Mit der Mütterrente schöpfe Deutschland "Spielräume aus für die nächsten Jahre und Jahrzehnte, die wir eigentlich nicht haben", so Linnemann. Für die Sozialversicherungssysteme sei das nicht gut. Dauerhaft müsse die Mütterrente über die Steuereinnahmen finanziert werden. Kurzfristig sei diese Frage aber zunächst abgeschlossen.
Das Rentenpaket besteht aus verbesserter Mütterrente, abschlagsfreier Rente ab 63 sowie Verbesserungen bei Erwerbsminderungsrente und Reha-Leistungen. Es kostet pro Jahr zwischen neun und elf Milliarden Euro und wird aus der Rentenkasse bezahlt.
In dem Gespräch erneuerte Linnemann seine Kritik an der abschlagsfreien Rente ab 63 nach 45 Beitragsjahren. Für den CDU-Politiker ist die jetzt getroffene Regelung ein "falsches Signal". Deutschland müsse sich mit den Folgen der demografischen Entwicklung auseinandersetzen. Diese schlage ab dem nächsten Jahr "voll durch", wenn 300.000 Menschen mehr in Rente gingen, als auf den Arbeitsmarkt kommen. Die Menschen, die hart gearbeitet haben, müssen laut Linnemann auf der einen Seite abgesichert werden. Auf der anderen müssten "wir dahin kommen, dass wir länger und flexibler arbeiten können."
Das Interview in voller Länge:
Jürgen Liminski: Bei der Rente geht es wie bei vielen Fragen der Sozialpolitik um Gerechtigkeit. Das wird besonders deutlich beim Thema Mütterrente, das Bundesverfassungsgericht spricht hier von dem generativen Beitrag, den Eltern, also auch Väter, für die Gesellschaft leisten und weshalb es durchaus legitim ist, dass ihre Rente aus dem Steuertopf bezahlt wird, wie das übrigens schon bei den Erziehungszeiten der Fall ist. Diese Finanzierung, erst recht die Finanzierung der abschlagsfreien Rente mit 63, wird nun wieder diskutiert und nächste Woche im Bundestag entschieden.
Wir wollen jetzt in die Diskussion einsteigen mit dem Vorsitzenden der Mittelstandsvereinigung in der CDU, mit Paderborner Abgeordneten Carsten Linnemann. Guten Morgen, Herr Linnemann!
Carsten Linnemann: Guten Morgen, Herr Liminski!
Liminski: Herr Linnemann, in einem alten rheinischen Karnevalslied, wofür Sie als Westfale vielleicht weniger Sinn haben, heißt es: Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld, wer hat so viel Pinke-pinke, wer hat das bestellt?, also die Frage nach dem Urheber und der Finanzierung der neuen Rentenleistungen, andere würden sagen Rentengeschenke. Fangen wir bei der Mütterrente an, 6,5 Milliarden pro Jahr - woher soll's kommen?
Linnemann: Also zunächst, wir können natürlich auch Karneval feiern in Westfalen, aber im Ernst, es stimmt, wir schöpfen jetzt Spielräume aus für die nächsten Jahre, ja, wahrscheinlich Jahrzehnte, die wir eigentlich nicht haben. Und deshalb muss man jetzt schauen, dass es nicht zu teuer wird und dass man langfristig schaut. Ich freue mich, dass wir Herrn Schäuble als Finanzminister haben, der zumindest dafür sorgt, dass wir keine neuen Schulden machen. Also für die Sozialversicherungssysteme ist das nicht gut langfristig, und der Haushalt ist konsolidiert, nächstes Jahr neue Schulden, deswegen gibt es gute und schlechte Nachrichten meiner Meinung nach.
"Hätte ich mir gewünscht, wir hätten das über Steuern finanziert"
Liminski: Die Rentenkasse ist damit sicher überfordert, kann man es aus Steuermitteln bestreiten?
