Im Roman "Nachts ist es leise in Teheran" der iranischstämmigen Schriftstellerin Shida Bazyar reist die in Deutschland geborene älteste Tochter Ende der 90er Jahre zum ersten Mal in die Heimat ihrer iranischen Eltern. Die Regeln dort seien ganz einfach, merkt sie bei dieser Gelegenheit an: "Die Sachen, die Spaß machen, sind verboten."
Das gilt wohl immer noch. Doch wer denkt, dass Teheraner sich alles verkneifen, was Spaß zu machen verspricht, irrt gewaltig. Wie gewaltig, auch davon erzählt der ebenso sensationelle wie sensationslüsterne Reportagenband der 1971 in Teheran geborenen und in London aufgewachsenen Journalistin Ramita Navai viele wilde Geschichten. Von 2003 bis 2006 arbeitete sie als Korrespondentin der "Times" in Teheran und führte damals zahllose Interviews mit Menschen, die sich nicht ins strenge Raster der iranischen Gesellschaft fügen: Geschiedene, Schwule, Atheisten, Dissidenten, Exiliraner, Pornodarsteller, Drogenabhängige, Oppositionelle.
"Welthauptstadt des Analsex"
Aus diesen Gesprächen und ihren Recherchen formte sie acht Porträts, die gewagte Blicke hinter die Kulissen Teherans werfen. Ramita Navai nimmt uns mit in die "Welthauptstadt des Analsex" und ins Land mit dem fünftgrößten Chrystal-Meth-Konsum der Welt, um nur mal zwei der Superlative zu nennen, mit denen das Buch aufwartet. Jedes Kapitel nimmt eine andere Person in den Fokus, im Anhang beschreibt die Autorin dann dezidiert, aus welchen Geschichten sie ihre Porträts zusammengesetzt hat, und aus welchen Quellen sie ihre Informationen speist. Den Faktencheck liefert sie also gleich mit.
Jede ihrer Geschichten erzählt dabei auch vom Lügen als Überlebensstrategie. Das reicht von Converse-Turnschuhen unterm Tschador über kleine Notlügen im Alltag bis hin zu kriminellen Sauereien im großen Stil. Den Blick auf die 12-Millionen-Metropole Teheran verengt das Buch dabei geschickt auf die Valiasr-Straße, welche die Innenstadt durchschneidet. Eine Straße, die vieles miteinander verbindet, auch den reichen Norden mit dem armen Süden. Rund um diese Straße spielen sich die geschilderten Dramen ab. Dort tummeln sich etwa Drogenhändler wie Bijan, der sich als Gangster und Waffenschieber verdingt, oder Leyla, ein Mädchen aus zerrüttetem Elternhaus, das zum Pornostar avanciert.
Prostitution auf den Straßen Teherans durchaus verbreitet
Es sind Geschichten, von denen man naiverweise dachte, sie könnten sich unter den Augen der Mullahs nicht verwirklichen. Von Ramita Navai indes erfährt man, dass Prostitution auf den Straßen Teherans durchaus verbreitet ist oder auch, dass eine Fatwa von Ajatollah Chomeini Geschlechtsumwandlungen billigt. Nach der Lektüre des Buches ist gewiss, dass es alles, was es hier gibt, auch dort gibt, nur dort ist es oft lebensgefährlich.
Navai schaut für uns gewissermaßen durchs Schlüsselloch und fördert dabei Sex, Lügen und Videos zutage. Dabei hat sie eine Vorliebe für Extreme, beäugt lieber die Auswüchse der Gesellschaft, als den vermeintlich Normalen unter den Rock zu schauen. Das tut sie zum Glück aber auch, etwa wenn sie traurige Durchschnitts-Ehen in den Blick nimmt wie die von Somayeh, deren Zukünftiger erst das Blaue vom Himmel verspricht und ihr als Ehemann das Leben zur Hölle macht. Immer wieder verdichtet die Autorin ihre Reportagen derart, dass sie romanhafte Züge erhalten. Manches gerät ihr vielleicht eine Spur zu pathetisch, anderes ein bisschen zu reißerisch.
Von der Liebe zu gerichteten Nasen und Picknick im Freien
Das wird aber locker aufgewogen von den fundierten Einblicken, die sie einem beschert. Man erfährt erstaunlich viel aus diesem Buch. Von der Opiumsucht vieler Männer ist ebenso die Rede wie von der leidenschaftlichen Jammerlust der Iraner, ihrer unerschütterlichen Herzlichkeit, ihrer Vorliebe für gerichtete Nasen und ihrem Faible fürs Picknicken. Von der "hässlichen Urbanität" Teherans weiß Navai ebenso viel wie von den Schönheiten Irans, wobei sie es geschickt versteht, auch die jüngere Geschichte des Landes immer wieder einfließen zu lassen. Das alte, sündige Teheran, an das sich viele ihrer Gesprächspartner erinnern, war das Teheran unter dem letzten Schah. Die Valiasr-Strasse war damals von Miniröcken, Bars und Vergnügungen aller Art bevölkert. Repressionen lauerten freilich anderswo. Der Sturz des Schahs, die Ankunft des vermeintlichen Hoffnungsträgers Chomeini im Jahr 1979, seine islamische und die grüne Revolution im Jahr 2009 finden sich in diesen Reportagen in ihrem vielfältigen Einfluss auf die Bevölkerung wieder. Dabei kombiniert Navai den Blick von Außen geschickt mit der Innenperspektive ihrer Auskunftgeber. Kurz gesagt: Wer sich für Iran und/oder Teheran interessiert, kommt an diesem Buch gar nicht vorbei.
Ramita Navai: Stadt der Lügen. Liebe, Sex und Tod in Teheran. Aus dem Englischen von Yamin von Rauch. Verlag Kein & Aber. 286 Seiten, 22 Euro.