Claas Relotius galt als Vorzeigereporter, für seine Texte wurde er vielfach mit Preisen ausgezeichnet. Bis 2018 schrieb er unter anderem für das Magazin "Spiegel" Reportagen, die sich als fehlerhaft herausstellten. Zum Teil enthielten sie erfundene Szenen, Gespräche und Ereignisse. Das Magazin machte den Betrugsfall im Dezember 2018 selbst öffentlich und arbeitete ihn auf. Es folgten personelle Konsequenzen im Haus, zudem wurden redaktionelle Standards überarbeitet.
Aber auch abseits des "Spiegel" löste der Fall Debatten über journalistische Reportagestandards, Factchecking und Reporterpreise aus.
Relotius hatte auch für Magazin "Reportagen" Texte geschrieben, das nun das erste und über 90 Fragen lange Interview mit Relotius nach Bekanntwerden des Skandals veröffentlicht hat. Darin spricht der ehemalige Journalist über seine Fälschungen, Beweggründe und psychiatrische Behandlung.
Von seinen 120 verfassten Texten in seiner Journalistenzeit seien "wahrscheinlich die allerwenigsten" korrekt. Er habe "in der unverrückbaren Überzeugung geschrieben, es würde bei der Erzählform Reportage keinen Unterschied machen, ob alles 1:1 der Realität entspricht oder nicht". Relotius sagte, er könne es nicht erklären, aber jahrelang habe er "nie Angst, nie Zweifel, auch nie ein schlechtes Gewissen" gehabt. Mehrmals bekräftigte er im Interview, nicht aus karrieristischem Kalkül gehandelt zu haben. Relotius hatte für seine Artikel mehrere Journalistenpreise gewonnen.
Wie Chefredakteur Daniel Puntas Bernet und seine Kollegin Margrit Sprecher in ihrem Text zum Interview schreiben, habe sich Relotius bereits 2019 bei ihnen gemeldet und um Entschuldigung gebeten - etwa zu der Zeit, in der das Buch "Tausend Zeilen Lüge" von Juan Moreno über den Fall Relotius erschienen war. Zu dieser Zeit habe sich Relotius auch in stationärer psychiatrischer Behandlung befunden, so die Autoren.
Das Interview habe man dann im Sommer 2020 geführt, heißt es in "Reportagen". Sprecher und Puntas Bernet schreiben, Relotius davor mehrmals persönlich zu ausführlichen Gesprächen in Hamburg getroffen zu haben, um sich "ein möglichst umfangreiches Bild" zu machen: "Dabei erlebten wir einen Menschen, der zwischen extrem hoher Konzentration und phasenweiser Abwesenheit schwankte. Der verunsichert wirkte und nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie eine ambulante Therapie begonnen hatte", heißt es im Text.
Im Gespräch mit @mediasres sagte Puntas Bernet, dass er den Aussagen von Relotius stets mit Skepsis begegnet sei. "Man zweifelt natürlich selber immer", ob ein bekannter Hochstapler wirklich die Wahrheit sage. Ob alle Aussagen zutreffend seien, könne man nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen.
Man habe das Interviews jedoch nicht "schnell, schnell" geführt, sondern versucht, alle zweifelhaften Aussagen zu überprüfen. Neben den Treffen mit Relotius habe man daher auch mit seinem privaten Umfeld, früheren Kollegen beim "Spiegel" und dem behandelnden Psychiater und Therapeuten gesprochen, sowie Einsicht in psychiatrischen Berichte erhalten.
Ursprünglich sei auch kein Interview geplant gewesen, sondern eine Reportage, so Puntas Bernet. Im Laufe der Recherche habe man die Pläne dann aber geändert, auch weil auf Wunsch von Relotius dessen privates Umfeld nicht auftauchen sollte. Zudem sei "Reportagen" mehrmals an den Punkt gekommen, an dem man sich überlegt habe, das Interview auf Grund der von Relotius angesprochenen psychischen Erkrankung gar nicht zu veröffentlichen. Hier habe er mit Relotius' behandelndem Arzt gesprochen, um eine Veröffentlichung abzuwägen.
Als der Skandal um Relotius 2018 aufflog, war das Interesse an einem Interview mit Relotius groß. Drei Jahre lang war kaum etwas über ihn in die Öffentlichkeit gedrungen. Gegenüber einigen Medienredaktionen, auch @mediasres, gab sich zeitweise sogar ein Unbekannter fälschlicherweise als Relotius aus und bot Interviews an.
Dass Relotius nun tatsächlich mit Journalisten gesprochen hat, hat für viel Aufmerksamkeit und rege Diskussionen gesorgt. Am Tag der Veröffentlichung auf der Website von "Reportagen" war das Interview zeitweise nicht aufrufbar, die Seite überlastet. Das Interesse ist groß - die Skepsis allerdings auch.
Olaf Storbeck, Frankfurt-Korrespondent bei der "Financial Times", etwa zeigte sich bei Twitter zunächst begeistert, sprach von einem "grandiosen und verstörenden Interview". Beim zweiten Lesen aber seien ihm Zweifel gekommen: Viele Passagen seien "einfach nur total wirr" - wirklich glaubwürdig sei das nicht.
"Auf mich wirkt das ganze Interview, als hätte Relotius nun auch sich selbst erfunden", meint auch der Journalist Krsto Lazarević. Das Interview sei "banal und nichtssagend". "Differenzierung und Komplexität gehen hierbei verloren. Es geht nicht darum, neue Perspektiven kennen zu lernen, die Welt zu entdecken, etwas neues zu lernen. Nein, es geht um Entertainment", so Lazarević bei Twitter.
Ähnlich sieht es auch Lorenz Meyer vom Bildblog. Sein Fazit: "unterhaltsam" aber ohne Erkenntnisgewinn.
"Das Interessanteste an seiner Geschichte die Interviewfrage, ob nicht doch was dran sei an dem Vorwurf gegen den Spiegel, hinter den Fälschungen habe ein System gesteckt", meint Laura Hertreiter von der "Süddeutschen Zeitung". Darauf aber antworte Relotius nur ausweichend.
Der Journalist Johannes Böhme greift den Aspekt auf, dass "Reportagen" Einsicht in psychiatrische Berichte bekommen und mit Relotius' Psychiater und Therapeuten gesprochen habe. "Die Interviewer scheinen zu glauben, dass all das, was in den psychiatrischen Akten steht, irgendwie einen ehrlichen Eindruck vom Innenleben dieses Mannes gibt", so Böhme bei Twitter. Das Innenleben von Relotius bleibe letztlich aber unüberprüfbar.