Linnemann: Ja, in der Rentenkasse ist ja im Moment Geld drin, eigentlich als Rücklage. Das ist Geld der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, und das Geld nimmt man jetzt in den nächsten vier Jahren, um diese Projekte zu finanzieren. Das ist natürlich falsch, auch die Logik ist falsch, die dahintersteckt. Wenn man solche Dinge umsetzen will, mit Ausnahme der Erwerbsminderungsrente und des Reha-Deckels, dann muss man natürlich gerade auch beim Thema Mütterrente das über Steuern finanzieren. Und wenn man dann einen Finanzminister hat, der sagt, ich möchte keine Steuern erhöhen und auch keine neuen Schulden machen, dann haben wir natürlich richtig Druck auf dem Kessel, dass man dann an anderer Stelle nicht mehr ausgeben kann, weil man ja keine neuen Schulden mehr machen darf. Das wäre der Effekt gewesen, deswegen hätte ich mir gewünscht, wir hätten das über Steuern finanziert. Das ist nicht so gekommen, und jetzt müssen wir in den nächsten Jahren dafür werben, dass wir immer mehr Steuerfinanzierung bekommen.
Liminski: Aber es kann ja noch so kommen, und dann finden wir vielleicht doch auch hin zur Sockelrente, so wie Ihr Parteifreund Kurt Biedenkopf - ursprünglich ja auch aus Westfalen - das schon vor Jahren mal prognostiziert hat.
Linnemann: Also ich bin kein Freund davon, das Rentensystem schlechtzureden. Es funktioniert insofern noch, dass derjenige, der mehr einzahlt, am Ende des Tages auch mehr hat als derjenige, der weniger einzahlt. Aber es stimmt, in Zukunft werden mehr Menschen in der Grundsicherung leben müssen, weil die Rente nicht mehr ausreicht. Und da müssen wir uns jetzt die Frage stellen und jetzt die Frage beantworten und nicht erst 20, 30 Jahre warten, was machen wir. Da können wir, nur um ein Beispiel zu nennen, nicht den Menschen sagen, ihr müsst euch privat vorsorgen, aber dann, wenn ihr später in der Grundsicherung seid, nehmen wir euch das Geld wieder weg. Dann sagen die Menschen: Warum soll ich das tun? Deswegen beispielsweise müsste man das Geld dann nicht anrechnen, sondern das gehört dann denjenigen, die die Beiträge gezahlt haben für die private Vorsorge. Das sind alles Punkte, das ist eine Debatte, die wir jetzt führen müssen und nicht erst in 20 oder 30 Jahren.
"Ein falsches Signal"
Liminski: Aber die Debatte führen wir ja mit dem Stichwort Rente 63 eigentlich schon. Da geht's ja auch um Frühverrentung, also auch sozusagen um Beiträge, die nicht gezahlt worden sind.
Linnemann: Ja, die Rente mit 63 ist hoch komplex das Thema. Es gibt mehrere große Probleme. Ich bekomme viele Mails von Menschen, die sagen, ich bin in den letzten Jahren mit Abschlägen in Rente gegangen, und meine Lebensleistung ist jetzt weniger wert als die Lebensleistung derer, die jetzt in Rente gehen, weil die das abschlagsfrei machen. Das heißt, ich schaffe neue, größere Ungerechtigkeiten auf der einen Seite, und auf der anderen Seite setze ich ein falsches Signal. Ich habe vor wenigen Tagen noch mit einer Firma aus dem Schwarzwald gesprochen, die im Metallbereich unterwegs ist, 3.500 Mitarbeiter hat, 80 Prozent Exportquote und 80 Prozent Produktion in Deutschland, und die verlieren jetzt 70 Mitarbeiter zum 1. Juli, wenn die denn in Kraft tritt, und in den nächsten zehn Jahren 25 Prozent der Beschäftigten. Und die stellen natürlich übrigens die Frage: Mensch, Herr Lindemann, wenn Sie schon so was machen, dann müssen Sie uns auch die Chance geben, wenigstens mit unseren Rentnern weiterzuarbeiten, wenn sie denn wollen. Und dafür werbe ich jetzt in diesem Paket.
