Friedbert Meurer: Die Große Koalition verteilt in der Rentenpolitik Wohltaten. Das war, so in etwa der Duktus vieler Kommentare, nachdem sich Union und SPD recht schnell auf die sogenannte Mütterrente und die Rente mit 63 geeinigt hatten – die abschlagsfreie Rente. Die Mütterrente sei aber eine Frage der Gerechtigkeit. Ältere Mütter sollen nicht benachteiligt werden. Und die Rente mit 63 soll ein Angebot sein für diejenigen Arbeitnehmer, die auf 45 Berufsjahre zurückblicken.
Aber beides kostet Geld, ziemlich viel Geld, Milliarden Euro. Die Rentenbeiträge werden deswegen nicht gesenkt, wie geplant, und es soll auch mit Steuergeldern nachgeholfen werden. Das fordert Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles und das hat einiges an Diskussionen ausgelöst über das Wochenende.
Franz Müntefering war SPD-Bundesvorsitzender und Bundesarbeitsminister, und in dieser Zeit hat er maßgeblich die Rente mit 67 mitbetrieben. Ich begrüße ihn jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Müntefering.
Franz Müntefering: Guten Morgen, Herr Meurer.
Meurer: Wie viel Verständnis bringen Sie dafür auf, dass viele jetzt doch schon abschlagsfrei mit 63, vier Jahre früher, in Rente gehen sollen?
Müntefering: In dem Rentenkonzept dieser neuen Koalition von CDU/CSU und SPD ist eine Menge guter Vorschläge drin. Darauf kommen wir gleich auch sicher noch. Aber ich glaube, dass der Vorschlag 63 sowie auch diese Idee und die Formulierung der Lebensleistungsrenten Schwachpunkte sind, über die man in der Gesetzgebung jetzt vernünftigerweise noch mal nachdenken sollte.
Müntefering befürchtet Tendenz zur Einheitsrente
Meurer: Was halten Sie daran für einen Schwachpunkt?
Müntefering: Bei der Lebensleistungsrente wird deutlich: Das ist eine Abkehr vom Äquivalenzprinzip. Rente ist ein System, in dem Menschen sich gegenseitig versichern, und wer viel einzahlt, kriegt auch viel raus. Wenn man das Ganze umkehrt und es nicht mehr abhängig macht von der Einzahlung, von der Höhe und von der Dauer, sondern wenn man Tatbestände des Lebens, des sonstigen Lebens einbezieht, dann wird das eine gewisse Beliebigkeit. Das kriegt alles eine Tendenz hin auf die Rutsche zur Einheitsrente, und das wäre fatal, und deshalb bin ich sehr ausdrücklich dafür, dass wir bei der Rente beim Äquivalenzprinzip bleiben, und dass wir …
Meurer: An welcher Stelle sehen Sie das Prinzip verletzt? Bei der Mütterrente?
Müntefering: Zum Beispiel, je nachdem wie man es finanziert. Das ist klar. Man kann natürlich sagen, so wie zum Beispiel bei der Elternzeit, die wir den jungen Menschen geben, oder beim Wohngeld, es gibt bestimmte soziale Tatbestände, da muss der Staat helfen. Aber das ist dann die Steuerkasse, die dran ist, und das kann man und darf man nicht alles der Rentenversicherung aufladen. Die Rentenversicherung ist nicht dafür da, Probleme des Arbeitsmarktes oder der sozialen Gesellschaft insgesamt zu finanzieren.
Meurer: Das wäre für Sie dann ein anderes Ding, wenn die Mütterrente mit Steuermilliarden finanziert wird?
Müntefering: Ja.
Meurer: Gilt das auch für die Rente mit 63?
Müntefering: Ja, das ist ein besonderes Problem, denn zunächst mal – da wird ja jetzt immer drüber gesprochen – hat diese Koalition ja beschlossen, wenigstens, wenn man den Koalitionsvertrag liest, es bleibt bei der Gesetzgebung der rot-grünen Zeit in Rente und auch bei der Großen Koalition eins. Das heißt, 2029 wird es die Rente mit 67 geben. Jährlich wachsen wir ein Stück weit darauf hin. Das ist gut so.
Und es gibt ja schon jetzt den Anspruch auf abschlagsfreie Rente für die, die 45 Beitragsjahre haben und 65 Jahre alt sind. Das ist alles so akzeptiert offensichtlich, wie das auch beschlossen worden ist in vergangener Zeit. Und nun versucht man, mit den 63 eine neue Regel davorzubauen, nämlich für die, die etwa zwischen 1951 und 1967/68 geboren sind, und die bekommen jetzt sozusagen einen Bonus. Die können jetzt früher raus.
Meurer: Die Argumentation, Herr Müntefering, wer 45 Jahre lang hart gearbeitet hat, der kann abschlagsfrei mit 63 gehen, überzeugt Sie nicht?
