Ein grauer, nasskalter Dezembertag – die Menschen hetzen zur U-Bahn im Warschauer Zentrum. Nur wenige beachten die kleine Frau mitten im Trubel. Agnieszka Sylwestrzak drängt niemandem ihre Flugzettel auf. Man merkt, dass sie das zum ersten Mal macht.
"Sie wollen das Verfassungsgericht für sich haben. So haben viele schlimme Regime ihren Anfang genommen. Wer in Geschichtsbüchern nachliest, wie bestimmte Diktaturen entstanden sind, der ist heute sehr beunruhigt. Die Regierenden missachten die Verfassung. Und ich habe - wie viele andere auch – gespürt, dass ich etwas unternehmen muss."
Viereinhalb Jahre ist das her. Gemessen an dem, was sich seitdem in Polen getan hat, eine kleine Ewigkeit.
"Überzeugt, dass wir etwas bewegen können"
Aber Agnieszka Sylwestrzak, heute 53 Jahre alt, erinnert sich noch gut an die Anfänge, an das sogenannte "Komitee zur Verteidigung der Demokratie", kurz KOD. Sie streift durch ihre kurzgeschnittenen roten Haare und blickt über einen Weiher, in einem Park in der Warschauer Vorstadt.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Polen - Umstrittene Justizreformen.
Erst seit zwei Wochen dürfen die Polen überhaupt wieder in Parks spazieren, wochenlang war das wegen Corona verboten. Agnieszka Sylwestrzak ist eine vorsichtige Frau, sie bleibt auf anderthalb Meter Abstand.
"Mir kommt es so vor, als hätte ich in diesen knapp fünf Jahren ein ganzes Leben gelebt. Wir waren zunächst so voller Euphorie, dass wir so viele sind. Wir waren überzeugt, dass wir etwas bewegen können. Aber dann hat sich gezeigt, dass die Regierung das überhaupt nicht interessiert. Dass sie wie eine Dampfwalze weiter rollt. Es hat sehr viel Kraft gekostet, das wenigstens ein bisschen abzubremsen."
Die Wucht von Zigtausenden
Agnieszka Sylwestrzak ist Informatikerin. Sie hat keine Kinder, und auch ihr Mann, ein Mathematiker, arbeitet – nur deshalb habe sie dem Protest überhaupt so viel Zeit widmen können, sagt sie.
Damals, beim Flugblätter-Verteilen im Warschauer Zentrum, hatte sie nur eine Handvoll Mitstreiter. Kaum zwei Wochen später, kurz vor Weihnachten 2015, waren es schon Zigtausende. Und im Jahr darauf, im Mai, kamen deutlich über 100.000 - die größte Demonstration in Polen seit der demokratischen Wende. Von einer solchen Wucht kritischer Stimmen können PiS-Gegner heute nur träumen.
"Die verschiedenen Wortführer haben sich zerstritten. So ist das, wenn jeder Recht haben will. Das Komitee zur Verteidigung der Demokratie ist in verschiedene Gruppen zerfallen. Die gibt es zwar noch und sie sind auch aktiv. Aber die Masse der Menschen hat die Lust verloren, auch durch eine Affäre an seiner Spitze."
Von der Politik enttäuscht
Nicht weniger enttäuscht waren die Aktivisten von der Opposition im Parlament. Viele setzten zunächst ihre Hoffnung auf eine damals neue Partei, "Die Moderne" hieß sie. Doch ausgerechnet, als die Protestierenden im tiefen Winter vor dem Parlament ausharrten, flog deren damaliger Vorsitzender in den Urlaub. In sozialen Netzwerken verbreitete sich sein Selfie aus dem Flugzeug.
"Ich habe nie viel von Politikern gehalten. Aber das, was ich den vergangenen Jahren gesehen habe, hat mich über alle Maßen enttäuscht. Das sind Leute, denen es vor allem um sich selbst geht. Ich rege mich darüber aber gar nicht mehr auf. Es ist schlicht unmöglich, sich so lange aufzuregen."
Persönlich betroffen
Aber noch etwas anderes hat die Proteste über die Jahre verebben lassen. Die PiS-Gegner seien einfach müde geworden, gibt Agnieszka Sylwestrzak zu. Sie protestierten – und die Regierungspartei PiS gewann trotzdem eine Wahl nach der anderen.
"Wir Aktivisten hatten kaum Zeit, uns auszuruhen. Keine Zeit, um uns mit Freunden zu treffen, zu quatschen und zu lachen. Ich war nicht einmal im Urlaub, seit die PiS an der Regierung ist. Manche von uns haben ihre Arbeit verloren, weil sie die zu sehr vernachlässigt haben."
Die Justizreform betrifft Agnieszka Sylwestrzak auch persönlich, wie viele Polen. Sie habe nämlich, anders als von der Regierung versprochen, die Gerichte keineswegs effektiver gemacht:
"Die Eigentümergemeinschaft unserer Wohnanlage führt einige Prozesse. Unter anderem gegen Wohnungseigentümer, die ihre Nebenkosten nicht zahlen. Eines der Verfahren läuft schon seit drei Jahren in erster Instanz. Da kann man getrost sagen, dass die Gerichte nicht mehr funktionieren."
Kleine Erfolge
Trotz aller Enttäuschung: Die Protestbewegung sei nicht nutzlos gewesen. Die Informatikerin ist überzeugt: Ohne sie hätte die PiS das Land noch schneller und noch radikaler umgekrempelt. Ohne sie wäre auch der internationale Protest, der Widerstand der EU-Kommission, viel kleiner ausgefallen.
"Wir haben da zum Beispiel die ‚Mädchen für Mädchen‘, die Frauenbewegung, die ein schärferes Abtreibungsrecht verhindert hat. Die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs Malgorzata Gersdorf wurde nicht vorzeitig aus dem Amt gedrängt. Wir haben den Richtern eigentlich erst klar gemacht, dass sie sich dieser Dampfwalze entgegenstellen müssen."
Inzwischen sind allerdings auch die Tage von Malgorzata Gersdorf am Obersten Gerichtshof gezählt, sie ist ordnungsgemäß in den Ruhestand gegangen. Die PiS wird nun versuchen, einen ihr genehmen Richter an ihre Stelle zu bringen. Damit dürfte der Einfluss der Regierung auf die Gerichtsbarkeit weiterwachsen – und der Spielraum für Protest noch kleiner werden.