Archiv


Resignierte Rückschau

Eduard Goldstücker hat als slowakischer Jude und mitteleuropäischer Intellektueller die Schrecken des 20. Jahrhunderts durchlebt. Nach der Samtenen Revolution in seiner Heimat wurde er auch von der neuen politischen Führung nicht in der Form beachtet, wie er sich das wünschte.

Von Niels Beintker |
    Unter einer Emigration stellt man sich eigentlich etwas anderes vor. Die Rettung vor Verfolgung und Tod, verbunden mit der keineswegs einfachen Erfahrung, plötzlich und wider Willen in der Fremde leben zu müssen. Nicht aber die Existenz in einer kargen, düsteren Zelle in einem Prager Gefängnis. Oder die Strafarbeit in einem slowakischen Uranbergwerk, die so hart ist, dass sich der Verurteilte nach zwei Monaten nur noch auf allen Vieren bewegen kann. Trotzdem nannte der aus der Slowakei stammende Germanist und Diplomat Eduard Goldstücker seine Haft eine Emigration.

    Man wird aus dem Leben herausgerissen, lebt weiter aufgrund eines fremden Willens, man lebt nicht dort, wo man leben möchte. Sie wollen in Prag leben, aber man bringt sie weg aus Prag und schickt sie in die Uranbergwerke. Das ist doch Emigration. Eine sehr harte Abart der Emigration.

    Sie begann am 12. Dezember 1951 in Prag. Eduard Goldstücker, zuvor Botschaftsrat und Gesandter in Paris, London und Tel Aviv, wurde verhaftet und in ein Untersuchungsgefängnis gebracht. Der Vorwurf: Der Diplomat sei Anführer einer verbrecherischen Spionagegruppe und des Hochverrats schuldig. Wenige Tage vor ihm hatte die Geheimpolizei den Generalsekretär der KP, Rudolf Slánský, und weitere führende Politiker verhaftet, darunter den ehemaligen Außenminister Vladimir Clementis, bis 1950 Dienstherr von Eduard Goldstücker. Die Angehörigen der Gruppe um Slánský wurden im Dezember 1952 hingerichtet, Goldstücker selbst in einem Folgeprozess zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Die Erinnerungen an die Jahre im Gefängnis gehören zu den besonders bewegenden Abschnitten in dem Buch mit Gesprächen, die der Publizist, Filmemacher und Übersetzer Eduard Schreiber mit Goldstücker führte. Er erzählte darin zum Beispiel von den völlig illusorischen Hoffnungen auf einen nahenden Regimewechsel oder von dem Englischunterricht, den er auf umständliche Weise jungen Mitgefangenen erteilte.

    Ich durfte ja jahrelang kein Stück Papier und keinen Bleistift haben, aber es gab immer 'schwarze' Bleistifte, man schob mir ein Stück Papier zu mit einem Bleistift, und ich notierte einige Wörter und einige Deklinationen, sie waren sehr dankbar. Sie wollten mich am Leben erhalten.

    Goldstücker wurde – wie auch die Angehörigen der Gruppe um Rudolf Slánský – zum Opfer der eigenen Weltanschauung, verraten von den eigenen Genossen in einem parteiinternen und antisemitischen Machtkampf. Bereits als Schüler lernte er die Verlockungen der kommunistischen Ideologie kennen, in einer linkszionistischen Jugendorganisation. Er trat ihr bei und sollte dort für das Leben in einem Kibbuz in Palästina ausgebildet werden. Immer wieder hat Goldstücker von diesem, seinem Bekehrungserlebnis berichtet, auch bei öffentlichen Diskussionen wie hier, im Jahr 1991 in Deutschland.

    "Ich fühlte mich in dieser Organisation nicht ganz zu Hause. Und ich verließ sie nach einigen Monaten. Aber das genügte, dass mir ein Fensterlein geöffnet wurde zum Marxismus. Und das Fensterlein öffnete ich mir dann ganz. Uns so kam ich in den Ideenumkreis des Marxismus und – in der Realität der Tschechoslowakei – damals zur Sympathie mit dem Kommunismus, der unterdrückten Partei."

