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Reproduktionsmedizin
Auswirkungen auf die Gesellschaft

Welche Auswirkungen haben moderne Reproduktionstechnologien auf die Struktur von Familien oder die unserer Gesellschaft? Damit setzt sich der Journalist und Wissenschaftler Andreas Bernard in seinem neusten Buch auseinander: "Kinder machen. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie."

Von Monika Dittrich |
    Für ein Foto liegen viele Babys zusammen auf der Neugeborenenstation im Krankenhaus St. Elisabeth und St. Barbara in Halle in ihren Bettchen, aufgenommen am 05.01.2011.
    "Kinder machen" - Das neue Buch von Andreas Bernard (picture alliance / dpa / Waltraud Grubitzsch)
    Der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard hat seine Habilitationsschrift vorgelegt. Glücklicherweise ist er auch Journalist, nämlich Redakteur beim Magazin der Süddeutschen Zeitung - und er schreibt brillant. So ist aus diesem wissenschaftlichen Buch keine komplizierte Abhandlung geworden, sondern eine fesselnde Mischung aus Gesellschaftsreportage und Medizingeschichte.
    Buchzitat: "Der Ursprung menschlichen Lebens: Jahrtausendelang galt er als ein göttliches Mysterium, ein unbeeinflussbarer Naturvorgang. In den ICSI-Labors der Gegenwart ist die Imitation dieses Vorgangs außerhalb des weiblichen Körpers längst Routine geworden."
    Autor Andreas Bernard: "Mein Anfangsinteresse war eigentlich zu schauen, wie geht eine Gesellschaft, wie geht eine Kultur damit um, dass immer mehr Familien auf einem Weg entstehen, durch Samenspende oder Eizellspenderinnen, die dieses Fundament, auf dem unsere Gesellschaft, das auf Blutsverwandtschaft basiert, in Frage stellen."
    Andreas Bernard schildert, wie sich Generationen von Forschern an die Erkenntnisse rund um Befruchtung und Zeugung herangetastet haben – bis endlich nachgewiesen war, dass erst durch die Verschmelzung von zwei Zellen, der männlichen und der weiblichen, neues Leben entsteht. Diese wissenschaftshistorische Darstellung verknüpft der Autor mit Nahaufnahmen aus dem reproduktionsmedizinischen Alltag. Er erzählt die Geschichten der unfruchtbaren oder homosexuellen Paare, die sich nichts sehnlicher wünschen, als ein Kind. Und er besucht die Spezialkliniken, wo sich Männer, die Väter werden wollen, in einem "Masturbationsensemble" wiederfinden, wie er schreibt:
    "Es ruft in Erinnerung, dass auch der leidenschaftslosesten, maschinellsten Gewinnung des männlichen Ejakulats so etwas wie Erregung des Mannes vorangehen muss. Bemerkenswert ist dabei, dass es allein im Spenderraum einer Fortpflanzungsklinik noch um Sex geht."
    Von technischen Aspekten und einem Wandel der Gesellschaft
    Bernard beleuchtet alle Aspekte der künstlichen Zeugung – von der Insemination über die In-Vitro-Befruchtung in der Petrischale bis hin zur ICSI-Methode, also dem Einspritzen eines Spermiums in die Eizelle:
    "Wer einmal im ICSI-Labor die fast brutale Durchstechung einer Eizelle mitverfolgt hat, könnte auf die Idee kommen, die besondere Zeugungsweise würde diesem Menschen eine Art Existenzprogramm inskribieren; ein Leben lang trügen seine Empfindungen, Gedanken und Handlungen das Mal des erzwungenen Anfangs. Aber das ist nicht wahr. Das Leben verhält sich indifferent zu den Umständen seiner Entstehung", heißt es im Buch.
