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Rente mit 63
"Arbeitslosenzeiten müssen voll anerkannt werden"

Anderthalb Wochen vor der Bundestagsentscheidung zur Rente ab 63 hat der neue DGB-Vorsitzende die Pläne im Grundsatz begrüßt. Allerdings müssten die Arbeitslosenzeiten abschlagsfrei anerkannt werden, sagte Reiner Hoffmann im Deutschlandfunk.

Reiner Hoffmann im Gespräch mit Dirk Müller |
    Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann beim Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB)
    Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann beim Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) (dpa / Rainer Jensen)
    Von einem "harten Ringen" hinter den Kulissen sprach der frisch gewählte Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Hoffmann, in dem Zusammenhang. Die Arbeitslosenzeiten bei der abschlagsfreien Rente mit 63 Jahren müssten voll anerkannt werden. Dies sei aus den Beiträgen der Sozialversicherung auch finanzierbar.
    Darüber hinaus gebe es weiteren Handlungsbedarf: Deutschland brauche Debatte über den Wert von Arbeit, sagte Hoffmann. So gehörten mehr Menschen unter den Schutz von Tarifverträgen. Schuld an der Misere der Sozialsysteme ist laut dem 58-Jährigen, dass zu viele Menschen geringfügig oder gar nicht beschäftigt sind.
    Medienberichten zufolge wollen Union und SPD mit einem Kompromiss eine befürchtete Frühverrentungswelle verhindern. Demnach sollen die Zeiten der Arbeitslosigkeit nur bis zwei Jahre vor dem Wechsel in den Ruhestand anerkannt werden.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Er ist 59 Jahre alt, kommt aus Wuppertal, ist seit Jahrzehnten in der Gewerkschaft aktiv, seit Anfang dieser Woche neuer Chef an der Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes: Reiner Hoffmann. Bei seinen Inhalten, bei seinen Vorstellungen soll er wenig Abstriche machen und sehr effektiv vorgehen, eben wenn es darum geht, die Rechte der Arbeitnehmer zu sichern oder auch zu forcieren. Reiner Hoffmann ist auch Sozialdemokrat. Aber er soll fast überall beliebt sein, er soll bescheiden und verbindlich sein, ein Mann der leisen Töne, auf Ausgleich bedacht. Nun ist er bei uns am Telefon, DGB-Chef Reiner Hoffmann. Guten Morgen nach Berlin!
    Reiner Hoffmann: Guten Morgen, Herr Müller!
    Müller: Herr Hoffmann, werden Sie uns nie den Sigmar Gabriel machen?
    Hoffmann: Nein, das werde ich natürlich nicht. Warum sollte ich? Da gibt es gar keinen Anlass für.
    Müller: Das heißt, Sie sind so bescheiden und Sie sind so verbindlich?
    Hoffmann: Nein. Man muss wissen, woher man kommt. Unsere Aufgabe ist es in der Tat, die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Menschen in diesem Land zu verbessern, und das ist harte Arbeit. Wir wissen, wir haben einiges jetzt auf den Weg gebracht, was den Mindestlohn betrifft, was die Rente betrifft. Das reicht uns natürlich alles nicht, wir wollen mehr, um die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen in diesem Land wirklich in den Mittelpunkt zu stellen. Wir brauchen eine Debatte über den Wert der Arbeit in diesem Land, weil wir wissen doch, dass auch mit 8,50 Euro die Menschen kein ordentliches Auskommen haben. Wir müssen sicherstellen, dass viel mehr Menschen unter den Schutz von Tarifverträgen kommen. Das ist eine der großen Aufgaben.
    Müller: Wissen Sie schon, was Sie mit 61 machen?
    Hoffmann: Da habe ich überhaupt noch nicht drüber nachgedacht.
    "Arbeit hat doch einen hohen Stellenwert im Leben der Menschen"
    Müller: Sie könnten ja beispielsweise sich arbeitslos melden, zwei Jahre lang, das kriegen Sie angerechnet, und mit 63 dann in Rente gehen.
