Sarah Zerback: In Untersuchungshaft zu sitzen in einem Land, das nicht das eigene ist, und nicht zu wissen, wie lange oder wofür eigentlich genau, so geht es zahlreichen Journalisten in der Türkei, denen die dortige Justiz Propaganda und Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorwirft. Darunter auch den Deutschen Deniz Yücel und Mesale Tolu. Während der "Welt"-Journalist Yücel noch immer keine Anklageschrift bekommen hat, ist die türkische Justiz im Fall der Journalistin und Übersetzerin Tolu zumindest schon einen Schritt weiter. Nach fünf Monaten im Hochsicherheitsgefängnis in der Nähe von Istanbul beginnt heute der Prozess gegen sie im Gerichtsgebäude direkt nebenan.
Wie es um die Pressefreiheit in der Türkei bestellt ist, das beobachtet die Organisation "Reporter ohne Grenzen" ganz genau. Aktuell liegt das Land auf der weltweiten Rangliste ganz weit hinten: auf Platz 155 von 180. Am Telefon begrüße ich jetzt den Geschäftsführer der Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr. Guten Morgen!
Christian Mihr: Guten Morgen.
Zerback: Herr Mihr, Sie wollten ja eigentlich heute beim Prozessauftakt in Istanbul dabei sein, haben sich aber kurzfristig jetzt dagegen entschieden. Warum?
Mihr: In erster Linie, weil sich die Sicherheitseinschätzungen für mich als Deutscher aus Sicht von Reporter ohne Grenzen nach der Strafmaßforderung der türkischen Staatsanwaltschaft für Steudtner verändert hat. Wir sind uns eigentlich im Moment nicht sicher, ob wir das als einen Fortschritt, eine Deeskalation in den deutsch-türkischen Beziehungen oder eine weitere Eskalation begreifen. Und solange wir das nicht wissen, war die Sicherheitseinschätzung für uns nicht so ganz klar. Aber wir sind trotzdem als Reporter ohne Grenzen im Gerichtssaal präsent, weil unsere türkischen Kollegen für Reporter ohne Grenzen den Prozess beobachten werden.
Zerback: Sie haben jetzt den Fall Peter Steudtner angesprochen, den Menschenrechtsaktivisten. Was muss denn ein Journalist in der Türkei eigentlich tun, um verhaftet zu werden?
Mihr: In erster Linie muss er über Dinge berichten, die der aktuellen türkischen Regierung missfallen, und das können mehrere Dinge sein. Das kann berichten über den Kurden-Konflikt, das kann berichten über Verwicklungen, Korruption von AKP-Politikern oder Präsident Erdogan selber, und das kann die Tätigkeit sein für eine Nachrichtenagentur oder ein Medium, die einer bestimmten politischen Richtung zugeordnet wird, die aus Sicht von der aktuellen AKP-Regierung feindlich ist.
"Von Terrorismus kann keine Rede sein"
Zerback: Wie lässt sich nun Ihrer Meinung nach zumal aus der Ferne beurteilen, wann das eine reine Berichterstattung ist und wann da die Grenze überschritten ist und tatsächlich – und auch solche Fälle gibt es ja – da eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorliegt? Wie leicht oder schwer ist das rauszufinden?
Mihr: Ich denke, von einer Mitgliedschaft in einer Terrororganisation können wir in keinem der 170 Fälle, die wir an inhaftierten Journalisten zählen, rechnen. Zweifelsohne gibt es vielleicht an der einen Stelle eine politische Haltung, die zugrunde liegt, aber eine politische Haltung ist kein Terrorismus. Das können wir ganz klar sagen. In 170 Fällen, die wir kennen, ist nicht von Terrorismus die Rede. Das ist eigentlich die Standardkeule gegen Journalistinnen und Journalisten, die rausgeholt wird in der Türkei und die dazu führt, dass so viele Journalisten in Haft sitzen.
Zerback: Da ist man sich sehr einig auch in Deutschland, dass da eine politische Geiselnahme vorliegt. Das haben Sie so formuliert. Das hat aber unter anderem auch die Bundesregierung so formuliert. Wie können Sie sich denn, noch mal gefragt, so sicher sein, dass an den Vorwürfen tatsächlich nichts dran ist, einfach um das zu verstehen?
