Nahles verteidigte ihre umstrittene Aussage vor dem DGB-Bundeskongress am vergangenen Dienstag. Dabei hatte sie denen, die vor einer neuen Welle von Frühverrentungen warnten, "hysterisches Gejaule" vorgeworfen. Nahles sagte im Deutschlandfunk, so habe sie die Debatte über ihre geplanten Änderungen an der Rente empfunden. Das sei seit der Einigung der Koalitionsspitze aber Schnee von gestern.
Nach Angaben der Bundesarbeitsministerin profitieren über zehn Millionen Menschen von den Änderungen. "Dass das was kostet, ist klar." Sie wies jedoch darauf hin, dass in Deutschland im Jahr insgesamt 255 Milliarden Euro für die Rente ausgegeben werden, davon 81 Milliarden Euro aus Steuern. Für die Rente mit 63 würden nur 0,6 Prozent des Gesamtvolumens aufgewendet. Nahles sagte, in Deutschland gebe es zwar insgesamt ein teures Rentensystem, es sei aber gut im Vergleich zu anderen Ländern.
Nahles will Gerechtigkeitslücken schließen
"Wir haben unser Rentensystem in den letzten 15 Jahren zukunftssicher gemacht, aber es sind dabei eben auch Gerechtigkeitslücken entstanden oder Gerechtigkeitslücken, die es gab, nicht geschlossen worden. Da packen wir an." Dazu dienen laut Nahles die jetzt vereinbarten Änderungen.
Ihr Finanzierungskonzept bezeichnete Nahles als solide. Die Bundesregierung weise Zahlen bis 2030 aus. Wenn dieses Jahr noch der Mindestlohn komme und das neue Tarifpaket, würden auch Löhne und Tarifstruktur stabilisiert, das nutze auch der Rente.
Nahles rechnet mit ganz breiter Unterstützung im Bundestag am Freitag, wenn das Rentenpaket beschlossen werden soll. Vor allem aus der Fraktion von CDU/CSU hatte es in den vergangenen Monaten Kritik gegeben.
Das Interview mit Andrea Nahles in voller Länge:
Bettina Klein: Am Telefon begrüße ich jetzt die Bundesarbeits- und -sozialministerin Andrea Nahles von der SPD. Guten Morgen, Frau Nahles.
Andrea Nahles: Guten Morgen, Frau Klein.
Klein: Frau Nahles, Sie haben vor wenigen Wochen für Aufmerksamkeit gesorgt, indem Sie den Kritikern des Rentenpaketes hysterisches Gejaule vorgeworfen haben. Wir hören, die Kritik ist nicht verstummt. Würden Sie diese Wortwahl heute wieder so treffen?
Nahles: Nun ja, ich denke, da stehe ich zu. Ich habe über Monate jetzt erlebt, dass wegen durchaus angekündigten, im Wahlkampf auch von uns vorgetragenen Positionen, die auch eine breite Mehrheit in der Bevölkerung haben, in Deutschland doch eine monatelange, wie ich finde, teilweise hysterische Debatte stattgefunden hat. Aber das ist jetzt Schnee von gestern, sage ich auch mal. Das Paket ist durch. Wir werden es, denke ich, mit großer Mehrheit am Freitag beschließen, sodass wir auch Wort halten können und unsere Wahlversprechen, aber auch das, was wir als Koalitionspartner verabredet haben, umsetzen können.
Klein: Aber die Kritik der Fachleute bleibt ja bestehen, auch in der Substanz bestehen: Das alles geht zulasten der Rentenkassen, in wenigen Jahren wird es möglicherweise Beitragserhöhungen geben müssen und das Ganze kostet Milliarden. Diese Kritik können Sie doch nicht dadurch entkräften, dass Sie das als Gejaule bezeichnen.
Nahles: Also, Frau Klein, es profitieren davon über zehn Millionen Menschen. Dass das was kostet, das ist klar. Aber dass wir insgesamt im Jahr 255 Milliarden Euro für die Rente ausgeben, dass davon 81 Milliarden aus Steuern finanziert werden, und dass wir dann insgesamt für die Rente mit 63 abschlagsfrei 0,6 Prozent des gesamten Volumens aufwenden müssen, das sind eben auch Fakten. Man kann nicht einfach Zahlen rausgreifen aus dem Kontext und so tun, als ob das für sich steht, sondern wir haben natürlich eine insgesamt teure Rente, aber die ist auch gut im Verhältnis zu anderen Ländern.
"Wir haben das solide finanziert"
Klein: Aber es ist doch unbestritten, dass die Kosten natürlich nicht jetzt auf die Beitragszahler, auf die Bürger zukommen werden, sondern erst in der Zukunft. Das heißt, das ist eine Art ungedeckter Scheck, den Sie ausstellen.
