Bis heute scheinen die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs das Verhältnis zwischen Polen und Deutschen entscheidend zu bestimmen. Diesen Eindruck bestätigt Wlodzimierz Nowaks Reportagensammlung "Die Nacht von Wildenhagen". Immerhin fünf seiner zwölf Geschichten aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet beschäftigen sich mit der Zeit vor 1945. Da berichtet ein Deutscher über seinen Kampf in der polnischen Heimatarmee und ein Deutschbelgier über seine Teilnahme an der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes. Auch zwei Frauen kommen zu Wort, eine Deutsche und eine Polin, die als Kinder durch die Kriegswirren ins jeweils andere Land kamen.
Eines der ergreifendsten Geschehnisse schildert die titelgebende "Nacht von Wildenhagen". Aus Angst vor den nahenden Russen beschließen die in dem kleinen Ort verbliebenen Frauen, sich und ihre Kinder umzubringen. Auch die zehnjährige Adelheid muss ihrer Mutter und anderen auf einen Dachboden folgen, wo ihr die Mutter die Schlinge um den Hals legt und sich dann selbst erhängt. Adelheid, statt ihrem Beispiel zu folgen, wird von dem Anblick einer jungen Frau, Elsa, abgelenkt.
Sie schaukelte zwischen den Fenstern, der Kopf hing nach unten, die Schultern waren merkwürdig ausgebreitet. Mir kam in den Sinn, dort würde ein sterbender Engel hängen. Wie auf dem Bild vom Pastor. Ich konnte die Augen nicht abwenden, deshalb habe ich mich wahrscheinlich nicht aufgehängt. - Die Tür knarrte, die ersten Russen kamen auf den Dachboden. - Die Männer erkannten sofort, dass Elsa noch lebte. - Sie schnitten sie los und rannten mit ihr nach unten. Später habe ich erfahren, dass sie die Halbtote vergewaltigt haben.
Elsa starb weit entfernt vom Dorf. Nach dieser Nacht benahm sie sich so, als ob sie den Verstand verloren hätte; sie rannte von Hof zu Hof, in Richtung Boczόw. Dort starb sie auf dem Feld, hinter einem Haufen Steine, die die Bauern vom Acker aufgesammelt hatten.
So fasst Nowak, wie immer in sehr einfacher Sprache und bemerkenswert kühlem Erzählton, die weiteren tragischen Ereignisse zusammen. Mehr als ein Viertel der etwa 300 Bewohner von Wildenhagen gehen in den Tod. Nowak sieht sie eher als Opfer russenfeindlicher NS-Propaganda denn als Opfer der sowjetischen Armee selbst und kann ihr verzweifeltes Tun einfach nicht nachvollziehen.
Sie hatten also Angst; aber mussten sie sich aufhängen, die Kehlen durchschneiden und Kinder morden?
Es ist die einzige Reportage, in der Nowak so klar Stellung bezieht - ansonsten dominiert ein zumindest vordergründig neutraler Berichterstatter-Ton. Dass auch dieser zuweilen fragwürdig sein kann, zeigt die Geschichte "Kopfumfang". Hier berichtet Nowak unter anderem über Witaszek, einen Arzt und Wissenschaftler, der 1942 von den Deutschen hingerichtet wurde. Er hatte in Posen eine Abteilung der polnischen Untergrundbewegung geleitet.
Zu Witaszeks Gruppe gehörten Wissenschaftler, Ärzte, Laboranten und sogar Kellner. Letztere schütteten deutschen Offizieren eine Substanz in den Kaffee, die Witaszek entwickelt hatte. Sie zerstörte die Nieren, die Milz oder brachte die Herztätigkeit zum Stillstand. Die anfangs schwer nachweisbare Krankheit endete mit dem Tod, wenn sich das Opfer schon außerhalb Posens befand. Auf diese Weise wurden Todesurteile an Spitzeln, Gestapoleuten und deutschen Offizieren vollstreckt.
Das hätte man doch gerne genauer gewusst: Todesurteile? Von welchem Gericht, nach welchem Verfahren? Und warum schert er Soldaten ganz selbstverständlich mit Spitzeln und Gestapo über einen Kamm? - Indem Nowak hier einfach die Sprachregelung des polnischen Untergrundes übernimmt, macht er sich damit gemein.
Das wäre nicht zu beanstanden, wenn er sich nicht andererseits durch seinen distanzierten Erzählton permanent den Anschein von Neutralität geben würde. Seine eigene Haltung kommt also durch die Hintertür, was nicht allen, aber doch einigen der Reportagen einen merkwürdig tendenziösen Ton verleiht.
