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Rettung von Flüchtlingen ist Kampf gegen die Zeit

Wie schnell Schiffbrüchige gerettet werden können, hänge von vielen Faktoren ab, sagt Antke Reemts, Sprecherin der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Dabei sind Wasser- und Lufttemperaturen sowie Ausstattung mit Rettungswesten und Schwimmfähigkeit der Menschen entscheidende Faktoren, ergänzt Reemts.

Antke Reemts im Gespräch mit Friedbert Meurer |
    Friedbert Meurer: Mehr als 300 Tote vor gut einer Woche, jetzt schon wieder über zwei Dutzend. Vor der Mittelmeerküste Europas spielen sich in kurzer Folge entsetzliche Dramen ab, und das, nachdem diese Woche die europäischen Innenminister gerade erst zusammengesessen haben und über Quoten und Abkommen und Abkommen gefeilscht haben. Geändert hat sich erst einmal nichts. In dem neuen Fall jetzt konnte die Schiffsbesatzung gerade noch in letzter Minute einen Notruf absetzen. Das könnte vielleicht vielen anderen Flüchtlingen diesmal das Leben gerettet haben.

    Nach beiden Havarien, die vor gut einer Woche und die von gestern, wird darüber diskutiert, ob die EU mehr Flüchtlinge aufnehmen soll oder sie anders verteilen soll innerhalb der Europäischen Union. Das ist das eine. Die vielleicht näherliegende Frage aber ist natürlich, kann und muss man nicht direkt vor Ort schneller und besser helfen, wenn ein Schiff mit Flüchtlingen in Seenot gerät? Antke Reemts ist Sprecherin der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger mit Sitz in Bremen. Guten Tag, Frau Reemts!

    Antke Reemts: Guten Tag!

    Friedbert: Auch wenn Ihr Einsatzgebiet Nord- und Ostsee sind, wenn Sie sich mit Ihren Kollegen unterhalten, macht Sie das alles fassungslos oder wütend, was Sie da jetzt hören vom Mittelmeer?

    Reemts: Es ist natürlich so, dass es immer eine große Tragödie ist, wenn Menschen auf See ums Leben kommen. Jeder Seenotfall, bei dem Menschen nicht gerettet werden können, ist tragisch, ist auch tragisch für die Retter. Es ist aber klar, dass jede Katastrophe, bei der viele Menschen gleichzeitig im Wasser sind, das heißt, zig Menschen oder sogar Hunderte von Menschen gleichzeitig im Wasser sind, dass das eine riesige Herausforderung für die Retter ist.

    Und das liegt ganz einfach daran, dass es nicht einfach ist, gleichzeitig, selbst wenn Sie schon Rettungskräfte vor Ort haben, viele Menschen aus dem Wasser zu holen. Das ist immer ein Kampf gegen die Zeit. Wir haben ja bei der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) ein sehr, sehr enges Netz von Seenotkreuzern und Seenotrettungsbooten an der deutschen Küste, zwischen Borkum im Westen und Zinnowitz im Osten …

    Friedbert: Also wäre die Lösung, geht es vor allen Dingen darum, Frau Reemts, die Schiffe müssen groß genug sein und es muss genügend Rettungsschiffe geben?

    Reemts: Es gibt international Standard-Such- und Rettungstechniken, die in der sogenannten SOLAS-Konvention verabschiedet worden sind, Safety of Life at Sea, die erste SOLAS-Konvention ist direkt nach dem Titanic-Unglück verabschiedet worden, das heißt, um tatsächlich die Sicherheit von Menschen auf See besser gewährleisten zu können. Es gibt danach international Standards, nach denen in den allermeisten Küstenländern auch verfahren wird, um beispielsweise in so einem Fall, wo viele Menschen gleichzeitig gerettet werden müssen, möglichst effektiv Hilfe leisten zu können.

    Friedbert: Was heißt das jetzt konkret? Gibt es eine Vorschrift, dass zum Beispiel ein Rettungsboot nicht mehr als 50, 60 Leute aufnehmen darf, um nicht selbst in Gefahr zu geraten?

    Reemts: Es heißt ganz konkret, dass nicht nur Rettungsfahrzeuge, die speziell für Rettung da sind, wie ein Seenotkreuzer beispielsweise Menschen retten, sondern dass jedes Schiff, was sich in der Umgebung befindet, zur Rettung einer Seenotleitung herangezogen werden kann. Das sind sogenannte Maritime Rescue Coordination Centres, das gibt es auch auf Malta, das gibt es auch in Italien, die können …

    Friedbert: Das ist ja noch mal ein gesondertes System, weil das ja in Italien die Gesetze berührt. Wenn also ein Boot da ist, ein Schiff da ist an der Unglücksstelle, dann reicht das normalerweise nicht, um 300 Menschen zu retten?

    Reemts: Natürlich ist es immer so, dass ein Schiff nur so weit Hilfe leisten muss, wie es sich selbst nicht gefährdet. Und das hängt natürlich ganz und gar von der Größe des Schiffes ab, wie viel Menschen es beispielsweise aufnehmen kann. Eine große Herausforderung ist allerdings, wie kann ich überhaupt Menschen aus dem Wasser aufnehmen. Und natürlich ist immer die beste Lösung, die schnellste Lösung viel mehr, dass man fliegende Einheiten vor Ort hat, wie beispielsweise Hubschrauber, da arbeitet die DGzRS zum Beispiel mit der deutschen Marine zusammen. Aber gleichzeitig ist es so, dass Sie bei einem Schiff eine relativ hohe Bordwand haben und auch dort erst mal einen Menschen aus dem Wasser ziehen können müssen.