    Hoffmann: Das würde doch bedeuten, dass die Menschen keinen Spaß an ihrer Arbeit haben. Ich habe großes Interesse, möglichst lange gesund erwerbstätig zu bleiben, und das ist auch die Aufgabe für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land. Arbeit hat doch einen hohen Stellenwert im Leben der Menschen. Arbeit trägt dazu bei, dass die Menschen selbstbestimmt leben können. Von daher kommt es darauf an, beides miteinander zu verzahnen: gute Arbeit, gutes Leben. Das ist die Aufgabe, die wir uns stellen werden.
    Müller: Wenn Sie sagen, Herr Hoffmann, Sie kennen so viele, die Spaß daran haben, dann müssen die ja nicht mit 63 gehen.
    Hoffmann: Warum sollten die Leute mit 63 gehen?
    Müller: Aber das wollen Sie doch.
    Hoffmann: Ich! Nein, das ist nicht das, was wir wollen. Wir wollen, dass die Menschen, die 45 Jahre hart gearbeitet haben, dann auch in den Ruhestand gehen können. Weil natürlich gibt es Arbeitsbedingungen in diesem Land, ich denke nur an die vielen Schichtarbeiter. Wenn Sie über 45 Jahre in Wechselschicht arbeiten, dann ist irgendwann auch mal genug. Es gibt aber auch andere Berufsgruppen, die ein Interesse daran haben, länger arbeiten zu können, und da, glaube ich, brauchen wir ein bisschen mehr Souveränität für die Menschen. Die sollen selber entscheiden können. Aber die, die 45 Jahre wirklich hart gearbeitet haben, die müssen dann auch in den wohl verdienten Ruhestand gehen können.
    Müller: Herr Hoffmann, die aktuelle Auseinandersetzung wird ein bisschen hinter den Kulissen geführt. Sie wissen da viel mehr als wir, als wir lesen können, als wir in Gesprächen erfahren können. Aber deswegen haben wir Sie ja jetzt am Telefon.
    Hoffmann: Aber selbstverständlich!
    Müller: Herr Hoffmann, ist das wahr, dass die Bundesregierung jetzt ernsthaft in Erwägung zieht, gegen die Pläne der Gewerkschaften, gegen Ihre Zielsetzung, dass die Anrechnung beispielsweise von Arbeitslosenjahren dann auf das 61. Lebensjahr begrenzt wird, das Ganze ein bisschen aufgrund dessen weicher wird, nicht mehr so konsequent wird?
    Hoffmann: Da gibt es ja unterschiedliche Interessen und da wird natürlich im Moment hinter den Kulissen hart drum gerungen. Unsere Position ist klar: Arbeitslosenzeiten müssen voll anerkannt werden. Alles andere macht keinen Sinn.
    "Nur 50 Prozent der über 60-Jährigen sind heute noch erwerbstätig"
    Müller: Dann hat aber ja der schwere Arbeiter gar nicht so schwer gearbeitet, wenn er jetzt beispielsweise nur 40 Jahre gearbeitet hat und nicht 45.
    Hoffmann: Das würde ich gar nicht so behaupten. Das kommt wirklich darauf an, wie die Bedingungen in den einzelnen Betrieben, in den einzelnen Berufsgruppen sich darstellen. Man muss das immer differenzieren und da gibt es natürlich auch Leute, die mit 40 Jahren möglicherweise dann nicht mehr arbeitsfähig sind. Schauen Sie sich doch nur die Situation, die Realität in diesem Land an. Nur 50 Prozent der über 60-Jährigen sind heute noch erwerbstätig. Da ist doch nicht die Ursache, dass die Menschen nicht mehr arbeiten wollen. Die Ursache liegt doch darin, dass gerade die Unternehmen in den letzten Jahren zuhauf ältere Arbeitnehmer aussortiert haben, anstatt darin zu investieren, dass sie länger gesund arbeiten können. Das ist doch das Problem.
    Müller: Das Problem ist aber, dass die Rentenkasse das dann finanzieren muss, einerseits die Fehler der Arbeitgeber, wie Sie es sagen, andererseits Ihre Forderungen der Gewerkschaften, nämlich früher in Rente, und die jüngere Generation muss blechen.