Liminski: Wie soll das funktionieren, dass die Rentner weiterarbeiten dürfen, ohne dass es sozusagen allzu viel kostet?
Linnemann: Es kostet eigentlich gar nichts. Also im Moment ist es so: Wenn ein Rentner zu seinem Arbeitgeber geht und sagt, ich möchte gerne weiterarbeiten, nicht mehr 40 Stunden, sondern 20 Stunden, dann ist es verboten in Deutschland, mit diesem Arbeitnehmer einen Vertrag zu machen über zwei oder drei Jahre, also befristet. Das ist verboten. Man muss ihm einen unbefristeten Vertrag geben, und da sagen die Juristen natürlich in den Firmen, das machen wir nicht, das ist viel zu gefährlich, dann landen wir irgendwann mal vor Gericht. Deswegen brauchen wir befristete Verträge im Rentenalter. Das wäre meiner Meinung nach ein ganz wichtiges Signal, dass wir jetzt in diesem Paket nicht nur über die Rente mit 63 reden, sondern auch denjenigen es ermöglichen, länger zu arbeiten, wenn er es denn will.
Liminski: Noch einmal zurück zur Rente 63, sozusagen mit dem Gerechtigkeitsaspekt: Wie steht's um die Stichtagsregelung, muss da nicht auch der Gerechtigkeitsaspekt zum Tragen kommen?
Linnemann: Bei der Stichtagsregel, da haben wir ja zwei Sachen im Blick gehabt: Einmal, wenn wir jetzt eine feste Stichtagsregel hätten zum 1. Juli diesen Jahres, dass nur noch Arbeitslosenzeiten rückwirkend gelten, die angerechnet werden bei der abschlagsfreien Rente mit 63, dann hat das natürlich zur Folge, dass in Zukunft keine Arbeitslosenzeiten mehr gelten und dass wir zu unserem Ziel kommen, was wir ja eigentlich immer wollten, dass diejenigen belohnt werden, die auch wirklich gearbeitet haben. Und der zweite Effekt ist der, dass wir die Vorfrühverrentung ausschließen, dass jemand mit 61, der jetzt in die Arbeitslosigkeit 1 geht oder geschickt wird vom Unternehmen - das gehört zur Ehrlichkeit auch dazu, auch diese Variante gibt es natürlich -, um dann mit 63 abschlagsfrei in Rente gehen zu können. Und das wollen wir verhindern, und diese Stichtagsregelung, diese starre Stichtagsregelung würde das verhindern, und damit hätten wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
"Wir brauchen jeden"
Liminski: Zur abschlagsfreien Rente mit 63, ist das nicht auch das falsche Signal in Zeiten des demografischen Niedergangs in der Finanzkrise?
Linnemann: Ja, wir müssen uns grundsätzlich die Frage stellen in Deutschland, wenn wir in Zukunft noch wachsen wollen - wir haben keine Erfahrung mit Schrumpfung, und die möchte ich auch nicht haben, ich bin in der Politik, um auch in Zukunft Wachstum zu generieren -, wenn wir die Frage beantworten, dann müssen wir uns mit der Demografie auseinandersetzen, und dann müssen wir einfach feststellen, dass ab diesem Jahr oder ab dem nächsten Jahr die Demografie voll durchschlägt. Wir haben jetzt 10, 20, 30 Jahre darüber redet, die jetzt passiert ist, ab dem nächsten Jahr gehen 300.000 Menschen mehr in Rente als unten im Arbeitsmarkt reinkommen. Und deswegen ist das Signal natürlich fatal, weil wir erst auf die Rente mit 67 gegangen sind. Wir müssen länger arbeiten, flexibler werden, und diejenigen, die wirklich nicht mehr können, die Erwerbsminderungsrente beziehen, die erst gar nicht auf 63 kommen, 65 oder 67, weil sie, ja, hart gearbeitet haben - Dachdecker, Bauarbeiter, das sind ja alles die Beispiele, die angeführt werden -, für die Menschen müssten wir eigentlich mehr tun, weil die würden gerne länger arbeiten, können aber nicht, weil sie körperlich nicht mehr in der Lage sind. Und da müssen wir hinkommen, dass wir länger arbeiten, flexibler arbeiten und die, die nicht mehr können, dass die abgesichert werden vernünftig.
