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René Weiland: "Die Unruhe des Denkens und das Versprechen der Philosophie"
Den schwankenden Grund unseres Daseins spüren

In jeder Sekunde unseres Lebens denken wir. Denken bestimmt unser Weltverhältnis. Was aber ist dann eigentlich Aufgabe der Philosophie? René Weiland hat dieses Verhältnis in seinem neuen Buch „Die Unruhe des Denkens“ untersucht.

Von Matthias Eckoldt |
René Weiland: "Die Unruhe des Denkens und das Versprechen der Philosophie"
Vom Denken zum Gedanken kommen: René Weilands Buch "Die Unruhe des Denkens und das Versprechen der Philosophie" (Foto: Kirsten Breustedt, Buchcover: der blaue reiter - Verlag für Philosophie, Hannover)
René Weiland hält sich in seinem neuen Buch nicht lange bei der Vorrede auf. Gleich in der Einleitung bringt er – so wie es der Titel verspricht – das Denken in Unruhe. "Wer philosophiert, denkt nicht", ist da als Überschrift zu lesen. Bei der Lektüre stellt sich rasch heraus, dass es sich dabei nicht um eine Provokation handelt.
Vielmehr entfaltet Weiland eingängig die Differenz von Denken, zu dem jeder Mensch in jeder Sekunde seines Erdenlebens geradezu verdammt ist, und dem "Philosophieren", das die Tätigkeit beschreibt, sich innerhalb eines festgesteckten Rahmens mit Vorgedachtem zu beschäftigen. Anders als beim assoziativen Denken, das einem wilden Bewusstseinsstrom gleicht, schließt man beim Philosophieren Sinneswahrnehmungen und subjektive Haltungen eher aus. Allerdings spielt Weiland nun nicht akademische Philosophie gegen subjektives Denken aus, sondern führt hin zum Dilemma, in dem der moderne Mensch steckt: Er ist geradezu eingeklemmt zwischen dem denkenden Denken in unserem Bewusstsein und dem bereits gedachten Denken, das die Regale der Bibliotheken füllt. Weiland nimmt dies zum Ausgangspunkt, um eine seiner dialektisch anmutenden Denkspiralen zu starten, die einen wie in einen Strudel hineinziehen. Man möchte bei jedem Satz verweilen und wird doch sogleich vom Sog des nächsten fortgerissen:
"Die Idee der Philosophie beruht auf der Bereitschaft, uns für das offenzuhalten, was wir nicht selbst sind. Keine Philosophie vermag die Quelle, die wir für uns darstellen, auszuschöpfen. Wir sehen, wie uns eine Welt erscheint. So sehr wir auf unsere je eigene Weise die Welt wahrnehmen, gehen wir schon über sie hinaus – und kommen doch nie an sie heran."

Vom Denken zum Gedanken

Das Buch "Die Unruhe des Denkens" ist Seite für Seite eine Einladung zur nichtakademischen philosophischen Meditation, die den schwankenden Grund unseres Daseins fast sinnlich spürbar macht. Man wird immer wieder aus seinem Gleichgewicht geworfen, wenn die Welt des sicher Geglaubten ins Taumeln gerät. Etwa wenn Weiland die Plausibilität der sokratischen Lehre in Zweifel zieht, weil Sokrates seine Dialogpartner vorsätzlich in die Ratlosigkeit treibt, während er selbst sein Vorwissen über die Unmöglichkeit sicherer Wahrheiten hinter ironischer Geste verbirgt. Oder wenn die Fehlstelle der Aufklärung plastisch erkennbar wird, die im mangelnden Bewusstsein der Aufklärer über ihre eigene Unwissenheit besteht. Weiland macht in vielen verschiedenen Facetten deutlich, dass Gleichgewicht nur um den Preis seiner Störung zu haben ist.
René Weiland: "Denken ist wirklich immer wieder neu der Versuch, vom Denken zum Gedanken zu kommen, von der Gleichgewichtsstörung in ein neues Gleichgewicht. Aber der Gedanke, den wir haben, beginnt uns irgendwann selbst zu haben. Wir erstarren mit einem Gedanken, den wir gehabt haben. Wir müssen sozusagen aus unseren eigenen Gedanken wieder ausbrechen. Das heißt, wir müssen immer wieder selbst die Kraft aufwenden, uns aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen."

Das Gewicht des zu lebenden Lebens

So kann man das Thema des Buches als die beharrliche Suche nach einer Mitte beschreiben, einer Mitte, die jedoch unerreichbar bleiben muss, weil lebendiges Denken auf Irritation angewiesen ist. So ist es nicht verwunderlich, dass Weiland immer wieder auf Aristoteles Bezug nimmt, der als Philosoph der Mitte gilt. So sah er die Tugend in der Mitte zwischen den Extremen liegen und verortete beispielsweise den Mut zwischen Tollkühnheit und Furcht. Doch auch Aristoteles dient Weiland nicht als Säulenheiliger. Das wird deutlich, wenn er den Begriff der Mitte aller objektivierenden, arithmetischen Eigenschaften entkleidet und ihn so in Bewegung setzt.
"Wir denken unvermeidbar subjektiv. Umgekehrt streben wir in uns weg von uns, nach Objektivität. Wir stellen eine Lücke in der Wirklichkeit dar, die an ihrer eigenen Überbrückung arbeitet. Wo sie gelingt, sind wir in unserer Mitte, wenn auch nur für diesen Augenblick."

Die Öffnung zum Gegenüber

Das Buch "Die Unruhe des Denkens" ist durchaus einzigartig. Unter den deutschsprachigen Philosophie-Publikationen der letzten Jahre gibt es kaum Titel, mit denen es sich vergleichen lässt. Gleichwohl liegt die Latte hier hoch. Wer nach raschen Einsichten und gut konsumierbaren Wahrheiten sucht, wird sicher nicht auf seine Kosten kommen. Auch philosophisches Vorwissen erweist sich nicht unbedingt als Schlüssel zum Lektüreerfolg. Um Weilands Buch mit Gewinn zu lesen, braucht es Offenheit, Geduld und einen kleinen Vertrauensvorschuss. Man muss bereit sein, den sicheren Boden unter den Füßen zu verlieren und sich auf eine mentale Achterbahnfahrt einlassen. Wer durchhält, wird erleben, wie Inhalt und Form so gekonnt ineinandergreifen, dass sich die körperlichen Dimensionen des Denkens erschließen. Doch geht es dabei weder um einen ästhetischen noch um einen therapeutischen Selbstzweck. Die Pointe des Buches liegt in der Öffnung zum Gegenüber, das einem nach der Lektüre intim vertraut wie abgrundtief fremd zugleich erscheint:
"Jeder ist nicht nur der Andere des anderen, sondern auch der Andere seiner selbst. Aus nichts als der Fähigkeit des Ichs, sich einem Du zuzuwenden – sich selbst zum Du zu werden – entspringt Philosophie."
René Weiland: "Die Unruhe des Denkens und das Versprechen der Philosophie"
der blaue reiter - Verlag für Philosophie, Hannover. 168 Seiten, 19,90 Euro.