Tobias Armbrüster: Es waren starke Vorwürfe, die wir gestern Morgen hier an dieser Stelle um diese Uhrzeit gehört haben: Vorwürfe gegen die Deutsche Rentenversicherung. Es ging um Rentenzahlungen für Arbeiter in jüdischen Ghettos in der Zeit des Dritten Reichs. Vor zehn Jahren hat der Bundestag beschlossen, diese Ghetto-Arbeiter, wenn sie heute noch leben, haben Anspruch auf eine deutsche Rente. Aber nach diesem Beschluss wurden dann fast alle der gestellten Anträge abgelehnt – oft wegen geringer Formfehler und vielleicht auch, wie Stephan Lehnstaedt vom Deutschen Historischen Institut in Warschau gestern Morgen hier erklärt hat, vielleicht auch, weil die Sachbearbeiter wenig Ahnung haben von den Arbeitsverhältnissen im Dritten Reich.
O-Ton Stephan Lehnstaedt: "Die Rentenversicherung hat 2002, na ja, insgesamt acht Bücher gelesen. Und sie hat gedacht, dass sie damit wüsste, wie Holocaust, wie Leben, Arbeit in Ghettos funktioniert. Und das führt dann zum Beispiel zu so absurden Schlussfolgerungen, dass die Rentenversicherung lange Jahre von 400 Ghettos in Osteuropa ausgegangen ist, obwohl wir Historiker etwa 1150 kennen."
Armbrüster: Soweit der Historiker Stephan Lehnstaedt gestern Morgen hier in diesem Programm. Gestern hat sich auch der Sozialausschuss des Deutschen Bundestages in einer Anhörung mit dem Thema befasst.
Und am Telefon ist jetzt Peter Weiß, der rentenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag. Schönen guten Morgen, Herr Weiß.
Peter Weiß: Guten Morgen.
Armbrüster: Herr Weiß, sind die deutschen Behörden mit der Auszahlung der Ghetto-Renten überfordert?
Weiß: Die rechtliche Vorschrift für die sogenannte Ghetto-Rente ist sehr kompliziert. Und deswegen hat der Deutsche Bundestag noch einmal gesetzlich nachgebessert, um die Zahlung von Ghetto-Renten zu vereinfachen. Daraufhin ist es das auch dann in den meisten Fällen gelungen, dass entsprechende Anträge auch positiv beschieden worden sind. Allerdings gibt es im deutschen Sozialrecht eine Vorschrift allgemeiner Art, dass nämlich Rentenansprüche nur vier Jahre rückwirkend geltend gemacht werden können. Das gilt übrigens für andere Sozialleistungen auch. Und daran entzündet sich jetzt der neue Streit. Also der Streit ist nicht die Frage, haben die Menschen, die einen Anspruch haben, einen Zugang zu dieser Ghetto-Rente – den haben sie -, sondern wie lange rückwirkend wird diese Ghetto-Rente ausbezahlt.
Armbrüster: Aber Vorschrift hin oder her: Kann sich Deutschland das leisten, ehemalige jüdische Ghetto-Arbeiter so zu behandeln?
Weiß: Also, ich wiederhole noch einmal: Ghetto-Arbeiter haben, wenn sie die Bedingungen des Gesetzes erfüllen, den Zugang zur Ghetto-Rente. Den bekommen sie auch genehmigt. Die Frage ist jetzt, die aufgeworfen worden ist in der jüngsten Zeit, nachdem ein Urteil des Bundessozialgerichts ergangen ist, ob alle Ghetto-Rentner auch ab der Gesetzesnorm von 1997 an eine Ghetto-Rente beziehen können.
Armbrüster: Warum soll das denn nicht so sein?
Weiß: ..., weil es im Sozialrecht die eindeutige Vorschrift gibt, dass nur vier Jahre rückwirkend geltend gemacht werden kann. Und das hat nun folgende Bewandtnis: Finanziell ist das letztlich kein großer Unterschied, weil wenn vier Jahre rückwirkend die Rente berechnet wird, gilt ein sogenannter höherer Zugangsfaktor – das ist auch ein rentenrechtlicher Begriff -, der dazu führt, dass sie eine höhere monatliche Rente ausbezahlt bekommen im Vergleich zu jemand, der schon seit '97 eine Rente bezahlt bekommt. Wenn wir jetzt speziell für die Ghetto-Rentner diese allgemeine Vorschrift des Sozialrechts aufheben würden, müssten wir diese, nur vier Jahre rückwirkend erfolgten Ghetto-Rentenzahlungen aufheben, diese betreffenden Personen auffordern, das Geld wieder zurückzuzahlen. Und ihnen stattdessen aber eine Nachzahlung für eine länger zu gewährende Rente geben.