Nahles: Das ist nicht richtig. Wir haben das solide finanziert. Wir haben tatsächlich auch für die Mütterrente, wenn auch nicht im vollen Umfang, aber dennoch zusätzliche Steuermittel im Umfang von zwei Milliarden miteinander verabredet. Und sollte es in der Zukunft notwendig sein, denke ich, dann werden auch weitere Diskussionen kommen über zusätzliche Steuern. Aber wir haben erst mal jetzt auch schon eine Teilfinanzierung über Steuern bei der Mütterrente, und insgesamt ist das solide finanziert. Wir müssen auch nicht, anders als das eben im Vorbericht dargestellt wurde, die Beiträge wegen dieses Paketes erhöhen.
Klein: Jetzt noch nicht, aber möglicherweise in der Zukunft. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Martin Wansleben, sagt heute Morgen nochmals, das gesamte Paket führt mittelfristig zu steigenden Beitragssätzen und einem sinkenden Rentenniveau. Können Sie das ausschließen?
Nahles: Wir haben in jedem Falle die niedrigsten Beiträge seit Mitte der 90er-Jahre. Wir werden die Beiträge stabil halten, und zwar haben wir das ausgewiesen in unserem Gesetz bis zum Jahre 2030 in dem, was wir auch an Planung hatten. Da wollen wir die 22 Prozent Beiträge nicht überschreiten. Das halten wir auch mit diesem Paket. Dass es aber was kostet, das ist klar, das haben wir auch nie bestritten. Es profitieren aber auch zehn Millionen Mütter und Väter, die Kinder erzogen haben, und diejenigen, die langzeitbeschäftigt waren, haben auch jahrzehntelang Beiträge entrichtet. Die, die von der Rente 63 profitieren, haben ja über viele Jahrzehnte Beiträge bezahlt, und da halten wir es für gerechtfertigt, dass wir das machen. Ich habe nun über Monate diese Kritik gehört. Es ist natürlich keinesfalls so, dass wir uns damit nicht auseinandergesetzt haben, auch ich persönlich. Aber insgesamt haben wir...
Klein: Aber sie hat ja keinen Einfluss offensichtlich!
Nahles: Nein! Insgesamt haben wir für diese Maßnahmen eine breite Unterstützung. Wir haben sie auch nicht verheimlicht. Nach der Wahl, ups, Kai aus der Kiste, kommen wir mit unserem Paket, sondern das sind ja Punkte, die wir vor der Wahl allen Menschen auch als Angebot gemacht haben, und wir haben dafür auch Mehrheiten. Das sehe ich jetzt als eine gute Legitimationsgrundlage für das, was wir tun.
"Kein ungedeckter Scheck auf die Zukunft"
Klein: Ja, Frau Nahles. Nur eine Garantie dafür, dass die Beitragssätze so bleiben wie sie sind, gibt es nicht, und Sie sind auch nicht die erste Bundesregierung, die Rentenerhöhungen verspricht und auch verabschiedet, und am Ende ist es doch nicht finanzierbar. Noch mal: Es ist ein ungedeckter Scheck auf die Zukunft, den Sie ausstellen.
Nahles: Nein, es ist nicht ungedeckt, sondern wir haben ein solides Finanzierungskonzept. Wir weisen Zahlen bis 2030 aus. Wir weisen auch aus, was das insgesamt kostet. Bei der Rente 63 sind es 0,6 Prozent der gesamten Rentenausgaben. Das ist verkraftbar, weil es wirklich eine sehr gute Situation gibt. Ich kann nicht wissen, was in zehn oder 15 Jahren ist. Da gebe ich Ihnen recht. Das kann aber niemand. Die Prognosen allerdings Ende der 90er-Jahre für das Jahr 2014 waren weitaus düsterer als das, was wir jetzt haben, und das hat mit der guten Wirtschaftsleistung zu tun. Und wenn ich dieses Jahr - und das werden wir vor der Sommerpause noch machen - auch einen Mindestlohn und ein Tarifpaket beschließe, dann stabilisieren wir die Löhne und die Tarifstrukturen in Deutschland, und auch das wird der Rentenversicherung nutzen. Man muss schon ein bisschen gucken, wie sieht die Gesamtsituation aus, und vor dem Hintergrund kann man das, was wir hier machen, sehr wohl rechtfertigen und auch begründen, und es ist kein ungedeckter Scheck auf die Zukunft.
Klein: Die Gesamtsituation wird natürlich von denjenigen, die es kritisieren, sehr wohl im Blick behalten, und Tatsache ist auch, das, was Sie heute versprechen, wird möglicherweise Folgen haben, unerwünschte Folgen in der Zukunft, und dann wird Ihre Regierung auch aus ganz natürlichen Gründen nicht mehr im Amt sein. Das heißt, es ist relativ einfach, diese Wahlversprechen jetzt umzusetzen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was in der Zukunft kommt.