Rentenvorteil für Babyboomer kommt auf "Sollkonto der Nachkommenden"
Müntefering: Na ja, das kann man so sehen. Dann ist nur die Frage, wieso haben das die davor nicht bekommen und wieso bekommen das die danach nicht mehr. Denn ich sage noch mal: Das ist nur ein einziger Jahrgang, der volle zwei Jahre Vorteile hat. Dann verschiebt sich dieser Vorteil jedes Jahr parallel zur Anhebung des Renteneintrittsalters. Das heißt, in zehn Jahren können die mit 64 dann reingehen und dann 2029 sind alle bei 2029.
Die große Gruppe der Babyboomer, die zwischen 1951 und 1968 etwa geboren sind – es kommt immer noch darauf an, wie man es genau einfädelt -, die hat einen Vorteil, und das kommt alles auf das Sollkonto der Nachkommenden. Die müssen das schließlich alles bezahlen und das ist ein Vorteil, den jetzt eine Gruppe bekommt, der überhaupt eigentlich nicht einzusehen ist, zumal die, die es eigentlich brauchten, nämlich die Frauen und die, die niedrige Löhne hatten, davon relativ wenig haben. Hier wird verteilt und es wird gleichzeitig unterlassen, denen zu helfen, die besondere Hilfe brauchen. Insofern ist das ein sehr zweifelhaftes Vorhaben.
Meurer: Die Überlegung der SPD ist ja wohl, man will sich mehr sozialgerechter präsentieren. Herr Müntefering, Sie sind ein bisschen so der Buhmann in Ihrer Partei, weil Sie als Erfinder, als Miterfinder der Rente mit 67 gelten. Ärgert Sie das?
Müntefering: Nein. Ich hoffe nur, dass alle da richtig denken und dass sie das ganze Rentensystem, was ja sehr wichtig ist für das Vertrauen der Menschen in die Zukunftsfähigkeit des Landes, im Blick behalten. Man muss sehen: Wir sind nicht mehr zehn Prozent über 65, sondern bald 30 Prozent. Wir zahlen nicht mehr zehn Jahre Rente, sondern 19 Jahre, bald 22 Jahre. Wir gehen nicht mit 16 in den Beruf, wie unsereins noch mit 14, sondern mit 21. Die junge Generation bekommt das alles hin und das, was wir beschlossen haben in rot-grüner Zeit und auch in der Großen Koalition, das war ja nicht böser Wille, sondern wir wollen, dass es eine Gerechtigkeit zwischen den Generationen gibt.
Daran muss man auf jeden Fall festhalten. Was jetzt mit dieser 63er-Regelung gemacht wird, ist halt eine Vorteilsgebung für eine kleine Gruppe, und auch die noch sehr unterschiedlich, und zwar unabhängig davon, ob sie noch können oder nicht, denn das ist ja ein Moment, was noch da reinkommt.
Fachkräfte werden aus aus dem Beruf in die Rente gedrängt
Meurer: Die kleine Gruppe kann ja sogar ziemlich groß sein. Es heißt ja, jeder zweite Mann kann mit 63 gehen.
Müntefering: Ja, aber auch nur zehn Prozent der Frauen. Das Wichtigste ist vor allen Dingen aber doch auch: Wir brauchen dringend Fachkräfte und mit dieser 63er-Lösung werden doch genau in dieser Generation die geradezu rausgedrängt aus dem Beruf in die Rente hinein. Das ist eine besonders seltsame Konsequenz dieses Vorschlags.
Meurer: Also, Herr Müntefering, es bleibt dabei: Sie halten an den Grundrechenarten der Volksschule Sauerland fest?
Müntefering: Ja, weil die richtig sind. Da kann man nicht dran vorbeikommen. Ich gebe ja zu, dass man darüber streiten kann, über solche Sachen, aber ich nehme für mich in Anspruch, dass das ein sozialer Ansatz ist und dass das, was jetzt im Koalitionspapier steht, überwiegend gut ist. Aber die Erwerbsminderungsrente zum Beispiel, diese Dinge, oder die demografische Entwicklung überhaupt, die berücksichtigt wird, das sind alles akzeptable gute Sachen.
Ein Wort will ich noch sagen, weil das ganz wichtig ist. Nur wenn wir eine gute Pflegereform bekommen, wird die Alterssicherung die nötige Stabilität bekommen. Keine Rente kann das ausgleichen, was an Sorgen in Bezug auf die Pflegekosten bei dem einen oder anderen da ist. Deshalb ist das Ganze ein großer Komplex, der nebeneinandersteht. Nur die Rente darf nicht mit allem belastet werden, was an sonstigen Problemen in der Gesellschaft im sozialen Bereich auch noch da ist.
Meurer: Franz Müntefering, der frühere Bundesarbeitsminister, hier im Deutschlandfunk zur aktuellen Rentendebatte und zu den Rentenplänen und Absichten der Großen Koalition. Danke, Herr Müntefering. Auf Wiederhören!
Müntefering: Ja bitte schön. Tschüss!
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