Armbrüster: Das heißt, diese Zahlungen werden zurückgehalten für die jüdischen Ghetto-Arbeiter, diese ehemaligen, weil es zu teuer ist für Deutschland?
Weiß: Nein, überhaupt nicht! Nein, da haben Sie mich völlig falsch verstanden! Wenn man diese Rückwirkungsfrist für die Ghetto-Rentner aufheben würde, müsste man die Renten für diese Ghetto-Arbeiter neu berechnen, indem man ihnen zunächst einmal Geld, was man ihnen schon ausbezahlt hat, wieder zurückfordert, um ihnen anschließend aber über einen längeren Zeitraum eine Rente auszubezahlen. Und da haben die Fachexperten gestern in der Anhörung, glaube ich, zurecht vorgetragen: Das ist ein Vorgang, den ein nun mittlerweile hochbetagter Mensch, der in einem Ghetto eine schlimme Vergangenheit hinter sich hat, erst recht nicht verstehen wird.
Armbrüster: Warum kann man dann keine Ausnahme machen?
Weiß: Natürlich kann man eine Ausnahme machen. Aber die Frage ist: Welche Folge hat die Ausnahme. Die Ausnahme – das habe ich Ihnen gerade dargestellt – führt dazu, dass ich von den betreffenden Personen erst einmal Geld wieder zurückfordern muss, um ihnen anschließend eine längere Rente auszubezahlen. Das ist so widersinnig, dass die meisten Fachexperten zurecht gesagt haben, das kann man eigentlich den Menschen nicht zumuten. Und deswegen sind wir gestern aus dieser Anhörung ehrlich gesagt mit ein bisschen Ratlosigkeit zurückgeblieben, angesichts der unterschiedlichen Vorschläge, die uns die Fachexperten vorgetragen haben.
Armbrüster: Warum kann man denn diesen höchst bürokratischen Vorgang nicht einfach umgehen und sagen, wir verzichten auf die Rückzahlung der Antragsteller und zahlen stattdessen den Fehlbetrag direkt aus?
Weiß: Den Fehlbetrag können Sie letztlich nur dann exakt errechnen, wenn Sie wüssten, wie lange eine entsprechende Person lebt. Und deswegen ist gestern der Vorschlag gemacht worden, ob man nicht einfach einen Pauschbetrag ausbezahlt, also sagt, für diejenigen, denen wir leider nur noch vier Jahre rückwirkend die Rente bezahlen können, gewähren wir einen zusätzlichen pauschalen Ausgleichsbetrag. Das war der zweite Vorschlag, der gemacht worden ist und den ich auch glaube, den man ernsthaft bedenken sollte. Allerdings gibt es wieder Vertreter der anderen Seite, die sagen, nein, wir sind der Auffassung, dass dieses komplizierte Berechnungsverfahren durchgeführt werden muss. Also gestern standen etwa fifty fifty die Vorschläge, Ausnahmeregelung im Rentenrecht zu machen oder pauschale Abgeltung, gegeneinander.
Armbrüster: Herr Weiß, es geht bei diesen Fällen noch um ein ganz anderes Problem. Zehntausende von Anträgen wurden in den vergangenen Jahren abgelehnt, oft zu Unrecht, wie wir gestern vom Historiker Stephan Lehnstaedt und auch in vielen anderen Berichten vorher gehört haben. Müsste man da nicht noch einmal in eine Revision gehen?
Weiß: Die Revision ist ja erfolgt und sie hat ja die Auszahlung der Ghetto-Renten dann auch anschließend vereinfacht, sodass viele abgelehnte Anträge, indem sie neu gestellt worden sind, bewilligt worden sind.
Armbrüster: Es bleibt aber dabei, dass der Großteil der gestellten Anträge abgelehnt wurde.
Weiß: Das kann man für die neueren Anträge nicht mehr sagen. Es ist so, dass ja gerade weil wir diese Schwierigkeit haben, diese Ghetto-Rente jetzt nachträglich richtig zu berechnen, ohnehin der Bund eine Ausgleichsleistung genereller Art eingeführt hat, die aus einem Fonds bezahlt werden. Und alle diejenigen, die ihre Ghetto-Renten bewilligt bekommen haben, wie diejenigen, deren Ghetto-Rentenantrag abgelehnt werden musste, erhalten diesen Ausgleichsbetrag. Zu gut Deutsch, um es kurz zusammenzufassen: Für alle, die im Ghetto gearbeitet haben, gibt es eine finanzielle Leistung der Bundesrepublik Deutschland.