    Hoffmann: Wenn wir doch es endlich mal schaffen würden, die Arbeitslosigkeit, die in Deutschland mit drei Millionen für mich nach wie vor viel zu hoch ist, wenn die in eine Erwerbstätigkeit mit Beitragszahlungen, also sozialversicherungspflichtige Beschäftigung kommen würde, dann hätten wir diese Probleme in unserem System der sozialen Sicherung nicht. Man muss das Ding doch mal vom Kopf auf die Füße stellen!
    "Wir sind nicht gegen die Mütterrente"
    Müller: Verstehe ich nicht. Sie meinen die geringfügig Beschäftigten, die Nebenjobs sollen besser bezahlt werden.
    Hoffmann: Zum Beispiel. Wir haben einen Niedriglohnsektor in diesem Land. 25 Prozent der Menschen fallen darunter. Wenn die in ordentliche Beschäftigung mit ordentlichen Tarifverträgen reinkämen, wenn die drei Millionen Arbeitslosen in ordentliche Beschäftigung mit Tarifverträgen sozialversicherungsbeschäftigt reinkämen, dann hätten wir diese Probleme in den Systemen nicht. Und im Übrigen, wissen Sie, wir sind nicht gegen die Mütterrente. Das ist richtig und wichtig. Aber, bitte schön, nicht aus den Beiträgen der Arbeitnehmer zu finanzieren, sondern das muss steuerfinanziert werden. Auch dann haben wir eine wichtige Stellschraube, um die finanzielle Situation der Rentenkasse nicht zusätzlich zu belasten. Das macht keinen Sinn. Also man muss genauer hinschauen insgesamt, ist das finanzierbar, und es wird umso leichter zu finanzieren sein, je mehr Beschäftigte wir in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hineinbekommen.
    Müller: Herr Hoffmann, das haben wir ja nicht. Einerseits haben wir die drei Millionen Arbeitslose und wir haben auf der anderen Seite auch die konkreten Pläne der Bundesregierung, das alles über die Beiträge zu finanzieren. Sind die Rentenpläne, die Sie vorschlagen, in der jetzigen Situation so finanzierbar?
    Hoffmann: Sie sind finanzierbar, und ...
    Müller: Durch Beiträge!
    Hoffmann: Ich kann mich doch nicht damit abfinden, dass ich einfach ignoriere, wir haben so viele Menschen im Niedriglohnsektor. Da müssen wir doch ansetzen. Im Grundsatz sage ich, das was die Regierung jetzt vorgeschlagen hat, was Frau Nahles vorgeschlagen hat, ist finanzierbar, ist durchgerechnet, und deshalb bin ich da relativ entspannt.
    Müller: Dann habe ich Sie doch falsch verstanden. Das heißt, Sie finden das mit den Beiträgen, dass darüber finanziert wird, in Ordnung?
    Hoffmann: Aber selbstverständlich! Wenn die Menschen erwerbstätig sind zu anständigen Bedingungen, dann ist das finanzierbar.
    Müller: Aber Sie haben eben gesagt, das soll über Steuern finanziert werden.
    Hoffmann: Die Mütterrente soll über Steuern finanziert werden.
    "Die Mütterrente soll nicht beitragsfinanziert werden"
    Müller: Die Mütterrente ist ja ein Teil der Rente, ist ein Teil des Rentenpaketes, kostet viele, viele, viele Milliarden.
    Hoffmann: Deshalb sagen wir, die Mütterrente soll eben nicht beitragsfinanziert werden. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, dass Frauen dann auch wirklich eine bessere Rente zuteil wird, wenn sie sich beispielsweise um die Erziehung der Kinder gekümmert haben. Hier müssen wir im Übrigen auch heran, auch das ist eine wichtige Stellschraube, dass Frauen endlich aus der Teilzeitfalle rauskommen, dass Frauen genauso bezahlt werden wie Männer. Wir haben immer noch eine Differenz bei der Entlohnung zwischen Männern und Frauen von bis zu 20 Prozent. Es gibt jede Menge Arbeit, um auch einen Beitrag dafür zu leisten, dass die Systeme der sozialen Sicherung ordentlich finanziert sind. Da sehe ich viel Handlungsbedarf. Aber das, was jetzt auf den Weg gebracht wird, wird von den Gewerkschaften unterstützt.
