Dass Jeanette Winterson einmal ein Buch schreiben würde, in dem die Wirklichkeit direkt und ohne metaphorische Überhöhung zur Sprache kommt, war nicht unbedingt zu erwarten. Seit Büchern wie "Das Geschlecht der Kirsche" oder "Auf den Körper geschrieben" ist die britische Autorin für ihre unkonventionelle Erzählweise und ihre überbordende Fantasie bekannt. Dafür ist sie ebenso heftig gelobt wie verrissen worden. Der typische Winterson-Sound ist melancholisch, pathetisch, manchmal ironisch, immer jedoch kommt er von jenseits eines realistischen Erzählens.
Leichtfüßig wechselt diese Autorin zwischen historischen Epochen, spielt mit Mythen und Märchen und springt zum Teil unverschämt freizügig mit Figuren der Weltliteratur und literarischen Motiven um. Bei Winterson verlieren sie ihr historisches Gewicht. Sie entwickelte eine Ästhetik, über die deutlich wird, wie tief ein traditionelles, jahrhundertealtes Denken in den Herrschaftsstrukturen der Gegenwart und in unserem Verständnis von Literatur noch immer verankert ist. Ihr neues Buch "Warum glücklich, statt einfach nur normal", ist dagegen rettungslos der Wirklichkeit verhaftet.
Was bisher in kunstvolle Fiktion verwandelt wurde, wird in dieser biografischen Abrechnung aller literarischen Hüllen entkleidet. Winterson, die Bestsellerautorin, die cholerische Außenseiterin mit einem freizügigen Sexualleben, die skandalumwitterte Affären anzettelte, die schnelle Autos und maßgeschneiderte Schuhe mag, das Arbeiterkind, das in Oxford studieren durfte, die Schriftstellerin, die Kunst nicht als Luxus begreift, sondern als etwas, das das Leben von Menschen verändern kann, hat über sich selbst geschrieben. Gnadenlos und offen.
Sie führt sich und den Lesern ihre Kindheit als Adoptivtochter zweier Missionare im Arbeiterstädtchen in Lancashire in den Fünfzigerjahren vor Augen, ihr Coming-out mit 16, die Flucht nach Oxford und schließlich die Suche nach ihrer leiblichen Mutter.
"Warum glücklich, statt einfach nur normal?" ist das Porträt einer Schriftstellerin in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, und es ist die Studie über eine schwere psychische Verletzung.
Ich habe Geschichten von Liebe und Geschichten von Verlust erzählt – Geschichten der Sehnsucht und der Zugehörigkeit. Alles scheint plötzlich auf der Hand zu liegen – die Winterson’sche Obsession mit den Themen Liebe, Verlust und Verlangen. Es ist meine Mutter. Aber die Mutter ist ja auch unsere erste Geliebte. Ihre Arme. Ihre Augen. Ihre Brust. Ihr Körper. Und wenn wir sie später hassen, nehmen wir diese Wut mit in unsere anderen Geliebten. Und wenn wir sie verlieren, wo finden wir sie dann wieder?
Die Auseinandersetzung mit zwei Müttern, der Adoptivmutter und der spät gefundenen leiblichen Mutter, ist die innere Triebkraft dieses Buches, das ihnen auch gewidmet ist. Ihrem übermächtigen Einfluss versucht Jeanette Winterson schon ihr Leben lang schreibend zu entkommen; der einen, die zu sehr anwesend, der anderen, die zu sehr abwesend ist. Mit "Orangen sind nicht die einzige Frucht", ihrem Debütroman, der Winterson im Alter von 24 Jahren berühmt machte, schrieb sie eine fiktionalisierte Version ihrer Kindheitsgeschichte. Das Leben der erfundenen Jeanette als Adoptivtochter zweier Missionare der Pfingstbewegung, einer strengen, freikirchlichen evangelischen Gemeinde, lebt von der Skurrilität einer archaisch wirkenden Szenerie. Der verbissene Glaube der Mutter an die bevorstehende Apokalypse, die Angewohnheit in Bibelzitaten zu reden und dem Kind statt Märchen das Alte Testament vorzulesen, sind in der literarischen Überformung erheiternd. In Wirklichkeit ist die Adoptivmutter, die wahre Mrs. Winterson, eher erdrückend als skurril.