    Die durch die Weltwirtschaftskrise verursachte Massenarbeitslosigkeit in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit bestärkte den jungen Goldstücker in seinem Glauben an den Kommunismus. Ebenso die immer stärkere Gefahr, die vom nationalsozialistischen Deutschland ausging. Nach der Aufteilung des Landes durch das Münchner Abkommen 1938 und den Einmarsch der Deutschen in Prag im folgenden Jahr schien nur noch die Sowjetunion ein Verbündeter im Kampf der Tschechoslowakischen Republik um die Eigenständigkeit zu sein. In den Gesprächen mit Eduard Schreiber wird der Name München gar zu einer Metapher für die enge und damals weitgehend unkritische Bindung an das Mutterland des Kommunismus. Erst mit der Verhaftung Eduard Goldstückers 1951, so scheint es, setzte ein Prozess der selbstkritischen Auseinandersetzung ein.

    Wir waren überzeugt, dass wir die rationalsten Denker sind, in Wirklichkeit waren wir der russischen Revolution gegenüber Gläubige, so wie in einer Religion. Sie wurde für uns zum Religionsersatz. Das bedeutete, dass unser kritisches Denken vom Glauben unterwandert wurde. Das ist dann ein Teil der Tragödie unserer Generation geworden.

    1955 wurde Eduard Goldstücker nach einer Amnestie aus der Haft entlassen. Er arbeitete als Germanist an verschiedenen Hochschulen und organisierte unter anderem die große und berühmte Kafka-Konferenz in Lidice – berühmt, weil mit ihr eine Wiederentdeckung dieses Autors in den sozialistischen Ländern begann. Seine politischen Überzeugungen gab er trotz der Erfahrungen der Haft nicht auf. Er träumte von einem reformierten Sozialismus, einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz, wie er dann, für kurze Zeit, im Prager Frühling Wirklichkeit zu werden schien. Man bot ihm damals das Amt des Kulturministers an. Goldstücker lehnte ab. Er wollte, wie er sagt, kein Amt bekleiden, das mit Macht verbunden ist.

    "Ich wollte niemals ein Profi – was man damals professioneller Revolutionär nannte – werden. Jetzt nennt man das prosaisch Apparatschik. Ich wollte nie Apparatschik werden. Denn ich wollte mir doch etwas – wenn nicht Aktionsfreiheit, so Gedankenfreiheit beibehalten."
    Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings ging Eduard Goldstücker erneut ins Exil, ins englische Sussex. Dort lebte er, zusammen mit seiner Frau, mehr als 20 Jahre. Nach der Samtenen Revolution kehrte er zurück in seine Heimat, wurde dort aber von der neuen politischen Führung nicht in der Form beachtet, wie er sich das selbst wünschte. Insofern bestimmt ein sehr resignativer Ton den letzten Teil der langen autobiografischen Gespräche.

    Von Vaclav Havel oder auch Vaclav Klaus hielt Goldstücker nicht viel. Er fühlte sich von ihnen sogar verraten, weil seine Hoffnungen auf einen demokratischen Sozialismus nicht mehr als opportun galten. Insofern trifft der Leser am Ende dieses Erinnerungsbuches auf einen verbitterten alten Mann, der einmal mehr das Gefühl hat, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Die Interviews mit Eduard Goldstücker regen unbedingt zu einer weiteren Auseinandersetzung mit der Biografie dieses Mannes an. Allerdings lassen sie auch vieles offen. Zu gerne hätte man gewusst, wie sich ein demokratischer Sozialismus nach Goldstückers Vorstellungen überhaupt in der Realität bewähren sollte. Zu gerne hätte man erfahren, ob er bei seinem Besuch 1935 in Moskau wirklich so naiv in seinem Glauben an Stalin war, wie er schildert. Und ebenso gerne wüsste man, warum er nicht mit dem Kommunismus brach, wie etwa Arthur Koestler oder Manés Sperber. Die Gespräche, die Eduard Schreiber geführt hat, sind respektvoll und höflich. Auf deutliche kritische Fragen wartet man leider vergebens.

    Niels Beintker war das über den Band: "Von der Stunde der Hoffnung zur Stunde des Nichts" – Gespräche, die Eduard Schreiber mit Eduard Goldstücker geführt hat. Das Buch ist im Verlag Arco Wissenschaft in Wuppertal erschienen. 226 Seiten kosten 32 Euro.