Am 25. Oktober 1929 kam Joseph Mitchell mit 21 Jahren in die damals größte Stadt der Welt, nach New York City. Nach mehreren Jahren als Kriminalreporter fand er seine wahre Berufung: Er verlegte sich auf Interviews und Reportagen aus dem Stadtleben. Sein Lebtag lang sollte er nichts anderes mehr tun, als sich mit Menschen zu unterhalten und darüber zu schreiben.
"Die einzigen Menschen, denen ich nicht gerne zuhöre, sind Damen der besseren Gesellschaft, Wirtschaftskapitäne, berühmte Schriftsteller, Priester, Filmschauspieler (...) und alle Schauspielerinnen unter fünfunddreißig. Die interessantesten Menschen sind für mich, jedenfalls was Gespräche betrifft, Ethnologen, Bauern, Prostituierte, Psychiater und ab und zu ein Barmann. Die besten Gespräche sind ungekünstelt, Gespräche von Menschen, die sich Mut zusprechen oder einander trösten, von Frauen, die in der Sonne um Kinderwagen herumstehen und sich über ihre Zeit im Krankenhaus oder über die steigenden Fleischpreise unterhalten, oder von Männern, die in Kneipen gegen die uns alle befallende Einsamkeit anreden." (S. 14)
Meisterliche literarische Reportagen
Exzentriker und gesellschaftliche Außenseiter lagen Mitchell besonders am Herzen, und von ihnen hat es, diesen Eindruck gewinnt man bei der Lektüre, im New York der 1930er nur so gewimmelt. Schon die Themen der Reportagen erzählen viel über die fiebrige Atmosphäre, die während der Großen Depression in der Stadt geherrscht hat: Mitchell trifft Striptease-Tänzerinnen oder einen italienischen Exil-Anarchisten; er spürt Voodoo-Praktiken in Harlem nach, besucht Marihuana-Partys oder die Gottesdienste selbst ernannter Gurus. Diese Begegnungen verdichtet er zu meisterlichen literarischen Reportagen, die trotz ihrer Detailfülle schlank und anmutig bleiben. Durchzogen sind sie allesamt von feiner Ironie, ohne dass der Autor jedoch seine Protagonisten vorführen würde - obwohl sich in Anbetracht dieser mitunter naiven, verblendeten oder schlicht verrückten Gestalten zuweilen der Spott geradezu aufdrängt. Man spürt, dass Mitchell seinen Mitmenschen in all ihrer Unvollkommenheit gerecht werden will. Was sich immer wieder offenbart, ist seine vitale Neugier - und seine Nächstenliebe.
"Ich bekam die Erlaubnis, die Station 2, Süd zu besuchen, aber ich durfte keine Fragen stellen. Im Korridor stand ein Mann in einem Bademantel. Er starrte vor sich hin und zitterte am ganzen Leib. (...) Einige Betten waren vergittert, damit die Männer nicht herausfielen. Sie haben keine Gewalt über sich. Manche können Körbe flechten. Am Ende des Korridors befindet sich ein Raum, in dem sitzen sie und flechten die Körbe. Draußen im sieben Hektar großen Krankenhausgarten hatten sich die Ahornblätter gelb und rot gefärbt, auf der Knightsbridge Road spielten Kinder johlend Ball und auf dem blauen Hudson ruderten zwei junge Männer, und drinnen hockten um die Radiatoren fünf Männer mittleren Alters, denen heulende Granaten die Nerven zerfetzt hatten, und mühten sich mit den Weidenkörben ab. Sie brauchten Stunden für eine Arbeit, die ein Kind im Handumdrehen vollbringt. Wenn man sah, wie ihre zittrigen, fahrigen Händen mit den Weidenruten kämpften, bekam man eine Riesenwut." (S. 179)
Fassungslosigkeit angesichts miterlebten Unrechts
Diese Reportage aus einem Krankenhaus in Brooklyn, in dem Weltkriegs-Veteranen vor sich hin vegetieren, ist nicht der einzige Text, in dem Mitchells Fassungslosigkeit angesichts miterlebten Unrechts, miterlittener Unmenschlichkeit aufscheint. Ein weiterer in dieser Hinsicht bemerkenswerter Text ist seine Reportage von einer Hinrichtung dreier Mörder auf dem elektrischen Stuhl. Zwar hebt auch sie sarkastisch an; die Schilderung der vielen fehlgeschlagenen Versuche der Verurteilten, ihr Opfer, einen zähen Säufer, umzubringen, liest sich regelrecht skurril. Doch die Exekutionen selbst sind dann in all ihrer Härte und klinischen Grausamkeit dargestellt.
"Die Zeugen konnten hören, wie Elliott den Schalter umlegte. Es dauerte nicht lange - nur drei Minuten. Sie legten den blassen kleinen Mann, der noch immer vor sich hin starrte, auf den weißen Operationstisch und schoben ihn in den Obduktionsraum." (S. 215)
Brookly, das Aschenbrödel im Schatten Manhattans
Während Mitchell ein Konglomerat verschiedenster Geschichten aus New York präsentiert, stimmt sein Altersgenosse James Agee in seinem Buch einen Gesang auf den größten Stadtteil der einst größten Stadt der Welt an: auf Brooklyn, dieses Aschenbrödel im Schatten seiner schönen, weltgewandten Schwester Manhattan. Seinen Text leitet ein Zitat des großen amerikanischen Dichters Walt Whitman ein, und auch Agees Essay liest sich wie Poesie.