Wenn meine Mutter böse auf mich war, was häufig vorkam, sagte sie: "Der Teufel hat uns ans falsche Bettchen geführt." Die Vorstellung, wie sich Satan 1960 von Kaltem Krieg und McCarthyismus eine Auszeit nimmt, um in Manchester vorbeizuschauen – Zweck der Reise: Täuschung der Mrs. Winterson – hat etwas überzogen Theatralisches. Sie war ein überzogen depressiver Mensch; eine Frau, die einen Revolver in der Schublade mit den Putzlappen liegen hatte, und die dazugehörigen Kugeln in einer Dose Möbelpolitur. Eine Frau, die die ganze Nacht zum Kuchenbacken aufblieb, um nicht mit meinem Vater in einem Bett schlafen zu müssen. Eine Frau mit Prolaps, Schilddrüsenleiden, vergrößertem Herzen, offenem Bein und zwei Paar Zahnprothesen – matt für Werktage, glänzend für Sonn- und Feiertage.
In ihrem autobiografischen Text kreist Winterson unverstellt und unmittelbar um eine Wunde. Die frühe Ablehnung durch die leibliche Mutter hat das Verlassenwerden als elementares Gefühl in ihr verankert. Die Adoptivmutter wiederholt diese Erfahrung ununterbrochen durch ihre Ablehnung der Welt und der Tochter. Im ersten Teil des Buches erzählt Winterson davon, wie sie aufwuchs zwischen dieser wahnhaften Mutter, von der sie immer wieder in den Kohlenkeller oder vor die Tür gesperrt wurde, und einem macht- und sprachlosen Vater. Gleichzeitig ist es der Versuch, zur Wurzel des eigenen Schreibens vorzudringen. Die Frage lautet: Wäre ich ohne Adoption Schriftstellerin geworden? Die Bücher werden für Winterson als Kind zur Fluchtmöglichkeit in die Fantasie, fort aus einem lieblosen Haushalt, in dem außer der Bibel und den Romanen von Charlotte Brontë alle Literatur verboten ist. Als die Adoptivmutter einmal Jeanettes heimliche Lektüre entdeckt, veranstaltet sie eine Bücherverbrennung im Hof. Die Bibliothek des Arbeiterstädtchens Accrington ist die einzige Rettung. Hier liest sich Winterson durch die englische Literatur von A bis Z, eine Entscheidung, die ihr später die Aufnahme an der Universität Oxford ermöglichen wird, wenn auch erst im zweiten Anlauf und als sogenanntes "Arbeiterklassenexperiment"; Oxford wollte sich mit einem Sonderprogramm für Frauen, Schwarze und Arbeiter modernisieren. Die Frage nach einem möglichen anderen Lebenslauf scheint sich Adoptivkindern irgendwann zwangsläufig zu stellen.
Adoptierte Kinder erfinden sich selbst, es geht nicht anders; gleich zu Beginn unseres Lebens herrscht ein Mangel, eine Leere, ein Fragezeichen. Ein entscheidender Teil unserer Geschichte ist einfach ausgelöscht worden (…) Es ist wie ein Buch, bei dem die ersten Seiten fehlen. Es ist, als käme man in den Saal, wenn der Vorhang schon oben ist. Das Gefühl, dass irgendetwas fehlt, verlässt einen nie – kann ja auch gar nicht, und soll ja auch gar nicht, denn es fehlt ja tatsächlich etwas. An sich ist das noch nichts Schlimmes. Der fehlende Teil, die fehlende Vergangenheit muss keine Leere, sie kann auch eine Öffnung sein. (…) Aus diesem Grund bin ich Schriftstellerin. (..) Schreibend habe ich mir meinen Fluchtweg gebahnt.