Liminski: Deutschland hat in der Eurozone die höchste Zahl an älteren Erwerbstätigen, das sind 62 Prozent im Alter zwischen 55 und 64, nur in Schweden gibt es mehr. Können wir uns da nicht doch eine Senkung des Rentenalters leisten, oder bleibt es beim falschen Signal?
Linnemann: Es bleibt beim falschen Signal, weil der Arbeitsmarkt ist ja kein Nullsummenspiel. Wir haben so viele Arbeitsplätze wie noch nie, der demografische Wandel schlägt voll zu, das heißt, wir brauchen jeden, und deswegen brauchen wir auch dieses Signal, übrigens auch im europäischen Vergleich. Wir können nicht, wenn wir über Rettungsschirme reden und verhandeln, anderen die Forderung abverlangen, dass wir sagen, komm, wir müssen länger arbeiten, und selbst gehen wir nicht mit gutem Beispiel voran.
Liminski: Die Mütterrente ist eine Frage der Gerechtigkeit, haben wir eingangs festgestellt, aber für wen wird es hier gerecht? Für die Mütter sicher, für die junge Generation aber schon nicht mehr.
Linnemann: Ich glaube, es gibt in der Gesellschaft einen breiten Konsens, dass man sagt, dass die Erziehungsleistung genauso wertvoll ist wie Erwerbsarbeit. Und wenn es diesen Konsens gibt, dass man sagt, die Erziehung ist faktisch ein Beruf, dann muss ich das auch bei der Rente so anrechnen. Diesen Konsens gibt es, das ist natürlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und wenn man das macht, muss man das über Steuern finanzieren. Und wenn man sich dann nicht neu verschuldet, sondern an anderer Stelle spart, dann belastet man nicht die nächsten Generationen, sondern macht das vernünftig.
Liminski: Halten Sie denn die Frage der steuerfinanzierten Mütterrente noch für offen oder ist das völlig abgeschlossen?
Linnemann: Ich glaube, kurzfristig ist es abgeschlossen, aber in den nächsten Jahren - darüber reden wir ja jetzt auch - müssen wir darüber reden, dass wir mehr und mehr Steuermittel in die Hand nehmen.
Liminski: Letzte Frage: Hat die Große Koalition Angst vor ihren alten Wählern? 40 Prozent der Wähler sind 60 plus.
Linnemann: Nein, das kann man nicht so sagen. Wie ich eben gesagt habe, haben wir jetzt auch unter den älteren Wählern neue Ungerechtigkeit. Also ich bekomme wahnsinnig viele E-Mails, wie gesagt von Rentnern, die im letzten Jahr in Rente gegangen sind mit 63, zum Teil nach 50, nach 49, nach 48 Arbeitsjahren, ohne arbeitslos gewesen zu sein, und die fühlen sich ja jetzt faktisch betrogen, weil die jetzt anders benachteiligt sind im Vergleich zu denjenigen, die jetzt in Rente gehen. Und deshalb glaube ich, schafft man auch unter den Älteren wieder neue Ungerechtigkeiten, und das zeigt, dass das Rentensystem ein Leistungssystem ist, dass derjenige, der mehr arbeitet, auch mehr haben muss, das ist ja auch bei demjenigen, der 45 Jahre arbeitet, aber man darf da nicht reingreifen, sondern man muss es so laufen lassen, und das ist, glaube ich, der Fehler, den wir gemacht haben.
Liminski: Vor der Abstimmung des Rentenpakets nächste Woche im Bundestag war das hier im Deutschlandfunk der CDU-Politiker Carsten Linnemann, Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung. Besten Dank für das Gespräch, Herr Linnemann!
Linnemann: Danke, Herr Liminski!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.