    Bernards Untersuchungen zeigen einen Wandel der gesellschaftlichen Haltung: War früher despektierlich von Retortenbabys die Rede, so sind das heute Wunschkinder. Die Bedenken haben nachgelassen, die Angst vor der Zeugung im Labor hat sich als unberechtigt erwiesen – es kamen keine Monster zur Welt. Und Äußerungen wie die der Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff, die künstliche Befruchtung vor kurzem als widerwärtig bezeichnete, sind nur noch Ausnahmen. Assistierte Empfängnis ist in vielen Ländern normal geworden. - Eine Stärke dieses Buches sind die aufmerksamen Beobachtungen, zum Beispiel wenn der Autor beschreibt, wie amerikanische Samenbänke ihre Spender mit geradezu aberwitzigen Superlativen anpreisen. Ebenso eindrücklich schildert er die Begegnung mit einem anonymen Samenspender in Deutschland:
    "Hier sitzt ein 22-Jähriger, mit kaum verheilter Akne und Flaum am Kinn; biologisch ist er überdurchschnittlich fortpflanzungsfähig, aber gleichzeitig ist es kaum möglich, sich ihn in der Rolle eines Vaters vorzustellen."
    Die Samenspende ist erlaubt, die Eizellenspende nicht
    Andreas Bernard berichtet auch von den orientierungslosen Spenderkindern, die ihr Leben lang auf der Suche nach ihren genetischen Wurzeln sind – vor allem, weil die Anonymität der Spender bis heute zu den goldenen Regeln der Reproduktionsmedizin gehört. Das wird und muss sich künftig ändern, ist Bernard überzeugt. Unverständlich findet er auch, dass die Samenspende hierzulande erlaubt ist, die Eizellenspende aber nicht. Viele Paare fahren für diese Prozedur ins Ausland. In der Ukraine trifft Bernard Leih- und Tragemütter – Frauen also, die Kinder für andere Paare zur Welt bringen. Der Autor räumt auch mit dem Vorurteil auf, assistierte Empfängnis sei ein düsteres Erbe der Nationalsozialisten. Im Gegenteil: Künstliche Befruchtung, damals also die Samenspende, widersprach der nationalsozialistischen Vorstellung von Natürlichkeit und war deshalb verpönt. Kritisch beurteilt Andreas Bernard ein neueres Phänomen, das er als "Diktat der Fruchtbarkeit" bezeichnet.
    Buchzitat: "Das Leiden an der Kinderlosigkeit ist so alt wie die Menschheit, zweifellos, aber seitdem die Reproduktionsmedizin den sterilen Paaren Hilfe zugesagt hat, ist es unmöglich geworden, dieses Verhängnis hinzunehmen."
    Andreas Bernard: "Der Kinderwunsch, könnte man sagen, ist beinahe ein Symptom, den die Reproduktionsmedizin hervorgebracht hat, weil den Paaren eben gesagt wird, in so einer Dieter-Bohlen- oder Heidi-Klum-mäßigen Casting-Rhetorik: Du kannst das schaffen, du musst nur hart an dir arbeiten, du musst bereit sein, alles zu tun. Und diese Art von Leistungsrhetorik, die hat sozusagen einen Imperativ des Kinderkriegens in die Welt gesetzt, der viele Paare in Verzweiflung stürzt."
    Ein parteiloser Autor
    Für den Leser ist es ein Gewinn, dass Andreas Bernard in der hochideologischen Debatte über Reproduktionsmedizin keine Partei ergreift. Er gehört nicht zu denjenigen, die in der künstlichen Zeugung entweder Fluch oder Segen sehen wollen. Der Schluss, den der Kulturwissenschaftler für die klassische Kernfamilie zieht, klingt allerdings durchaus optimistisch.
    Er glaubt, "dass all diese Familien, die durch Samenspende oder künstliche Befruchtung oder Eizellspenderinnen entstehen, keineswegs die Familie ad absurdum führen, sondern dass es keine anderen Familienkonstellationen im 21. Jahrhundert gibt, die dieses alte Modell von bürgerlicher Familie mit so einer Ritualtreue durchexerzieren."
    Andreas Bernard zeigt in seinem lesenswerten Buch: Anders als von den Bedenkenträgern immer wieder vorgetragen, sind es ausgerechnet die Reproduktionstechnologien, die das scheinbar altmodische Modell der Familie wiederbeleben.