    Friedbert: Wie tun Sie das?

    Reemts: Spezialschiffe wie beispielsweise Seenotkreuzer oder wie unsere Seenotrettungsboote haben natürlich spezielle Hilfsmittel dafür oder haben bestimmte Techniken entwickelt, mit denen so was machbar ist. Beispielsweise haben unsere Tochterboote der Seenotkreuzer eine sogenannte Bergepforte in Wasserlinienhöhe, sodass man einen Menschen direkt aufs Schiff ziehen kann. Ein ganz normales Schiff, ein normales Frachtschiff, ein normales Passagierschiff verfügt natürlich über solche Möglichkeiten nicht. Dann versucht man in der Regel, beispielsweise ein Rettungsfloß ins Wasser zu werfen, auf das die Schiffbrüchigen sich dann draufziehen müssen.

    Friedbert: Wie lange dauert das Ihrer Einschätzung nach, um mal bei der Zahl 300 oder 400 zu bleiben, all die Menschen aus dem Wasser zu holen? Ist das eine Frage von etwa einer Stunde oder reden wir hier über Tag und Nacht?

    Reemts: Wissen Sie, wie ich eingangs schon sagte, das ist natürlich immer ein Kampf gegen die Zeit. Natürlich ist es extrem davon abhängig, wie sind Wasser- und Lufttemperatur und wie ist der Seegang. Es ist klar, dass auch die Verfassung der Schiffbrüchigen eine große Rolle spielt, beispielsweise sind die Schiffbrüchigen fit, sind die mit Rettungswesten ausgestattet oder ist es sogar so, dass die Schiffbrüchigen eventuell gar nicht schwimmen können? Das heißt, Sie haben hier sehr viele unterschiedliche Faktoren, die dafür eine Rolle spielen, und natürlich ist es klar, dass Sie wie beispielsweise jetzt in der Nordsee bei elf Grad maximaler Wassertemperatur sehr viel kürzer es im Wasser nur aushalten können, als wenn Sie beispielsweise eine Wassertemperatur von 20 Grad haben.

    Friedbert: Wie lang kann man dann im Wasser aushalten, bei 20 Grad?

    Reemts: Das ist auch sehr unterschiedlich. Insofern gibt es kaum Standards, wo man sagen kann: Gut, bei 20 Grad Wassertemperatur haben wir jetzt beispielsweise so und so lange Zeit, um die Schiffbrüchigen zu retten, weil es, wie gesagt, auch sehr davon abhängt, was tragen die Schiffbrüchigen, haben die Kleidung, die noch wärmen kann, sind die Schiffbrüchigen in relativ guter körperlicher Verfassung? Aber auch wenn wir Seegang haben, schweren Seegang beispielsweise, atmen Menschen, die im Wasser sind, ständig die Gischt ein, sodass man dann sogar ertrinken kann, ohne dass man mit dem Kopf direkt unter Wasser ist. Also, all das sind Faktoren, die bei einer Seenotrettung eine ganz große Rolle spielen und die eben auch dazu führen können, dass man sehr kurz nur Zeit hat oder vielleicht auch etwas mehr. Aber da kann man keine vorhergesagte Zeit nennen.

    Friedbert: Eine ganz kurze Frage, eine schwierige Frage zugegebenermaßen, an Sie: Was muss geschehen, damit sich solche Tragödien nicht wiederholen, ganz kurz?

    Reemts: Schiffstragödien gibt es ja schon sehr, sehr lange. Den meisten Menschen ist das Titanic-Unglück von 1912 in Erinnerung, weil es damals als etwas sehr – in Anführungszeichen – Spektakuläres galt. Man versucht seitdem immer, immer wieder, die Möglichkeiten, Menschen zu retten, zu verbessern, man arbeitet international intensiv zusammen. Es gibt eine internationale Organisation, in der sich die Seenotrettungsdienste zusammengeschlossen haben, da ist auch …

    Friedbert: Das klingt ein bisschen so, Entschuldigung, als seien Sie am Ende Ihres Lateins in diesem Fall?

    Reemts: Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger kann natürlich nicht eine Situation in Italien bewerten oder beurteilen. Denn ein Seenotfall ist immer, wo auch immer er ist, unterschiedlich. Und wir haben allein bei der DGzRS über 2000 Einsätze im Jahr. Zum Glück sind wir beispielsweise 2012 nicht mit einer vergleichbaren Katastrophe wie vor Lampedusa konfrontiert gewesen, das kann man tatsächlich immer nur wirklich letztendlich bewerten, wenn man vor Ort ist und alle Fakten kennt.

    Friedbert: Antke Reemts, Sprecherin der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, zur neuen Tragödie auf einem Flüchtlingsschiff vor Lampedusa. Danke schön, Frau Reemts, Wiederhören!

    Reemts: Wiederhören!


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