Nahles: Frau Klein, einfach war es nicht. Das kann ich mal sagen. Von daher bin ich auch sehr froh, dass es uns gelungen ist, jetzt eine tragfähige Lösung zu finden. Ich kann das im Blick auch auf die Zukunft sehr gut verantworten. Das ist ja etwas, was auch meine Aufgabe ist, zu überlegen, und die der ganzen Bundesregierung, können wir das, was wir machen, verantworten auch für zukünftige Generationen. Das können wir und vor dem Hintergrund, denke ich, wird das auch in der Bevölkerung sehr positiv aufgenommen. Ich will ganz klar sagen, dass wir über Jahre dämpfende Faktoren bei der Rente verabredet haben. Wir haben unser Rentensystem in den letzten 15 Jahren zukunftssicher gemacht. Aber es sind dabei auch Gerechtigkeitslücken entstanden, oder Gerechtigkeitslücken, die es gab, nicht geschlossen worden. Da packen wir an und das heißt nicht, dass wir die Zukunftsfestigkeit unserer Rente infrage stellen. Das weise ich zurück.
Klein: Frau Nahles, ich darf Sie daran erinnern: Sie sind auch nicht die erste Sozialpolitikerin einer Bundesregierung, die betont, die Renten seien sicher, und das alles kam dann doch ein wenig anders.
Nahles: Ich habe den Satz nicht gesagt, Frau Klein. Aber ich merke schon, Sie werde ich heute Morgen an dem Punkt, glaube ich, nicht mehr überzeugen.
"Kritik bei den Jüngeren geringer ausgeprägt"
Klein: Na ja, ich kann auch den ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zitieren. Dessen Worte machen nun auch wieder die Runde, der vor Jahren schon gesagt hat, es werden immer mehr ältere Menschen in diesem Land leben und die Politiker neigen dazu, ihnen vor allen Dingen die Geschenke zu unterbreiten, ungeachtet dessen, dass es die Jüngeren sein werden, die in einigen Generationen die Rechnung zu bezahlen haben. Das wird ja als Motiv auch nicht bestritten von Ihnen, oder?
Nahles: Ich treffe sehr viele junge Leute, die ganz anders an die Sache herangehen, und auch unsere Umfragen ergeben, dass gerade bei den Jüngeren die Kritik an der Rente 63 durchaus geringer ausgeprägt ist, als Sie jetzt vielleicht vermuten. Das hat einfach damit zu tun, dass die ganz konkret ihren Vater, ihre Mutter, ihre Oma, den Opa sehen, die da gerackert haben, und die haben das Gefühl, dass es sehr wohl gerecht ist. Ich denke, wir können auch sagen, wir können es finanziell verantworten, und diejenigen, die jetzt profitieren, die haben für drei, vier Rentnergenerationen ihre Pflicht im Solidarsystem getan. Von daher, glaube ich, ist das insgesamt gerade bei Jüngeren ein Projekt, was keinesfalls auf Kritik, sondern auf breite Zustimmung stößt.
Klein: Es gibt natürlich trotzdem Kritik, die nicht vereinzelt ist. Aber Sie haben insofern recht: Ein wirklicher Aufschrei der jungen Generation ist ausgeblieben, und das stimmt Sie zufrieden?
Nahles: Ich sehe darin, dass viele Menschen solidarisch sind und die Leistungen ihrer Eltern oder ihrer Großeltern anerkennen.
Klein: Wie groß wird die Zustimmung am Freitag im Deutschen Bundestag sein? Wird Ihre Fraktion geschlossen dahinter stehen?
Nahles: Auf jeden Fall! Die SPD wird beides, sowohl die Verbesserung bei der Erwerbsminderungsrente, beim Reha-Budget, bei der Mütterrente, und auch selbstverständlich bei der Rente 63 unterstützen. Da rechne ich mit ganz breiter Unterstützung und ich hoffe, dass das bei der CDU/CSU auch so ist. Die Signale sind doch sehr positiv und auch Kritiker der letzten Monate haben ja eben vermeldet, dass sie sich vorstellen können zuzustimmen.
Klein: Die Kritiker haben wir auch in diesem Programm hier im Deutschlandfunk immer wieder zu Wort kommen lassen. Wir dürfen gespannt sein, wie die Abstimmung am Freitag aussehen wird. - Das war heute Morgen im Deutschlandfunk Andrea Nahles, die Bundesarbeits- und -Sozialministerin von der SPD. Vielen Dank, Frau Nahles.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.