Armbrüster: ..., sagt Peter Weiß, der rentenpolitische Sprecher der Unionsfraktion. Wir sprachen mit ihm über die Kontroverse um die Auszahlung von Renten an ehemalige jüdische Ghetto-Arbeiter. Besten Dank, Herr Weiß, für das Gespräch.
Weiß: Ich danke Ihnen auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
O-Ton Stephan Lehnstaedt: "Die Rentenversicherung hat 2002, na ja, insgesamt acht Bücher gelesen. Und sie hat gedacht, dass sie damit wüsste, wie Holocaust, wie Leben, Arbeit in Ghettos funktioniert. Und das führt dann zum Beispiel zu so absurden Schlussfolgerungen, dass die Rentenversicherung lange Jahre von 400 Ghettos in Osteuropa ausgegangen ist, obwohl wir Historiker etwa 1150 kennen."
Armbrüster: Soweit der Historiker Stephan Lehnstaedt gestern Morgen hier in diesem Programm. Gestern hat sich auch der Sozialausschuss des Deutschen Bundestages in einer Anhörung mit dem Thema befasst.
Und am Telefon ist jetzt Peter Weiß, der rentenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag. Schönen guten Morgen, Herr Weiß.
Peter Weiß: Guten Morgen.
Armbrüster: Herr Weiß, sind die deutschen Behörden mit der Auszahlung der Ghetto-Renten überfordert?
Weiß: Die rechtliche Vorschrift für die sogenannte Ghetto-Rente ist sehr kompliziert. Und deswegen hat der Deutsche Bundestag noch einmal gesetzlich nachgebessert, um die Zahlung von Ghetto-Renten zu vereinfachen. Daraufhin ist es das auch dann in den meisten Fällen gelungen, dass entsprechende Anträge auch positiv beschieden worden sind. Allerdings gibt es im deutschen Sozialrecht eine Vorschrift allgemeiner Art, dass nämlich Rentenansprüche nur vier Jahre rückwirkend geltend gemacht werden können. Das gilt übrigens für andere Sozialleistungen auch. Und daran entzündet sich jetzt der neue Streit. Also der Streit ist nicht die Frage, haben die Menschen, die einen Anspruch haben, einen Zugang zu dieser Ghetto-Rente – den haben sie -, sondern wie lange rückwirkend wird diese Ghetto-Rente ausbezahlt.
Armbrüster: Aber Vorschrift hin oder her: Kann sich Deutschland das leisten, ehemalige jüdische Ghetto-Arbeiter so zu behandeln?
Weiß: Also, ich wiederhole noch einmal: Ghetto-Arbeiter haben, wenn sie die Bedingungen des Gesetzes erfüllen, den Zugang zur Ghetto-Rente. Den bekommen sie auch genehmigt. Die Frage ist jetzt, die aufgeworfen worden ist in der jüngsten Zeit, nachdem ein Urteil des Bundessozialgerichts ergangen ist, ob alle Ghetto-Rentner auch ab der Gesetzesnorm von 1997 an eine Ghetto-Rente beziehen können.
Armbrüster: Warum soll das denn nicht so sein?
Weiß: ..., weil es im Sozialrecht die eindeutige Vorschrift gibt, dass nur vier Jahre rückwirkend geltend gemacht werden kann. Und das hat nun folgende Bewandtnis: Finanziell ist das letztlich kein großer Unterschied, weil wenn vier Jahre rückwirkend die Rente berechnet wird, gilt ein sogenannter höherer Zugangsfaktor – das ist auch ein rentenrechtlicher Begriff -, der dazu führt, dass sie eine höhere monatliche Rente ausbezahlt bekommen im Vergleich zu jemand, der schon seit '97 eine Rente bezahlt bekommt. Wenn wir jetzt speziell für die Ghetto-Rentner diese allgemeine Vorschrift des Sozialrechts aufheben würden, müssten wir diese, nur vier Jahre rückwirkend erfolgten Ghetto-Rentenzahlungen aufheben, diese betreffenden Personen auffordern, das Geld wieder zurückzuzahlen. Und ihnen stattdessen aber eine Nachzahlung für eine länger zu gewährende Rente geben.
Armbrüster: Das heißt, diese Zahlungen werden zurückgehalten für die jüdischen Ghetto-Arbeiter, diese ehemaligen, weil es zu teuer ist für Deutschland?