Neben den Geschehnissen aus der Kriegszeit schenkt Nowak dankenswerterweise auch neueren Entwicklungen im Grenzgebiet seine Aufmerksamkeit. Aus der Zeit, als Oder und Neiße noch EU-Außengrenzen waren, berichtet er über polnische Menschenschlepper an der Neiße ebenso, wie über einen Möchtegern-Bordellbetreiber oder polnische und deutsche Studenten in Frankfurt/Oder.
Die aktuellste Geschichte findet sich ganz am Schluss. "Zwei Minuten kontra drei" aus dem Jahr 2005 zeigt den Konkurrenzkampf zweier Opel-Werke, eines in Bochum, eines in Gliwice. Schlaglichtartig stellt Nowak die Äußerungen von Gewerkschaftern und Arbeitern aus Deutschland und Polen nebeneinander. Seine Reportage wie auch das ganze Buch enden mit dem hellsichtigen Resümee eines polnischen Deutschen.
Gewerkschafter aus Bochum: "Das ist Kapitalismus. Das ist Kapitalismus (klopft mit dem Finger auf den Tisch. Er war zehn Jahre alt, als er 1976 aus Polen nach Deutschland kam). Von Gliwice werden sie Opel in die Ukraine verlegen, dann hinter den Ural oder in die Mongolei. - Irgendwann wird diese Wanderung einen Kreis ziehen und Opel wird nach Bochum zurückkehren, weil hier genauso eine Armut herrschen wird wie jetzt in Polen."
Er lächelt.
"Das ist Kapitalismus."
Wlodzimierz Nowaks Reportagen scheint die eiserne Regel zugrunde zu liegen: Beginne eine Geschichte nie von vorn. So muss sich der Leser immer wieder durch ein rechtes Durcheinander von Einzelbildern arbeiten und dabei Zeitsprünge und assoziatives Erzählen in Kauf nehmen. Wer durchhält, wird am Ende allerdings immer mit einem vielschichtigen Gesamtbild belohnt.
Etwas abträglich bleibt Nowaks deutliche Parteinahme für seine polnischen Landsleute in nahezu jeder Lebenslage, gerade weil sie so unterschwellig daherkommt. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Reportagen sicher nicht mit Blick auf eine deutsche Leserschaft geschrieben worden sind. Und letztlich muss man mit der Erzählhaltung des Autors auch nicht unbedingt einverstanden sein, um seine Grenzlandgeschichten dennoch lesenswert und für das polnisch-deutsche Verhältnis aufschlussreich zu finden.
"Die Nacht von Wildenhagen - Zwölf deutsch-polnische Schicksale" von Wlodzimierz Nowak. 300 Seiten für 19 Euro 95, im Eichborn Verlag erschienen. Gelesen hat es für uns Sabine Weber
Eines der ergreifendsten Geschehnisse schildert die titelgebende "Nacht von Wildenhagen". Aus Angst vor den nahenden Russen beschließen die in dem kleinen Ort verbliebenen Frauen, sich und ihre Kinder umzubringen. Auch die zehnjährige Adelheid muss ihrer Mutter und anderen auf einen Dachboden folgen, wo ihr die Mutter die Schlinge um den Hals legt und sich dann selbst erhängt. Adelheid, statt ihrem Beispiel zu folgen, wird von dem Anblick einer jungen Frau, Elsa, abgelenkt.
Sie schaukelte zwischen den Fenstern, der Kopf hing nach unten, die Schultern waren merkwürdig ausgebreitet. Mir kam in den Sinn, dort würde ein sterbender Engel hängen. Wie auf dem Bild vom Pastor. Ich konnte die Augen nicht abwenden, deshalb habe ich mich wahrscheinlich nicht aufgehängt. - Die Tür knarrte, die ersten Russen kamen auf den Dachboden. - Die Männer erkannten sofort, dass Elsa noch lebte. - Sie schnitten sie los und rannten mit ihr nach unten. Später habe ich erfahren, dass sie die Halbtote vergewaltigt haben.
Elsa starb weit entfernt vom Dorf. Nach dieser Nacht benahm sie sich so, als ob sie den Verstand verloren hätte; sie rannte von Hof zu Hof, in Richtung Boczόw. Dort starb sie auf dem Feld, hinter einem Haufen Steine, die die Bauern vom Acker aufgesammelt hatten.
So fasst Nowak, wie immer in sehr einfacher Sprache und bemerkenswert kühlem Erzählton, die weiteren tragischen Ereignisse zusammen. Mehr als ein Viertel der etwa 300 Bewohner von Wildenhagen gehen in den Tod. Nowak sieht sie eher als Opfer russenfeindlicher NS-Propaganda denn als Opfer der sowjetischen Armee selbst und kann ihr verzweifeltes Tun einfach nicht nachvollziehen.