Neben der Wurzel des Schreibens versucht Winterson auch, die Wurzel der eigenen Sexualität aufzuspüren. "Warum glücklich statt einfach nur normal?" – dieser treffende Titel des Buches - ist ein wörtliches Zitat der Adoptivmutter. Als sich Jeanette mit 16 zum ersten Mal in eine Frau verliebt und der Exorzismus zur Austreibung dieses vom Teufel angestifteten Begehrens wirkungslos bleibt, setzt sie die Tochter kurzerhand vor die Tür. Fünfundzwanzig Jahre später, die im Buch übersprungen werden, im zweiten Teil also findet Winterson ihre Adoptionspapiere. Diese Papiere sind der Anlass, sich auf die Suche nach der leiblichen Mutter zu machen. Mittlerweile liegen ein früher Ruhm und mehrere aufreibende Affären hinter ihr. Als Winterson in den 80er-Jahren eine Liaison mit Julian Barnes Ehefrau anfing, wandte sich das literarische Establishment gegen sie. Sie bekam so viele negative Kritiken, dass sie ihr Buch "Auf den Körper geschrieben" nach seinem Erscheinen kurzerhand selbst zum besten Buch des Jahres kürte. Die Adoptionsurkunde löst in Winterson einen Zusammenbruch aus, der in einem Selbstmordversuch gipfelt. Ursache dafür mag auch die aktuelle Freundin sein, eine Theaterregisseurin, die sich nach sechs gemeinsamen Jahren abrupt von Winterson trennt. Der Schmerz über den Urverlust flammt wieder auf. In diesem Schmerz erscheint die Trennung der Geliebten als das Verlassenwerden von der Mutter. Und sie glaubt, das Verlangen nach der Mutter sei der Grund für ihr lesbisches Begehren. Ein Begehren, das demzufolge immer scheitern muss.
Verlorene Verluste sind unberechenbar und nicht zivilisiert. Ich war zurückgeworfen an einen Ort der Hilflosigkeit, Machtlosigkeit und Verzweiflung. (…)Ich fing an, nachts aufzuwachen und festzustellen, dass ich auf allen Vieren herumkroch und 'Mama, Mama' schrie. Ich war schweißgebadet. (…) Kleinlaut sagte ich Veranstaltungen und Termine ab, ohne einen Grund angeben zu können. Manchmal ging ich tagelang nicht vor die Tür, zog mich nicht an, manchmal streifte ich im Schlafanzug durch meinen großen Garten, manchmal aß ich gar nichts, oder man sah mich mit einer Dose Baked Beans im Gras sitzen. Menschliches Elend, wie man es kennt.
Seit Vladimir Nabokovs ironischer Autobiografie "Sieh doch die Harlekine" weiß man, dass Schriftstellern nicht hundertprozentig zu trauen ist, wenn sie über sich selbst sprechen. Nabokov verwirbelt im ästhetischen Spiel Leben mit Literatur. Und Felicitas Hoppe hat erst kürzlich mit ihrer fiktionalen Autobiografie "Hoppe" auch für die deutsche Literatur die Grenzen des Genres verunsichert. Obwohl Wintersons biografische Abrechnung überraschend unspielerisch daherkommt, eher existenzieller Not als ästhetischem Vergnügen zu verdanken ist und stellenweise wie eine Beschwörung zur Selbstheilung klingt, entsteht während des Lesens dennoch der Eindruck eines kunstvollen literarischen Gefüges, von Monika Schmalz wunderbar ins Deutsche gebracht. Winterson erzählt wie immer fragmentarisch. Sie flicht Zitate ein und lässt Lebenswelt und politisches Geschehen der Fünfziger- und Sechzigerjahre in England anschaulich aufblitzen, als man die Keilriemen von Autos noch mit Nylonstrümpfen flickte, unter den Achseln herausnehmbare Schweißeinlagen trug, die abends gewaschen wurden, und Thatcher an die Macht kam. Winterson ist zu sehr in der Literatur zu Hause, um die Reize der Wirklichkeit nicht literarisch zu nutzen. Hat sie tatsächlich versucht, sich umzubringen, als der Verlustschmerz sie überrollte? Und wenn ja, hat sie sich wirklich in der verschlossenen Garage in ihren alten Porsche gesetzt, den Motor angelassen und wurde dann von ihrer Katze gerettet? 2010 gab sie dem "Guardian" ein Interview. Der Journalist stellte damals fest:
Wie Sie bemerkt haben, hat Winterson, mittlerweile 50, keinen Selbstmordversuch begangen.
Sie habe nur ihre Vorstellung davon beschreiben wollen. Im selben Interview sagte Winterson allerdings auch, ihre leibliche Mutter sei tot, was, wie man jetzt weiß, nur die Behauptung ihrer Adoptivmutter war. Ihr Buch endet damit, wie sie die leibliche Mutter nach langwierigen bürokratischen Verwicklungen findet. Man erfährt, dass die Mutter aus einer einfachen Arbeiterfamilie stammt und Winterson mit 17 weggab; sie hatte kein Geld, und der neue Mann lehnte das fremde Kind ab. Ist der furchtbare und wunderbar anschauliche Suizidversuch, in der die Katze ihr lebensrettend das Gesicht zerkratzt, also wahr oder hinzugedichtet? Eine Frage, die irrelevant wird angesichts der Überzeugungskraft dieser tragikkomischen Szene, die Wintersons Meisterschaft verdeutlicht. Sie selbst sagt, es sei die Version einer wahren Geschichte. Und so ist glücklicherweise einiges in diesem Buch, was auf den ersten Blick allzu vordergründig erscheint, eine Version. Auch für ihre Liebe zu Frauen findet sich schließlich noch ein zweiter Grund: Aus den Adoptionsakten erfährt Winterson, dass ihrer Adoptivmutter zunächst ein Junge in Aussicht gestellt worden war.