"Sie, die Kranken, die Fragilen oder Fruchtbaren, die Gesunden, die Jungen, die Lebenden und die Toten, die Häuser, die Straßen, die Fenster, die Stoffwände der Krankenkubikel, die mörderischen Schulzimmer, die verrußten und heulenden Fabriken, die erbarmungslosen Vögel, die Tiere, diese gottgleich aufragende Brücke, die Tag und Nacht für sich singt; im göttlich geistlosen Licht. Das sind die Einwohner Brooklyns."
Inhaltlich, und das verbindet Agees Notizen neben dem Topos New York mit Mitchells Reportagen, merkt man dem Text sein Alter natürlich an, der Stil hingegen ist zeitlos. Es sind Momentaufnahmen, Bruchstücke, die Agee über Brooklyn zusammenträgt. Ein Rausch von Einzelheiten und Winzigkeiten, der den Leser mitreißt, obwohl Ereignisse nur kurz sein Auge streifen: das Löschen von Schiffen am Hafen, vorbeiziehende Sattelschlepper, spielende Kinder im Park. Immer wieder ergeht sich Agee in der Beschreibung von Gebäuden, Straßenzügen, Stadtvierteln. In Brooklyn, heißt es einmal, "wohnt und lebt" man, mehr nicht - mal als Teil der gehobenen Mittelschicht mit ihren guten Schulen, mal verarmt in windschiefen Holzhütten am Rand der Halbinsel. Diesem zu seiner Zeit profanen Ort hat Agee ein fein ziseliertes Denkmal gesetzt.
"Bis zum Horizont dreistöckige gelbe Backsteinbauten mit ebenerdigen Läden für Wirkware und Verdauungsmittel - denn auch Brooklyns "Downtown" ist platt ausgerollt bis an jede Tür: und durch diese niedrigen Häuser und die beinahe stellaren Ausblicke des Avenuen eine unglaubliche Ausdehnung des Himmels und des flachen Horizonts und eine trotz des paradoxerweise erstickenden Gestanks großzügige Weite fast wie auf einer Ranch, eine Ruhe nicht nur der Lähmung, sondern auch der Stratosphäre; und so erstaunt es nicht, dass ein Flatbush-Gatte meint, die Luft hier draußen sei viel sauberer; ein guter Ort, um die Kinder großzuziehen." (S. 44)
Politischer Hintergrund
Trotz Agees sprunghaften, impressionistischen Duktus' kommt sowohl das soziale Gefälle zwischen einzelnen Ortsteilen Brooklyns wie auch der politische Hintergrund seiner Zeit zum Tragen: Als er in einem Fremdenzimmer im Viertel Flatbush an seinen Notizen arbeitet, schreibt man das Jahr 1939. An einer Stelle schildert Agee, wie er im Wagen eines jungen Journalisten eine Demonstration am Brooklyn College passiert.
"Und um etwas zu verstehen, wieder um das Spielfeld herum; in der Feldmitte stand eine dunkle Gruppe, aus der ein Sprecher mit einer Fahne etwas hervorstach, auf der anderen Seite eine weitere solche Gruppe (konnten sie Gegner sein?), und die Banner; und wieder am Spielfeldrand entlang, so nahe wir konnten, der schwere Motor träge schnurrend, der Fahrer vor Judenhass brabbelnd; (...) es war der Abend, ehe Hitler Roosevelt beschied, dass der Friede keine zehn Jahre Bestand haben würde." (S. 35/36)
Die späte Veröffentlichung seiner Brooklyn-Hommage im Jahr 1968 erlebte James Agee nicht mehr. Der Trinker und Kettenraucher war 13 Jahre zuvor mit nur 45 Jahren in einem New Yorker Taxi auf dem Weg zum Arzt an einem Herzinfarkt gestorben. Joseph Mitchell indes verbrachte die längste Zeit seines Reporterlebens bei der Zeitschrift New Yorker. Sein letzter Artikel erschien dort am 26. September 1964, Mitchell war 58. Obwohl er bis ins Alter von 87 Jahren so gut wie täglich in sein Büro kam, erschien sein Name erst 1996 wieder im New Yorker: in seinem Nachruf.
James Agee: "Brooklyn ist. Südöstlich der Insel. Reisenotizen", 10 Euro,
Joseph Mitchell: "New York Reporter. Aus der größten Stadt der Welt", 22,95 Euro,
Beide Bücher aus dem Englischen von Andrea Stumpf und Sven Koch, Diaphanes Verlag
Joseph Mitchell: "New York Reporter. Aus der größten Stadt der Welt", 22,95 Euro,
Beide Bücher aus dem Englischen von Andrea Stumpf und Sven Koch, Diaphanes Verlag