"Weil sie immer sagen, die Justiz, da läuft alles in Ordnung, da ist alles korrekt. Nee, ist es nicht."
Wolfgang R. saß 18 Jahre im Gefängnis. Wegen gefährlicher Körperverletzung. Er hatte betrunken einen Freund mit einem Messer attackiert. Das Urteil: zwei Jahre und neun Monate Haft, plus zehn Jahre Sicherungsverwahrung. Weil er schon eine ähnliche Straftat begangen hatte. Frei kam Wolfgang R. nach der Zeit allerdings nicht. Das Gericht verlängerte seine Haft. Grundlos, wie er sagt. Stattdessen verlegten sie ihn in eine Nervenklinik.
"Das war krass gewesen, da war ich völlig am Boden. Ich bin weder psychisch krank noch sonst was, ja."
Eine Psychiaterin habe das bestätigt. Vor drei Jahren wurde Wolfgang R. schließlich entlassen. Heute sitzt er im Café Rückenwind, im Saal der katholischen Kirchengemeinde St. Rita - im Berliner Stadtteil Reinickendorf.
Ungezwungene Geselligkeit bei Kuchen und Gebäck
Es ist ein Stigma: Straftäter. Wann hat man seine Strafe für jedes noch so grausame Verbrechen verbüßt? Draußen, wieder in Freiheit, reduziert die Gesellschaft ehemalige Häftlinge meist auf ihre Tat. Im Café Rückenwind ist das anders.
"Das Café Rückenwind ist eine Kontaktstelle. Von hier aus kann man sich Hilfe holen, man kann immer herkommen und Geselligkeit erleben. Hier soll ein niederschwelliges Angebot sein für Leute, die sagen, ich komme noch nicht zurecht, ich habe Probleme. Und die wollen wir gemeinsam ausräumen, damit ein Rückfall möglichst ausgeschlossen ist."
Der katholische Pfarrer Stefan Friedrichowicz hat das Café Rückenwind im Sommer 2018 gegründet. Auf mit Plüsch überzogenen Stühlen sitzen rund 25 Menschen um eine lange Tafel aus zusammen geschobenen Tischen. Auf denen stehen Kuchen, Gebäck und Obst. Jeden zweiten Donnerstag trifft sich hier ein Kern von zehn bis 15 ehemaligen Häftlingen. Aber auch Mitglieder des Pastoralen Raums Reinickendorf-Süd in Berlin sind da. Das Café Rückenwind ist nicht das einzige Angebot für Männer wie Wolfgang R. in Berlin.
"Aber wir sind die Einzigen, die nicht bestellt sind, die keine Mitschriften anfertigen oder mit dem dritten Auge gucken, was macht der falsch, ist der noch gefährlich und melden irgendwo Leute."
Pfarrer Friedrichowicz hält das für einen der wichtigsten Gründe, weshalb die Männer gerade hierherkommen. Ob sie tatsächlich auch religiös sind, ist eine andere Frage.
"Teils teils. Eher nicht, würde ich sagen. Aber es gibt Leute, die im Knast durch den Kontakt zum Pfarramt gläubig geworden sind."
Ein Ort der Gemeinschaft
Für die Ehrenamtlichen und die Organisatoren des Café Rückenwind sind Kirche und Religion die Grundlage ihrer Arbeit. Sie sehen ihr Engagement als tätige Nächstenliebe. An die Gäste stellen sie keine Bedingungen, was die Religion anbetrifft: ob gläubig oder Atheist, jeder ist hier willkommen. Zwei wichtige Themen hier stehen aber in Verbindung mit dem christlichen Glauben: Schuld und Vergebung. Die Frage, welche Schuld den Einzelnen trifft, kommt immer wieder auf.
Pfarrer Friedrichowicz spricht im Café Rückenwind immer wieder auch praktische Dinge an - woher bekommt ein Häftling, der bald entlassen wird, Möbel? Wer will mit ins Theater? Es geht darum, einander auch mit Alltäglichem zu unterstützen. - Seit neun Jahren ist der Pfarrer auch Seelsorger in der Justizvollzugsanstalt in Berlin Tegel. Eines erlebt er dort immer wieder:
"Mir ist auch aufgefallen, dass in der JVA viele doch auch einsam sind. Und habe dann gemerkt, dass es wichtig ist, ihnen eine Brücke zu bauen nach draußen."
Wer aus der Haft kommt, fühlt sich oft nicht darauf vorbereitet. Und wer wieder draußen ist, weiß oft nicht, wie er mit der neuen Welt umgehen soll, in die er nach all den Jahren entlassen wird. Das Café Rückenwind ist vor allem ein Ort, um zu reden und eine Gemeinschaft, die die Männer woanders nicht finden.
Die Stigmatisierung bleibt
An diesem Donnerstag steht Wolfgang Rs. Geschichte im Mittelpunkt und es entspinnt sich eine Diskussion über die Ungerechtigkeit des deutschen Justizsystems. Viele fühlen sich ungerecht behandelt, zweifeln an den Absichten von Gutachtern, Sozialarbeitern, Richtern. Im Café Rückenwind können sie das hinter sich lassen, niemand wird hier nach seiner Tat gefragt. Das ist für viele der Männer ungewohnt. Es tut ihnen gut und sie fühlen sich aufgehoben.
"Auf jeden Fall das Netzwerk hier ist ganz wichtig. Dass erstmal alle hier einen annehmen. Man weiß, man kommt aus dem Gefängnis. Aber das ist nicht das wichtigste an der Person."
Matthias Scholze saß 19 Jahre lang in Haft. Seine Schwierigkeiten nach der Haftentlassung waren einer der Gründe, das Café Rückenwind ins Leben zu rufen. Behördengänge, Formulare, eine Wohnung finden - mit all dem war er anfangs überfordert.
Heute organisiert er das Projekt federführend mit, ist Ansprechpartner für die anderen. Für manch einen ehemaligen Häftling fühlt sich das Leben nach dem Gefängnis wie eine neue Strafe an. Das Stigma bleibt an einem kleben. So empfindet das auch Wolfgang F. aus Bayern. Er verließ seine Heimat bewusst, um nicht wieder abzurutschen.
"Man kommt mit der Gesellschaft nicht mehr zurecht. Jedes Mal, wenn man sich offenbart, dann wird man abgestoßen. Also zieht man sich lieber zurück und bleibt allein."
Resozialisierung, also entlassene Straftäter, wieder in die Gesellschaft zu integrieren, ist ein Ziel im Strafvollzug. Wer den Ex-Häftlingen im Café Rückenwind zuhört, bekommt den Eindruck: Das funktioniert meist nicht. Allerdings sollte man das hier auch immer hinterfragen, sagt Matthias Scholze.
"Viele haben aber auch ihren Teil dazu beigetragen. Sie haben es hier mit Leuten zu tun, die wirklich schwere Straftaten begangen haben."
Obwohl so vieles so schwierig ist, spüren die Männer ihre neue Freiheit. Anfangs ist Scholze mitten in der Nacht von Spandau zum Zoo zu McDonald’s gefahren. Weil er es konnte.
"Das selbstbestimmt über Zeit, Ort zu entscheiden und auch Augenblicke zu genießen, zu sagen: Ich fühle mich wohl, jetzt bleibe ich hier. Das sind so Sachen, die waren für mich tief beeindruckend."