"Hätte-hätte-Fahrradkette!" - das war eins der amüsanteren Zitate aus der Wahlkampagne von Peer Steinbrück, der ja mal deutscher Kanzler werden wollte; der eine oder die andere wird sich erinnern... Der erste Teil der jüngsten Pollesch-Tirade, diesmal wieder als Solo-Text dem Schauspieler Fabian Hinrichs vorbehalten, ist so ein Steinbrück-Spiel: Über all das, was HÄTTE sein können, mit oder ohne Fahrradkette. Wie das Leben weiter gehen würde, wenn das Erzähler-Ich ein Iggy-Pop-Konzert besucht hätte, oder wie, wenn es zu Hause geblieben wäre und sich weiterhin mit Kontaktanzeigen auf einschlägigen Internet-Portalen beschäftigt hätte; das mäandert hierhin und dorthin und fächert en gros und en detail all die unübersehbaren Mengen von Optionen auf – auf der Suche letztlich immer nur und immer wieder nach dem großen "Versprechen", das das Leben für alle bereit hält, nach der großen Liebe.
Dann ist Hinrichs mit dieser Dauerspekulation auf mögliche Zukünfte durch, und erstmals ist eine fünfköpfige Tanz-Kompanie auf die Bühne gestürmt und hat zu Passagen aus Leonard Bernsteins "West Side Story" kleinere, wenig spektakuläre Gruppen-Choreographien für die "Sharks"- und die "Jets"-Gang in diesem klassischen Musical ausprobiert. Die Tänzer tragen Sternchen-Kostüme, und Bert Neumanns Bühne hat einen rot-weiß-gestreiften Boden - das ergibt, vor wie immer schwarzem Lametta-Rundhorizont, zusammen die "Stars and stripes" der amerikanischen Flagge. Ob das was zu sagen hat?
Der Hinrichs-Monolog hat derweil eine eher selbstquälerische Note angenommen - nicht mehr die Verhältnisse an sich und die Ungewissheiten unüberschaubarer Handlungsoptionen verhindern das Erreichen des Lebensziels, also die Einlösung des großen "Versprechens", der unübertrefflichen Liebe, sondern das Ich selber hat nicht genug davon, setzt nicht genug Liebe ein, um Liebe zu erringen. Das ist seit geraumer Zeit das große Dauerthema in Rene Polleschs Gardinenpredigten - wo das große Lieben im Leben hin geraten ist ... vielleicht hat die anhaltende Sympathie des Publikums für diese nicht sehr wandelbaren Texte etwas zu tun mit der Wiedererkennbarkeit einzelner Lebensthemen im Dauer-Strom der Worte.
Nur ein Bär ganz in Weiß
Meistens gibt's obendrein ein starkes, nachhaltig wirksames Bild in den Pollesch-Abenden. Neulich, bei dem 'einen der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte', hatte Bert Neumanns Team einen schwebenden, innen begehbaren Haifisch in die Bühne gehängt; jetzt bläst sich im Laufe des zunehmend schmerzhaften Hinrichs-Sehnens nach "dem anderen" im Leben ein schließlich bühnenhoher Gummi-Bär ganz in weiß auf ... "No Fear", der alte Volksbühnen-Wahlspruch von vor über zehn Jahren (als Castorf sehr kurzfristig die Ruhrfestspiele in Recklinghausen übernahm), steht vorn und hinten drauf auf dem Bären. Wieder stürmt das Tanz-Quintett herein ...
Und die "West Side"- wird zur "Rest-Zeit-Story"; Polleschs Erzähler-Ich trudelt hin und her in zunehmend verzweifelter Hoffnungslosigkeit – was soll denn schon noch kommen, wenn die große Liebe, das große "Versprechen" sich nicht blicken lässt? Vielleicht gab es das alles ja schon – und wir haben es bloß verpasst?
Schließlich mixt Hinrichs noch zwei Sinatra-Hits, "New York, New York" (wie gestern bei Jerome Bels Konkurrenz-Spektakel im Theater "Hebbel am Ufer") und und "My Way" - um zu bekennen, dass das verzweifelte Ich immer nur den Weg des verlorenen Anderen gelebt habe; und dass vielleicht auch Schweinfurt, nicht New York (und erst recht nicht Berlin) der Nabel der Welt sei.
Es gehört vielleicht zu den Stärken der Pollesch-Literatur, dass sie nie mehr behauptet, als sie einlöst auf der Bühne. Genau das ist aber sicher auch die fundamentale (und nach Jahren immer deutlicher spürbare) Schwäche des Pollesch-Theaters: dass da nichts zu entdecken ist unter ganz viel Oberfläche. Pollesch-Premieren sind wie der Rausch im Pop-Konzert - nichts davon bleibt. Außer dem Bären ganz in Weiß.