Paul? Der Junge, den sie hätte haben können. Der, der niemals seine Puppe im Teich versenkt oder seine Pyjamatasche mit Tomaten gefüllt hätte. Der Teufel führte uns ans falsche Bettchen. Sind wir wieder am Anfang? Allmählich dämmert mir, dass Mrs. Winterson einen Jungen erwartete und sich nicht leisten konnte, die Sachen beiseitezupacken und mich deshalb in Jungsklamotten steckte… Also begann ich das Leben nicht als Jeanette, sondern als Paul. Aber nein, nein o nein, und ich dachte, in meinem Leben ginge alles um sexuelle Selbstbestimmung und Feminismus und jetzt stellt sich heraus, dass ich am Anfang ein Junge war. (…) In dieser absurden Erklärung steckt so viel grimmiger Witz, dass ich gegenüber meinen sämtlichen Müttern und Identitäten auf einmal keine Angst mehr empfinde, sondern Freude.
Ohne die Begrenzungen des Geschlechts wären wir freier in unserer Sexualität, sagte Winterson einmal, die auch in ihrem Werk häufig Geschlechtergrenzen unterwandert. Die Durchlässigkeit von Grenzen, die Absurdität dessen, was wir als normal begreifen, der schräge Blick, in dem Gewohntes verrückt erscheint, das sind Wintersons große Themen. Und selbst in diesem Buch voller psychologisierender Selbstdeutungen lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, welchen der oft schlichten Erklärungen die Autorin am Ende Glauben schenkt. Letztendlich sind es Annäherungsversuche, mögliche Lesarten, die sich mit jeder neuen Lektüre verändern. So wie sich auch Wintersons Bücher verändern, wenn sie auf der Folie ihrer Biografie gelesen werden.
Das Leben besteht aus Schichten, aus flüssigen, beweglichen Fragmenten. Ich konnte nie auf die übliche Art eine Geschichte mit Anfang, Mittelteil und Schluss schreiben, weil sich das für mich immer unwahr anfühlte. (…) Wenn ich ein Buch schreibe, bildet sich in meinem Kopf ein Satz wie eine Sandbank über der Wasseroberfläche. "Verlangen": Ich erzähl dir Geschichten. Trau mir. "Auf den Körper geschrieben": Warum ist das Maß der Liebe Verlust? (…) In meinem letzten Roman "Der Leuchtturmwärter", hatte ich mit dem Gedanken eines fossilen Zeugnisses gearbeitet. Jetzt stand ich wieder genau da – mit dem Gefühl, dass etwas überschrieben wurde, aber dennoch zu erkennen war.
Der dunkle Turm aus dem Roman "Leuchtturmwärter", in den die Heldin Silver vor einer grantigen Mrs. Pinch flüchtet, erinnert an Wintersons Kohlenkeller, wo sie versuchte, die Angst vor dem Dunkel mit ausgedachten Geschichten zu verscheuchen. Silvers Nervenzusammenbruch liest sich wie eine Parallele zu Wintersons eigener psychischer Krise. Und während es Winterson nach dem Selbstmordversuch in die Arme von Susie Orbach, der letzten Psychotherapeutin von Lady Diana treibt, landet die fiktive Silver auf der Couch eines Psychiaters. Der bescheinigt ihr, dass sie den Sinn für die Realität verloren habe. "Seitdem versuche ich herauszufinden, was Realität ist, um dafür einen Sinn zu bekommen", erklärt Silver.