    Müller: Sie sagen, Steuergerechtigkeit. Das haben Sie gestern in Berlin gefordert mit Blick auf die Politik der Großen Koalition. Kalte Progression, das heißt, Sie wollen auch etwas für die Mittelschicht tun.
    Hoffmann: Es macht doch keinen Sinn, dass wir Tarifpolitik für den Finanzminister machen, dass am Ende des Tages, wenn wir Tarifsteigerungen von drei, 3,5 oder vier Prozent realisieren, am Ende bei den Beschäftigten weniger ankommt. Das macht keinen Sinn. Es macht auch keinen Sinn, dass Arbeitnehmer am Ende des Monats bis zu 42 Prozent Steuern zahlen, und die Einkünfte aus Kapitaleinkommen lediglich mit 25 Prozent belastet werden. Wenn wir hier eine Korrektur bekommen, dann kann man, glaube ich, auch andere Projekte in Angriff nehmen. Wir wissen, wir haben eine Unterfinanzierung des Staates. Es gibt riesige Bedarfe für öffentliche Investitionen. Ich erinnere nur an die Verkehrsinfrastruktur, oder schauen Sie sich den Zustand unserer Schulen an. Hier plädieren wir für mehr Steuergerechtigkeit, um a) die Unterfinanzierung des Staates endlich anzugehen. Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat, der muss ordentlich finanziert werden, und wir müssen die unteren und mittleren Einkommen in der Tat entlasten. Das ist kein Widerspruch.
    Müller: Ausgerechnet die SPD, von Sigmar Gabriel, dem Chef, vielleicht einmal abgesehen, ist man ja gegen eine Veränderung der Kalten Progression oder Abschaffung.
    Hoffmann: Ich hatte gestern Abend Gelegenheit, auf dem Fraktionsabend der SPD mit vielen Abgeordneten, mit vielen SPD-Politikern zu sprechen. Ich sehe da keinen Widerspruch. Diese Position wird nicht nur von Sigmar Gabriel getragen, sondern von vielen anderen Sozialdemokraten auch.
    Müller: Haben wir von vielen Sozialdemokraten hier im Deutschlandfunk eins zu eins gehört. Entweder gibt es eine höhere Steuer für Vermögende, für die Reichen, ansonsten keine Abschaffung der Kalten Progression. Das heißt, die Mittelschicht zahlt dafür, dass die Reicheren keine höheren Steuern bezahlen.
    Hoffmann: Deshalb sage ich ja, brauchen wir mehr Gerechtigkeit in unserem Steuersystem.
    Müller: Ist das angekommen bei Sigmar Gabriel?
    Hoffmann: Selbstverständlich ist das angekommen.
    Müller: Bei Andrea Nahles auch?
    Hoffmann: Bei Andrea Nahles auch.
    "Wir haben eine Große Koalition, da ist noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten"
    Müller: Sie setzen auf die Sozialdemokraten?
    Hoffmann: Nicht nur auf die Sozialdemokraten. Wir haben eine Große Koalition, da ist noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten, auch in den Reihen der CDU. Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass diese Große Koalition in der Lage ist, hier in den nächsten Monaten auch zu einer ordentlichen Lösung zu kommen, weil alles das, was nicht im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist, da gibt es Handlungsspielraum, und ich gehe davon aus, dass auch die CDU sich auf den Weg machen wird, genauer hinzusehen, und auch die CDU ein Interesse daran haben muss, mehr soziale Gerechtigkeit in unserem Steuersystem zu verankern.
    Müller: Danke nach Berlin, danke an DGB-Chef Reiner Hoffmann. Ihnen noch einen schönen Tag.
    Hoffmann: Ich danke Ihnen, Herr Müller. Bis zum nächsten Mal!
    Müller: Tschüss!
    Hoffmann: Tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.