Sie hatten also Angst; aber mussten sie sich aufhängen, die Kehlen durchschneiden und Kinder morden?
Es ist die einzige Reportage, in der Nowak so klar Stellung bezieht - ansonsten dominiert ein zumindest vordergründig neutraler Berichterstatter-Ton. Dass auch dieser zuweilen fragwürdig sein kann, zeigt die Geschichte "Kopfumfang". Hier berichtet Nowak unter anderem über Witaszek, einen Arzt und Wissenschaftler, der 1942 von den Deutschen hingerichtet wurde. Er hatte in Posen eine Abteilung der polnischen Untergrundbewegung geleitet.
Zu Witaszeks Gruppe gehörten Wissenschaftler, Ärzte, Laboranten und sogar Kellner. Letztere schütteten deutschen Offizieren eine Substanz in den Kaffee, die Witaszek entwickelt hatte. Sie zerstörte die Nieren, die Milz oder brachte die Herztätigkeit zum Stillstand. Die anfangs schwer nachweisbare Krankheit endete mit dem Tod, wenn sich das Opfer schon außerhalb Posens befand. Auf diese Weise wurden Todesurteile an Spitzeln, Gestapoleuten und deutschen Offizieren vollstreckt.
Das hätte man doch gerne genauer gewusst: Todesurteile? Von welchem Gericht, nach welchem Verfahren? Und warum schert er Soldaten ganz selbstverständlich mit Spitzeln und Gestapo über einen Kamm? - Indem Nowak hier einfach die Sprachregelung des polnischen Untergrundes übernimmt, macht er sich damit gemein.
Das wäre nicht zu beanstanden, wenn er sich nicht andererseits durch seinen distanzierten Erzählton permanent den Anschein von Neutralität geben würde. Seine eigene Haltung kommt also durch die Hintertür, was nicht allen, aber doch einigen der Reportagen einen merkwürdig tendenziösen Ton verleiht.
Neben den Geschehnissen aus der Kriegszeit schenkt Nowak dankenswerterweise auch neueren Entwicklungen im Grenzgebiet seine Aufmerksamkeit. Aus der Zeit, als Oder und Neiße noch EU-Außengrenzen waren, berichtet er über polnische Menschenschlepper an der Neiße ebenso, wie über einen Möchtegern-Bordellbetreiber oder polnische und deutsche Studenten in Frankfurt/Oder.
Die aktuellste Geschichte findet sich ganz am Schluss. "Zwei Minuten kontra drei" aus dem Jahr 2005 zeigt den Konkurrenzkampf zweier Opel-Werke, eines in Bochum, eines in Gliwice. Schlaglichtartig stellt Nowak die Äußerungen von Gewerkschaftern und Arbeitern aus Deutschland und Polen nebeneinander. Seine Reportage wie auch das ganze Buch enden mit dem hellsichtigen Resümee eines polnischen Deutschen.
Gewerkschafter aus Bochum: "Das ist Kapitalismus. Das ist Kapitalismus (klopft mit dem Finger auf den Tisch. Er war zehn Jahre alt, als er 1976 aus Polen nach Deutschland kam). Von Gliwice werden sie Opel in die Ukraine verlegen, dann hinter den Ural oder in die Mongolei. - Irgendwann wird diese Wanderung einen Kreis ziehen und Opel wird nach Bochum zurückkehren, weil hier genauso eine Armut herrschen wird wie jetzt in Polen."
Er lächelt.
"Das ist Kapitalismus."
Wlodzimierz Nowaks Reportagen scheint die eiserne Regel zugrunde zu liegen: Beginne eine Geschichte nie von vorn. So muss sich der Leser immer wieder durch ein rechtes Durcheinander von Einzelbildern arbeiten und dabei Zeitsprünge und assoziatives Erzählen in Kauf nehmen. Wer durchhält, wird am Ende allerdings immer mit einem vielschichtigen Gesamtbild belohnt.
Etwas abträglich bleibt Nowaks deutliche Parteinahme für seine polnischen Landsleute in nahezu jeder Lebenslage, gerade weil sie so unterschwellig daherkommt. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Reportagen sicher nicht mit Blick auf eine deutsche Leserschaft geschrieben worden sind. Und letztlich muss man mit der Erzählhaltung des Autors auch nicht unbedingt einverstanden sein, um seine Grenzlandgeschichten dennoch lesenswert und für das polnisch-deutsche Verhältnis aufschlussreich zu finden.
"Die Nacht von Wildenhagen - Zwölf deutsch-polnische Schicksale" von Wlodzimierz Nowak. 300 Seiten für 19 Euro 95, im Eichborn Verlag erschienen. Gelesen hat es für uns Sabine Weber