Dass Jeannette Winterson die Realität nicht in den Griff bekommt, macht ihre Romane so aufregend. Ihr Erzählen vollzieht die Bewegung nach, mit der sich das Leben immer wieder dem engmaschigen Netz an Bedeutungen entzieht. Deshalb ist man besser beraten, der Autorin überall dort nicht zu folgen, wo Schmerz oder Therapie sie dazu verführen, die Vielfalt und Widerborstigkeit ihres Werks auf einfache Antworten herunterzubrechen. Denn sobald sie dem Mangel an mütterlicher Liebe allzu nah kommt, verengt sich ihre Perspektive. Zeitweilig scheint es, als wäre jeder Satz, den sie je geschrieben hat, ein Schrei nach der vermissten Mutter. Für das intellektuelle Vergnügen an Wintersons Literatur kann ihr neues, biografisches Buch also hinderlich sein. Als Porträt des Lebens einer Schriftstellerin ist es notwendig. Und glücklicherweise ist Winterson längst Teil der englischen Literaturgeschichte von A bis Z.
Ich war eine Frau. Ich war eine Frau aus der Arbeiterklasse. Ich war eine Frau, die Frauen lieben wollte, ohne Schuldgefühle zu haben oder ausgelacht zu werden. Ich hatte keinerlei Ehrfurcht vor dem Familienleben. Ich hatte kein Zuhause. Ich hatte Wut und Unerschrockenheit. (…) Im College wurde mir gesagt, das 19. Jahrhundert habe vier große Romanschriftstellerinnen hervorgebracht – Jane Austen, George Eliot, Charlotte und Emily Brontë. Nicht eine von ihnen hat ein beneidenswertes Leben geführt – alle mussten sich auf groteske Weise opfern, um schreiben zu können. Ich war nicht gewillt, das zu tun.
Jeanette Winterson: "Warum glücklich statt einfach nur normal?"
Hanser Verlag, 256 Seiten, 18,90 €.
Mehr auf dradio.de:
Zweite Chance für die Menschheit - Jeanette Winterson: "Die steinernen Götter"
Keine Geschichte, die ein Ende nimmt - Jeanette Wintersons Roman "Der Leuchtturmwärter"
Leichtfüßig wechselt diese Autorin zwischen historischen Epochen, spielt mit Mythen und Märchen und springt zum Teil unverschämt freizügig mit Figuren der Weltliteratur und literarischen Motiven um. Bei Winterson verlieren sie ihr historisches Gewicht. Sie entwickelte eine Ästhetik, über die deutlich wird, wie tief ein traditionelles, jahrhundertealtes Denken in den Herrschaftsstrukturen der Gegenwart und in unserem Verständnis von Literatur noch immer verankert ist. Ihr neues Buch "Warum glücklich, statt einfach nur normal", ist dagegen rettungslos der Wirklichkeit verhaftet.
Was bisher in kunstvolle Fiktion verwandelt wurde, wird in dieser biografischen Abrechnung aller literarischen Hüllen entkleidet. Winterson, die Bestsellerautorin, die cholerische Außenseiterin mit einem freizügigen Sexualleben, die skandalumwitterte Affären anzettelte, die schnelle Autos und maßgeschneiderte Schuhe mag, das Arbeiterkind, das in Oxford studieren durfte, die Schriftstellerin, die Kunst nicht als Luxus begreift, sondern als etwas, das das Leben von Menschen verändern kann, hat über sich selbst geschrieben. Gnadenlos und offen.
Sie führt sich und den Lesern ihre Kindheit als Adoptivtochter zweier Missionare im Arbeiterstädtchen in Lancashire in den Fünfzigerjahren vor Augen, ihr Coming-out mit 16, die Flucht nach Oxford und schließlich die Suche nach ihrer leiblichen Mutter.
"Warum glücklich, statt einfach nur normal?" ist das Porträt einer Schriftstellerin in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, und es ist die Studie über eine schwere psychische Verletzung.
Ich habe Geschichten von Liebe und Geschichten von Verlust erzählt – Geschichten der Sehnsucht und der Zugehörigkeit. Alles scheint plötzlich auf der Hand zu liegen – die Winterson’sche Obsession mit den Themen Liebe, Verlust und Verlangen. Es ist meine Mutter. Aber die Mutter ist ja auch unsere erste Geliebte. Ihre Arme. Ihre Augen. Ihre Brust. Ihr Körper. Und wenn wir sie später hassen, nehmen wir diese Wut mit in unsere anderen Geliebten. Und wenn wir sie verlieren, wo finden wir sie dann wieder?
