John Neumeiers jüngstes Ballett beginnt im Kino. Eleonora Duse, die große italienische Diva des 19. Jahrhunderts, schaut sich ihren eigenen Film an. Erinnerungen werden wach und vermischen die Szenen. Publikumstribüne und verschiedene Bühnen fahren raus und rein. Ihr jugendlicher Geliebter Luciano wird zum Romeo und zum Armand ihrer Kameliendame. Alexandr Trusch trägt dazu das Originalkostüm aus Neumeiers "Romeo". Der Dichter Gabriele d'Annunzio hechtet in Gestalt Karen Azatyans bäuchlings zu ihren Füßen.
Während er sie verführt, posiert er nackt im Blitzlichtgewitter der Presse. Berechnung mag in dieser Beziehung liegen, und doch auch Lust, wenn man sieht, wie er eine rote Rose in Zeitlupentempo aus seinem Schoß wachsen lässt. Oder wie sie kopfüber über seine Schultern rutscht.
Und doch ist wenig Freude in diesem Leben. Nach vollbrachtem Akt schenkt d'Annunzio seine Rose der anderen Schauspielkönigin Sarah Bernhardt. Und die Duse eilt ans Krankenbett ihres Geliebten Luciano. Vornüber fällt er auf sie, hintenüber in die Arme eines Freundes, dann ist er tot. Seine weißen Rosen waren Blumen des Todes.
Mit Arrigo Boito, dem väterlichen Geliebten, teilt Eleonora Duse die Brille und lernt so seine Bücher kennen. Karsten Jung ist hier mal der stille Mann in Schwarz. Die Duse zieht derweil in verschiedenen Starrollen durch die Welt, doch auch der Publikumserfolg beschert ihr keine Glücksgefühle. Am Ende kauert sie unter dem Regenschirm und stirbt. Ihre Liebhaber tragen sie im Leichenzug davon, parallel zum Film ihrer Überführung, der nun im Kino läuft.
Es ist Alessandra Ferri als Duse, die Neumeiers dramaturgisch assoziationsreich verknüpfte "choreografische Fantasien", wie er sein Stück nennt, kraft ihrer Persönlichkeit zusammenhält. Den zarten Körper oft spannungsvoll hintüber gebeugt, selten auf Spitze, immer wieder die Beine breit gespreizt, aber nachdenklich die Finger am Mund, so zeichnet Ferri mit voller Leidenschaft das Porträt dieser auf emotionalen Ausdruck, nicht auf Pose bedachten Schauspielerin.
Ähnlich wie bei seinen biografischen Balletten über Nijinsky oder Alma Mahler zielt Neumeier über die historische Gestalt und die Namen ihrer prominenten Beziehungen hinaus auf eine grundsätzlichere Lesart, etwa die von d'Annunzio als den Verführer schlechthin. Das unterstützen die expressiven, nicht klassisch ästhetisierten Bewegungen, während die Musik Benjamin Brittens, namentlich aus seiner Sinfonia da Requiem, Angst, Trauer und Melancholie von Duses frühem 20. Jahrhundert einfängt.
Da ist jede Hektik fern. Sekundenlang darf Ferri ihre Bewegungen rauszögern, oft liegt allein darin schon die emotionale Bannkraft.
Dass Neumeier seinem Biopic nach der Pause noch eine abstrakte Fassung nachschickt, ist weniger schlüssig. Er nutzt dafür sein bereits bestehendes Ballett auf Arvo Pärts "Fratres", das er Ferri, ihren drei Liebhabern und Marc Jubete als das Publikum anvertraut. Sie tanzen das fantastisch, aber die Duse gleich einer Maria zu mystifizieren, ist doch wohl zu dick aufgetragen. Immerhin verschmelzen die Herren hier ineinandergefügt wie zu einer Figur, erheben die Frau über sich und halten sie stets in der Schwebe, ja unterlegen ihre Füße mit Händen, dass sie nur nicht den Boden berühre.
Aber ein Engel war die Duse sicher nicht. Das Stück sollte Neumeier einem sakralen Abend vorbehalten. Der erste Teil ist auch so mystisch und düster genug, zu gleichartig düster womöglich für einige, die am Ende Buhs in die Bravos mischten. Aber Leidenschaft auf die Gefahr des Unglücklichseins hin gehört vielleicht zum stärksten Vermächtnis der Duse und macht aus diesem Requiem für eine Schauspielerin in unserer Spaßgesellschaft doch auch ein mutiges Stück.