Weiß: Nein, überhaupt nicht! Nein, da haben Sie mich völlig falsch verstanden! Wenn man diese Rückwirkungsfrist für die Ghetto-Rentner aufheben würde, müsste man die Renten für diese Ghetto-Arbeiter neu berechnen, indem man ihnen zunächst einmal Geld, was man ihnen schon ausbezahlt hat, wieder zurückfordert, um ihnen anschließend aber über einen längeren Zeitraum eine Rente auszubezahlen. Und da haben die Fachexperten gestern in der Anhörung, glaube ich, zurecht vorgetragen: Das ist ein Vorgang, den ein nun mittlerweile hochbetagter Mensch, der in einem Ghetto eine schlimme Vergangenheit hinter sich hat, erst recht nicht verstehen wird.
Armbrüster: Warum kann man dann keine Ausnahme machen?
Weiß: Natürlich kann man eine Ausnahme machen. Aber die Frage ist: Welche Folge hat die Ausnahme. Die Ausnahme – das habe ich Ihnen gerade dargestellt – führt dazu, dass ich von den betreffenden Personen erst einmal Geld wieder zurückfordern muss, um ihnen anschließend eine längere Rente auszubezahlen. Das ist so widersinnig, dass die meisten Fachexperten zurecht gesagt haben, das kann man eigentlich den Menschen nicht zumuten. Und deswegen sind wir gestern aus dieser Anhörung ehrlich gesagt mit ein bisschen Ratlosigkeit zurückgeblieben, angesichts der unterschiedlichen Vorschläge, die uns die Fachexperten vorgetragen haben.
Armbrüster: Warum kann man denn diesen höchst bürokratischen Vorgang nicht einfach umgehen und sagen, wir verzichten auf die Rückzahlung der Antragsteller und zahlen stattdessen den Fehlbetrag direkt aus?
Weiß: Den Fehlbetrag können Sie letztlich nur dann exakt errechnen, wenn Sie wüssten, wie lange eine entsprechende Person lebt. Und deswegen ist gestern der Vorschlag gemacht worden, ob man nicht einfach einen Pauschbetrag ausbezahlt, also sagt, für diejenigen, denen wir leider nur noch vier Jahre rückwirkend die Rente bezahlen können, gewähren wir einen zusätzlichen pauschalen Ausgleichsbetrag. Das war der zweite Vorschlag, der gemacht worden ist und den ich auch glaube, den man ernsthaft bedenken sollte. Allerdings gibt es wieder Vertreter der anderen Seite, die sagen, nein, wir sind der Auffassung, dass dieses komplizierte Berechnungsverfahren durchgeführt werden muss. Also gestern standen etwa fifty fifty die Vorschläge, Ausnahmeregelung im Rentenrecht zu machen oder pauschale Abgeltung, gegeneinander.
Armbrüster: Herr Weiß, es geht bei diesen Fällen noch um ein ganz anderes Problem. Zehntausende von Anträgen wurden in den vergangenen Jahren abgelehnt, oft zu Unrecht, wie wir gestern vom Historiker Stephan Lehnstaedt und auch in vielen anderen Berichten vorher gehört haben. Müsste man da nicht noch einmal in eine Revision gehen?
Weiß: Die Revision ist ja erfolgt und sie hat ja die Auszahlung der Ghetto-Renten dann auch anschließend vereinfacht, sodass viele abgelehnte Anträge, indem sie neu gestellt worden sind, bewilligt worden sind.
Armbrüster: Es bleibt aber dabei, dass der Großteil der gestellten Anträge abgelehnt wurde.
Weiß: Das kann man für die neueren Anträge nicht mehr sagen. Es ist so, dass ja gerade weil wir diese Schwierigkeit haben, diese Ghetto-Rente jetzt nachträglich richtig zu berechnen, ohnehin der Bund eine Ausgleichsleistung genereller Art eingeführt hat, die aus einem Fonds bezahlt werden. Und alle diejenigen, die ihre Ghetto-Renten bewilligt bekommen haben, wie diejenigen, deren Ghetto-Rentenantrag abgelehnt werden musste, erhalten diesen Ausgleichsbetrag. Zu gut Deutsch, um es kurz zusammenzufassen: Für alle, die im Ghetto gearbeitet haben, gibt es eine finanzielle Leistung der Bundesrepublik Deutschland.
Armbrüster: ..., sagt Peter Weiß, der rentenpolitische Sprecher der Unionsfraktion. Wir sprachen mit ihm über die Kontroverse um die Auszahlung von Renten an ehemalige jüdische Ghetto-Arbeiter. Besten Dank, Herr Weiß, für das Gespräch.
Weiß: Ich danke Ihnen auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.