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Report über Abgeordnete
Ungeschönte Einblicke ins Leben unserer Volksvertreter

Zwischen Macht und Ohnmacht: Bundestagsabgeordnete in Deutschland sind in ihrem politischen Alltag zunehmend Stress und Aggressionen ausgesetzt - so zumindest der Bericht der Journalisten Peter Dausend und Horand Knaup. Sie haben untersucht, wie die Abgeordnete mit schwierigen Strukturen umgehen.

Von Martin Hubert |
Der Plenarsaal im Reichstagsgebäude aus der Vogelperspektive aufgenommen.
Respekt und Vertrauen gegenüber den Volksvertretern nimmt kontinuierlich ab - konstatieren Peter Dausend und Horand Knaup (imago / Christian Ditsch)
"Alleiner kannst du gar nicht sein: Unsere Volksvertreter zwischen Macht, Sucht und Angst." Der Titel von Peter Dausends und Horand Knaups Buch legt nahe, dass sich im Vergleich zu den 1950er Jahren nicht viel geändert hat, als deutsche Volksvertreter das Geschäft der Demokratie nach der NS-Zeit neu einübten. Im Jahr 1953 hatte der Schriftsteller Wolfgang Koeppen den Roman "Das Treibhaus" vorgelegt, ein erstes literarisches Dokument des politischen Lebens in der Bonner Republik. Im Zentrum stand ein Abgeordneter mit großen Zielen, der im Macht- und Ränkespiel der Parteien untergeht und sich das Leben nimmt.
Ganz so dramatisch geht es bei Dausend und Knaup zwar nicht zu. Aber auch hier dominiert ein Bild des Abgeordneten, der von einer widerspruchsvollen Wirklichkeit zerrissen zu werden droht. Die Autoren schreiben:
"Das Leben von Bundestagsabgeordneten weist eine Besonderheit auf: Es funktioniert binär. Null und Eins. Sieg und Niederlage, Wahlkreis und Hauptstadt, Macht und Ohnmacht, Teamgeist und Einsamkeit, Führungsposten und Hinterbank, Gewissensentscheidung und Fraktionsdisziplin, Regierung und Opposition, Aufstieg und Fall. Dieses Dasein fängt irgendwann an, einen Menschen zu deformieren."
Gegen die Windmühlen der Lobbyisten
Zwar schildern Dausend und Knaup auch Gewinner: Abgeordnete, die wichtige Posten ergattern oder in mühseliger Arbeit Inhalte durchsetzen, die ihren politischen Idealen entsprechen. Doch grundsätzlich erscheinen die Volksvertreter als Einzelkämpfer, die viel zu häufig ihre Ohnmacht erfahren. Etwa im Vergleich mit Lobbyisten.
"Wenn das Bundesfinanzministerium zu Anhörungen bat, kamen die Experten viele Jahre lang mit großer Mehrheit aus dem Banken-, Kredit- und Versicherungsgewerbe. Verbraucheranwälte und -experten waren als Minderheit allenfalls toleriert. ‚Es gibt sicher eine Handvoll Beispiele, bei denen ich nachweisen könnte, dass das Gesamtwerk – von der Regelungsidee bis zur Formulierung – von Lobbyisten kam‘, sagt der ehemalige Grünen-Bundestagsabgeordnete Gerhard Schick."
Buchcover. Im Hintergrund: Leere Sitze des Bundestags in Berlin im Reichstagsgebäude durch die Glaskuppel von oben gesehen
Der andauernde Druck hat für Abgeordnete auch psychologische und gesundheitliche Folgen (Buchcover: dtv Verlag/ Hintergrund: picture alliance / Felix Hörhager)
Ohnmacht ist aber auch im politischen Getriebe selbst erfahrbar, zum Teil wird sie sogar gezielt inszeniert. Manche Szenen, die die Autoren hier schildern, lesen sich wie überdrehte literarische Fiktion, sind aber von Abgeordneten verbürgt. Etwa wenn die ehemalige Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD, Nina Hauer, zu ihrem Fraktionschef Franz Müntefering gebeten wird, nachdem sie wieder einmal Abgeordneten wichtige Posten verschafft hat, was Müntefering nicht gefällt. Sie macht die Bekanntschaft mit einer archaischen Machttechnik, die schon in der 1950er Jahren praktiziert wurde.
