Kerl! – Immer erleuchtet, immer klar und entschieden, und zu jeder Stunde mit der hinreichenden Energie begabt, um das, was er als vorteilhaft und notwendig erkannt hatte, sogleich ins Werk zu setzen. Sein Leben war das Schreiten eines Halbgottes von Schlacht zu Schlacht und von Sieg zu Sieg. Von ihm könne man wohl sagen, dass er sich im Zustande einer fortwährenden Erleuchtung befunden, weshalb auch sein Geschick ein so glänzendes war, so wie es die Welt vor ihm nicht sah und vielleicht auch nach ihm nicht sehen wird."
Das 19. Jahrhundert steht dem Titanismus naiv und sorglos gegenüber; es hat die hemmungslose moralische Entgrenzung der modernen Tyrannei noch nicht erlebt. Stolz trägt Goethe den ihm von Napoleon verliehenen Orden der Ehrenlegion, trotzig trägt er ihn auch dann noch, als des Kaisers Stern längst im Sinkflug ist. Nach Erfurt, nach dem Rendezvous der Ungleichen-Gleichen, fühlt er sich Napoleon wahlverwandtschaftlich verbunden. Immer wird er von ihm als "meinem Kaiser" sprechen.
Im "Epimenides", geschrieben nach der Niederlage des Kaisers, lässt sich Goethe nicht zu der erwarteten Verurteilung des einst von aller Welt Gefürchteten, jetzt Verhöhnten hinreißen. Napoleons Sturz erscheint als tragisches Scheitern, vorbestimmt durch die notwendige Wiederherstellung der kosmischen Ordnung.
"Doch, was dem Abgrund kühn entstiegen,
kann durch ein ehernes Geschick,
den halben Weltkreis übersiegen,
zum Abgrund muß es doch zurück."
Gustav Seibt hat mit "Goethe und Napoleon" eine glanzvolle Miniatur geschaffen. Seibt genügt ein einziger Lichtstrahl, um eine ganze Epoche zu erhellen. Daraus ist ein Buch entstanden, das als Muster erzählender Geschichtsschreibung gelten kann.
Gustav Seibt, Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung, C.H.Beck München 2008