Notfalleinsatz im Münsterland. Rettungssanitäter Jörg Ratz drückt aufs Gas, rattert über rote Ampeln. Er sitzt hochkonzentriert am Steuer. Der Patient im Rettungswagen ist ein älterer Mann.
"Wir unterstellen ihm jetzt einen Schlaganfall. So, jetzt muss ich mich mal eben orientieren hier, geradeaus, kann ich nicht."
Innerhalb von wenigen Minuten muss er im Krankenhaus sein. Schließlich geht es darum, Leben zu retten. Oft werden sie aber auch gerufen, obwohl kein Notfall vorliegt, schildern Jörg Ratz und sein Kollege Stefan Winzek den Alltag auf der Rettungswache.
"Ich sag mal: Fieber. Knöchel verstaucht, tagsüber schon."
Motiv: Einfach die Taxifahrt einsparen
"Wir sind auch schon angerufen worden, weil sich einer den Fingernagel abgebrochen hat. Und da geht’s dann einfach nur da drum, dass sich die Leute entweder kein Taxi leisten können und deswegen den Rettungswagen rufen, weil die denken ja, der ist ja quasi umsonst. Oder dass man einfach schneller in der Notaufnahme dran kommt."
"Was dann auch wieder dazu führt, dass Fahrzeuge gebunden werden, die an anderen Einsatzstellen wesentlich wichtiger gebraucht würden."
Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für die Einsätze von Rettungs- und Notarztwagen haben sich laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt. Deshalb suchen Gesundheitspolitiker nach Wegen, die sogenannten Bagatellfahrten der Rettungsdienste zu reduzieren. Statt dem Notruf sollen die Leute häufiger den ärztlichen Bereitschaftsdienst anrufen.
"Willkommen bei der 116 117"
Der Ärztliche Bereitschaftsdienst - die unbekannte Alternative
Allerdings dürfte diese Nummer vielen Menschen kaum bekannt sein. Sie wählen die 112. Wenn der Notruf nicht dringend ist, will das Gesundheitsministerium in Nordrhein-Westfalen deshalb die Anrufer direkt zum ärztlichen Bereitschaftsdienst weiterleiten, erklärt Bernd Schnäbelin, Leiter des Referats Rettungswesen im Ministerium:
"Dass wir mit medizinisch geschultem Personal in der Leitstelle besser nachfragen können und entscheiden können, ist es tatsächlich ein Notfall, wo dann der Rettungswagen raus muss – oder ist es kein Notfall, wo dann der kassenärztliche Dienst den Fall übernehmen muss. Wo man nicht in 8 oder 10 Minuten beim Patienten sein muss. Wo es ausreicht, nach einer Stunde oder zwei kommt dann ein Arzt."
Seit einem Jahr probieren das mehrere Leitstellen aus. Doch was sich in der Theorie einfach anhört, kann in der Praxis zu Konflikten führen. Denn viele Menschen möchten die bestmögliche Versorgung. Und eine sichere Ferndiagnose ist oft schwierig.
Unschöne Diskussionen am Telefon
Rettungswagen stehen vor einem Einfamilienhaus mit Vorgarten. Ein 76-jähriger Mann ist vom Sofa gekippt. Er hat Fieber und spricht ganz verwaschen, sagt seine Tochter. Sie ärgert sich über die Leitstelle des Notrufs.
"Ich hab gesehen, dass der Allgemeinzustand meines Vaters so schlecht wird, dass er nicht mehr hat zu Hause bleiben können. Es ist nicht so gewollt, dass wir mit ihm ins Krankenhaus möchten. Aber es ging nicht anders. Leider haben wir aber auch eine große Diskussion grade am Telefon gehabt. Mit der Feuerwehrleitstelle. Die gesagt hat, ist es denn wirklich nötig, ich sollte doch erst den Hausarzt rufen, und und und..."
In Köln gibt es jetzt eine erste Auswertung des Pilotprojekts. Weniger als zwei Prozent der Notrufe haben die Mitarbeiter an den ärztlichen Bereitschaftsdienst weiter geleitet, erklärt Bernd Schnäbelin vom nordrhein-westfälischen Gesundheitsministerium.
Verantwortlich für den Tod eines Menschen?
"Die Sorge des Mitarbeiters in der Leitstelle, einen Einsatz nicht zu generieren, und da stirbt hinterher jemand, diese Sorge ist einfach da. Und ein Leitstellenmitarbeiter möchte auch so einen Fehler nicht machen und möchte auch nicht die Verantwortung für einen Menschen haben, der hinterher stirbt."
Vielversprechender sind die Erfahrungen mit dem sogenannten Telenotarzt-System in Aachen.
Johannes Wendt sitzt mit Headset in der Leitstelle. Die Daten der Patienten am Einsatzort – EKG, Puls, Sauerstoffsättigung – schicken ihm die Sanitäter auf seinen Bildschirm. Der Telenotarzt arbeitet so mit 32 Rettungswagen-Teams in mehreren Kreisen zusammen. Gerade hat eine Notfall-Sanitäterin aus einem Fitness-Studio angerufen. Eine Frau ist dort synkopiert, also bewusstlos geworden und umgekippt.
"Was hat sie denn für Beschwerden? War im Sport synkopiert. Und sie war circa drei Minuten bewusstlos?"
Notärzte sind Mangelware
In Zeiten des Ärztemangels sind auch Notärzte Mangelware – besonders im ländlichen Raum. Mit dem Telenotarzt-System kann sich ein einzelner wie Johannes Wendt um viel mehr Fälle kümmern. Denn meistens sei es nicht nötig, dass ein Notarzt mit raus fährt.
"Wenn allerdings schon beim Notruf die Anzeichen dafür da sind, dass der Patient nicht stabil ist, wird natürlich nach wie vor ein Notarzt dahin geschickt."
Jetzt will das Gesundheitsministerium mit diesem Modell den Rettungsdienst im ganzen Bundesland entlasten. Bis Ende des Jahres soll in jedem der fünf Regierungsbezirke so ein Tele-Notarzt eingeführt werden. In Aachen klappt das, erklärt Sanitäter Jens Küppers.
Ein Faktor: Die Alterung der Gesellschaft
"Letzter Einsatz: Gestürzter Rollerfahrer. Der hatte sich dabei den Unterschenkel gebrochen. Wir haben in dem Fall einen Zugang gelegt auf dem Handrücken, die wir als Maßnahme dann durchführen dürfen in der Kombination. Und durften durch die Freigabe vom Tele-Notarzt Medikamente geben, um die Schmerzen zu nehmen."
Die Rettungsdienste in Deutschland brauchen Konzepte, die sie entlasten. Weil die Zahl der Notrufe aufgrund der Alterung der Gesellschaft weiter zunehmen wird. Das erfährt Rettungssanitäter Jörg Ratz jeden Tag. Er ist im Münsterland schon wieder auf dem Weg zum nächsten Einsatz.
"Das ist so Patientenklientel, wie man das so gerne nennt. Ältere Menschen, Verdacht auf Schlaganfall, schlechte Atemsituationen. Was so einfach viel auftritt. Was so Alltag ist."