"Als sie sein Büro betritt, macht Müntefering den Wehner: Er dreht sich auf seinem Stuhl um, schaut zum Fenster raus – und schweigt. […] Bis sie irgendwann geht. Diesmal ist sie ihren Job los."
Schlechte Umgangsformen, viel Frustration
Dausend und Knaup präsentieren eine ganze Kette solch deprimierender Episoden aus dem Dasein der Volksvertreter. Beruft sich ein Abgeordneter gegen den Fraktionszwang auf sein Gewissen, wird er nicht selten mit Schweigen, sondern mit Gebrüll bedacht. Die Gleichberechtigung der Geschlechter hat sich im Parlament nicht wirklich durchgesetzt. Wenn Frauen eine Rede halten, beginnen die männlichen Abgeordneten sich quer durch die Fraktionen laut zu unterhalten.
Nach Dausend und Knaup hat dieser Dauerdruck und Dauerstress nicht nur politische Folgen. Viele Parlamentarier und Parlamentarierinnen würden konfliktscheu, litten aber auch an chronischem Schlafmangel und lebten ungesund. Die Einsamkeit abends in Berlin nach einem nervenaufreibenden Tag fern der Heimat führe bei manchen dazu, dass sie sich in Affären stürzen oder zu Drogen greifen. Bisweilen grenzt das Buch in solchen Passagen an Klatsch, auch weil die Autoren keine Zahlen nennen, wie häufig das tatsächlich vorkommt.
Die Bürde der sozialen Netzwerke
Überzeugender sind sie, wenn sie schildern, wie stark die sozialen Medien den Stresspegel der Abgeordneten noch einmal erhöhen. Sie müssen nicht nur ständig selber twittern und posten, um gehört zu werden, sondern werden immer häufiger zum Objekt von Hass und Aggression:
"Claudia Roth hat eine Art Schutzwall um sich herum aufgebaut. Er besteht aus den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in ihrem Bundestagsbüro. Die schrecklichsten Mails und Briefe kommen über diesen Schutzwall gar nicht mehr rüber. Aber nutzt das was? Sie weiß ja um die Verachtung, die permanente Bedrohung, die Morddrohungen. 'Manchmal denke ich, ich halte das alles nicht mehr aus', sagt die Grünen-Politikerin."
Selbst der eigene Wahlkreis ist offenbar kein sicherer Hafen mehr für die Abgeordneten. Auch dort wird Kritik immer aggressiver vorgetragen, selbst von den eigenen Parteimitgliedern.
Die deutsche Demokratie ist in der Krise, bilanzieren Dausend und Knaup, und das spiegele sich in zunehmendem Respekt-und Vertrauensverlust in Bezug auf die Volksvertreter. Die Autoren betreiben in ihrem flüssig geschriebenen Report kein Politiker-Bashing, auch wenn sie manche krasse Story aufbieten. Als ungeschönter Bericht über die oft prekäre Situation der deutschen Abgeordneten ist ihr Buch daher lesenswert. Schade nur, dass sie aus den vielen Gesprächen, die sie mit Volksvertreter geführt haben, nur wenig direkt zitieren, sondern Vieles in pointiert erzählte Geschichten auflösen, wobei einiges schon bekannt ist.
In einem Nachwort fassen Dausend und Knaup die ihrer Meinung nach zentralen Probleme der Abgeordnetenarbeit nebst kurzen Verbesserungsvorschlägen zusammen. Dazu hätte man gerne auch ausführlich die Meinung der Abgeordneten selbst gehört. Insofern leidet das Buch unter der Tendenz, die Abgeordneten eher zu bemitleidenswerten Objekten zu machen als zu Subjekten einer widerspruchsvollen Position, die sie bewusst gewählt haben.
Peter Dausend, Horand Knaup:
"Alleiner kannst du gar nicht sein. Unsere Volksvertreter zwischen Macht, Sucht und Angst."

dtv, 464 Seiten, 22,00 Euro.