Mihr: Na ja. Wir als Reporter ohne Grenzen sind ja vor Ort und wir versuchen, die Anklageschriften zu lesen. Wir sind ja nicht nur, dass wir aus der Ferne in Berlin oder in Köln einfach, sage ich mal, den Daumen rauf oder runterheben. Wir schauen uns schon die Anklageschriften sehr genau an und wir kennen das durch unsere langjährige Präsenz vor Ort. Erol Önderoglu, unser Mitarbeiter vor Ort, der Tag und Nacht für uns arbeitet, seit dem Putschversuch im vergangenen Jahr sehr viel mehr macht. Wir versuchen, die Fälle zu begreifen, und kennen ja auch die Journalistinnen und Journalisten vor Ort, und in der Kenntnis der lokalen Situation kommen wir zu diesen Einschätzungen.
"Es gibt in der Türkei weiterhin unabhängigen Medien"
Zerback: Und wie ist Ihre Einschätzung? Können die Journalisten in der Türkei unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch ihren Job machen?
Mihr: Das können noch viele und ich glaube, wir sollten niemand, der die Pressefreiheit bekämpfen möchte in der Türkei, den Gefallen tun, die Pressefreiheit für tot zu erklären, denn es gibt in der Türkei weiterhin unabhängige Medien und Journalistinnen und Journalisten, die an die Pressefreiheit glauben. Es gibt Zeitungen wie Cumhuriyet, es gibt Nachrichtenagenturen und ich glaube, natürlich gehört es in jeder Redaktion mittlerweile zum traurigen Bild, dass es leere Schreibtische gibt, die Journalisten gehören, die in Haft sitzen mittlerweile. Aber trotzdem gibt es Medien und Journalisten, die weiter Pressefreiheit leben, und denen müssen wir, glaube ich, und sollten wir den Rücken stärken, und das versuchen wir als Reporter ohne Grenzen.
"Leute werden ins Exil gezwungen"
Zerback: Da gibt es ja viele, die geschlossen wurden. Das sind die extremen Fälle. Da ist von über 150 Medien die Rede. Die sind ja von der türkischen Regierung geschlossen worden. Ebenso viele Journalisten sitzen in Haft. Davon mal abgesehen: Der Druck der Regierung in der Türkei auf die Medien, wie läuft der konkret ab?
Mihr: Der läuft auf verschiedenen Ebenen ab. Zum einen natürlich, indem Leute inhaftiert werden, und das führt zu Angst, eventuell auch zu Selbstzensur, weil man nicht weiß, wo die aktuell roten Linien der Berichterstattung sind, bis wohin ich als Journalist gehen kann. Zum zweiten auch die Schließung von Medien. Das heißt, das ist ein Damoklesschwert, das über jedem schwebt. Und drittens, dass natürlich Leute ins Exil gezwungen werden. Wir haben ganz viele türkische Journalisten, die mittlerweile vor allen Dingen in Deutschland, ganz besonders in Köln und Berlin im Exil leben, und Reporter ohne Grenzen versucht, im Rahmen unserer Nothilfe diese zu unterstützen, dass die hier weiterarbeiten können. Denn es gibt durchaus eine recht lebendige Exil-Medienlandschaft, eine türkische Exil-Medienlandschaft in Deutschland.
Zerback: Sie beschreiben das ja auch in der Türkei. Da sei die Pressefreiheit nicht tot, haben Sie gesagt. Welchen Stellenwert hat denn die Pressefreiheit im Land? Was ist sie auch den Bürgern wert?
Mihr: Ich glaube, es gibt immer noch sehr viele Menschen, denen die Pressefreiheit sehr viel wert ist. Wir haben ja bei dem Referendum im April im Prinzip die Hälfte der Türkinnen und Türken erlebt, die gegen die Verfassungsänderung gestimmt haben, und das sind, denke ich, die Menschen, denen die Pressefreiheit letztlich auch am Ende am Herzen liegt. Das sehen wir ja bei vielen Solidaritätskundgebungen vor Ort in der Türkei auch. Deswegen ist da doch eine hohe Nachfrage auch nach Pressefreiheit.
Außerdem wissen wir ja auch von Enthüllungen, die in unabhängigen Medien geschehen, die am Ende zu Verwicklungen führen, die zur Aufdeckung führen. Auch die Berichterstattung über die E-Mails, die ja auch Deniz Yücel zum Verhängnis geworden sind, in denen es letztlich um Korruption des Sohns von Erdogan unter anderem ging, die haben ja am Ende zu politischen Konsequenzen geführt, und das soll Journalismus ja im besten Fall machen. Da ist es natürlich nicht gut, wenn eine Konsequenz ist, dass Journalisten inhaftiert werden. Aber das zeigt, dass Pressefreiheit wirkt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.