"Guten Tag." Karl F. ist in seinem bisher fast 64 Jahre langen Leben schon mehrfach mutig gewesen, zuletzt heute, am Tag dieses Treffens in einer Kneipe in der Kölner Innenstadt.
"Ich weiß nicht, ob ich das möchte", sagt er direkt zu Beginn des Gesprächs und zeigt auf das Mikrofon. Er habe tagelang mit sich gerungen, ob er über seine Geschichte reden solle, über die dramatischen Stunden im Frühjahr 1982, die sein Leben für immer veränderten. "Das Schlimmste ist, dass ich oft nachts wach werde und weiß nicht, wo ich bin. Du bist noch im Osten, im Zuchthaus."
Er werde versuchen, darüber zu sprechen, sagt er letztlich – nur sein richtiger Name soll bitte nicht im Radio genannt werden. Aber vielleicht helfe es ja anderen, die Ähnliches erlebt hätten. Das würde ihn freuen.
Karl F. hat die Schattenseiten des sozialistischen DDR-Regimes schon als Schulkind in den 60er Jahren in Thüringen gespürt. Weil er Verwandtschaft im Westen hatte, sei er getriezt, "also auch schikaniert worden"
Als junger Erwachsener wurde ihm klar: Ich muss hier raus. Zusammen mit einem befreundeten Pärchen fuhr Karl F. deshalb im April 1982 – wenige Tage vor seinem 27. Geburtstag – in die Tschechoslowakei. Im Hochböhmerwald wollte das Trio über die grüne Grenze nach Bayern fliehen. "Es hieß, Tschechen schießen nicht."
Es war kalt, als die drei jungen DDR-Bürger den Ort erreichten, von dem aus sie losgehen wollten. Im Wald lag Schnee, es dämmerte. "Wir haben dann Hunde gehört. Und dann haben wir ausgemacht, jeder auf eigene Gefahr. Ich bin über Gräben gesprungen, über die konnte ich eigentlich nie springen, und wieder raus. Und dann muss ich schon auf der Westseite gewesen sein, weil die haben über mich weg geschossen, in den Schnee."
Es habe keine Rufe, keine Warnung gegeben, nur die Schüsse – plötzlich. Und dann dieser Schmerz, im rechten Bein. "Das war ein Geschoss, was in Fleisch explodiert. Was alles zerfetzt."
Blutend und voller Schmerz lag Karl F. eine gefühlte Ewigkeit im Schnee, bis ihn die tschechoslowakischen Grenz-Soldaten erreichten. "Die haben mich im Schnee getragen, Augen verbunden. Und dann haben die mich in eine Baracke gesetzt, und da habe ich erstmal von dem Hauptmann eins…die haben mich noch geschlagen. Und das hat nur geblutet, alles geblutet."
Wie er später erfuhr, waren seine Freunde schon vor ihm gefasst worden – unverletzt.
Karl F. kam in ein tschechoslowakisches Militärkrankenhaus und wurde dann den DDR-Behörden übergeben. Die stellten ihn vor Gericht. 26 Monate verbrachte Karl F. wegen der versuchten Flucht in wechselnden Gefängnissen. "Da kann man nicht mehr denken. Man ist im falschen Film. Das kann man nicht erklären, ja?"
4.800 Euro für einen gelähmten Fuß
Seine Beinverletzung ist während dieser Zeit nie richtig behandelt worden. Erst Jahre später, nachdem er 1987 in den Westen ausreisen durfte, bekam er die volle medizinische Diagnose: Peroneus-Nerv durchtrennt. Dauerhafte Lähmung der Fuß- und Zehenmuskulatur. Karl F. kann heute nur dank einer speziellen Schiene laufen. Der gelernte Papiermacher und Handelskaufmann hatte Glück, dass er in Köln einen Job als Sacharbeiter in einer Verwaltung fand – und im Beruf hauptsächlich sitzen konnte. Vor kurzem erst ist er in Rente gegangen.
Für seine Verletzung hat der heute 63-Jährige jetzt – fast 37 Jahre nach den Geschehnissen im Hochböhmerwald – von einem tschechischen Gericht eine Entschädigung zugesprochen bekommen: etwa 4.800 Euro, wie sein tschechischer Anwalt Lubomir Müller erklärt. "Zuerst mussten wir seine Rehabilitierung erreichen, denn Flüchtlinge waren ja als Straftäter registriert. Danach konnte er vom Justizministerium eine Entschädigung zugesprochen bekommen."
Rechtsanwalt Müller arbeitet mit der Prager Stiftung "European Memory and Conscience" zusammen, die sich 2017 in einem Aufruf an ehemalige DDR-Bürger gewandt hatte, die bei einem Fluchtversuch über die Tschechoslowakei verletzt oder festgenommen worden waren. Die damalige Präsidentin der Stiftung, Neela Winkelmann, erklärte Ende 2017 im deutschsprachigen Radio Praha:
"Wir wissen, dass es sich um tausende Personen handelt, die diesen Versuch unternommen haben. Wir wollen versuchen, eine Rehabilitierung der Betroffenen zu erwirken. Wir möchten also diese Unrechtstaten des alten Regimes von den gegenwärtigen tschechischen und slowakischen Gerichten offiziell als Unrecht erklären lassen."
Dieser Aufruf und die seitdem ergangenen Urteile – laut Rechtsanwalt Müller sind es zwar kaum mehr als fünf – aber zeigen laut dem CSU-Politiker und Bundesvorsitzenden der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Bernd Posselt, den Wandel, den Tschechien gerade durchläuft.
"Ich werte das als ein positives Zeichen, dass die tschechische Justiz sich immer weiter hin zu einer unabhängigen Kraft im Staat entwickelt und dass auch dort ein Generationenwechsel stattfindet."
Tatsächlich hatte Karl F. schon wenige Jahre nach der Wende in der Tschechoslowakei einen Antrag auf Rehabilitierung und Entschädigung gestellt, aber: "Da kam ein Schreiben zurück: Ist verjährt."
Erst jetzt, fast 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, hatte er mit seinem neuen Antrag Erfolg. Zwar fällt mit rund 4.800 Euro die Entschädigungssumme für eine lebenslange Behinderung recht gering aus. Aber um die Höhe der Entschädigung gehe es hier nicht, erklärt Neela Winkelmann. "Es ist eine eher symbolische Summe, aber immerhin durch jeden einzelnen dieser Rechtsakte erkennt der heutige demokratische Staat an, dass Unrecht getan wurde."
Das gibt auch Karl F. so etwas wie ein Gefühl der Genugtuung.
"Es ist quasi ein Abschluss, Schlussstrich."