Die Auseinandersetzung mit zwei Müttern, der Adoptivmutter und der spät gefundenen leiblichen Mutter, ist die innere Triebkraft dieses Buches, das ihnen auch gewidmet ist. Ihrem übermächtigen Einfluss versucht Jeanette Winterson schon ihr Leben lang schreibend zu entkommen; der einen, die zu sehr anwesend, der anderen, die zu sehr abwesend ist. Mit "Orangen sind nicht die einzige Frucht", ihrem Debütroman, der Winterson im Alter von 24 Jahren berühmt machte, schrieb sie eine fiktionalisierte Version ihrer Kindheitsgeschichte. Das Leben der erfundenen Jeanette als Adoptivtochter zweier Missionare der Pfingstbewegung, einer strengen, freikirchlichen evangelischen Gemeinde, lebt von der Skurrilität einer archaisch wirkenden Szenerie. Der verbissene Glaube der Mutter an die bevorstehende Apokalypse, die Angewohnheit in Bibelzitaten zu reden und dem Kind statt Märchen das Alte Testament vorzulesen, sind in der literarischen Überformung erheiternd. In Wirklichkeit ist die Adoptivmutter, die wahre Mrs. Winterson, eher erdrückend als skurril.
Wenn meine Mutter böse auf mich war, was häufig vorkam, sagte sie: "Der Teufel hat uns ans falsche Bettchen geführt." Die Vorstellung, wie sich Satan 1960 von Kaltem Krieg und McCarthyismus eine Auszeit nimmt, um in Manchester vorbeizuschauen – Zweck der Reise: Täuschung der Mrs. Winterson – hat etwas überzogen Theatralisches. Sie war ein überzogen depressiver Mensch; eine Frau, die einen Revolver in der Schublade mit den Putzlappen liegen hatte, und die dazugehörigen Kugeln in einer Dose Möbelpolitur. Eine Frau, die die ganze Nacht zum Kuchenbacken aufblieb, um nicht mit meinem Vater in einem Bett schlafen zu müssen. Eine Frau mit Prolaps, Schilddrüsenleiden, vergrößertem Herzen, offenem Bein und zwei Paar Zahnprothesen – matt für Werktage, glänzend für Sonn- und Feiertage.
In ihrem autobiografischen Text kreist Winterson unverstellt und unmittelbar um eine Wunde. Die frühe Ablehnung durch die leibliche Mutter hat das Verlassenwerden als elementares Gefühl in ihr verankert. Die Adoptivmutter wiederholt diese Erfahrung ununterbrochen durch ihre Ablehnung der Welt und der Tochter. Im ersten Teil des Buches erzählt Winterson davon, wie sie aufwuchs zwischen dieser wahnhaften Mutter, von der sie immer wieder in den Kohlenkeller oder vor die Tür gesperrt wurde, und einem macht- und sprachlosen Vater. Gleichzeitig ist es der Versuch, zur Wurzel des eigenen Schreibens vorzudringen. Die Frage lautet: Wäre ich ohne Adoption Schriftstellerin geworden? Die Bücher werden für Winterson als Kind zur Fluchtmöglichkeit in die Fantasie, fort aus einem lieblosen Haushalt, in dem außer der Bibel und den Romanen von Charlotte Brontë alle Literatur verboten ist. Als die Adoptivmutter einmal Jeanettes heimliche Lektüre entdeckt, veranstaltet sie eine Bücherverbrennung im Hof. Die Bibliothek des Arbeiterstädtchens Accrington ist die einzige Rettung. Hier liest sich Winterson durch die englische Literatur von A bis Z, eine Entscheidung, die ihr später die Aufnahme an der Universität Oxford ermöglichen wird, wenn auch erst im zweiten Anlauf und als sogenanntes "Arbeiterklassenexperiment"; Oxford wollte sich mit einem Sonderprogramm für Frauen, Schwarze und Arbeiter modernisieren. Die Frage nach einem möglichen anderen Lebenslauf scheint sich Adoptivkindern irgendwann zwangsläufig zu stellen.
Adoptierte Kinder erfinden sich selbst, es geht nicht anders; gleich zu Beginn unseres Lebens herrscht ein Mangel, eine Leere, ein Fragezeichen. Ein entscheidender Teil unserer Geschichte ist einfach ausgelöscht worden (…) Es ist wie ein Buch, bei dem die ersten Seiten fehlen. Es ist, als käme man in den Saal, wenn der Vorhang schon oben ist. Das Gefühl, dass irgendetwas fehlt, verlässt einen nie – kann ja auch gar nicht, und soll ja auch gar nicht, denn es fehlt ja tatsächlich etwas. An sich ist das noch nichts Schlimmes. Der fehlende Teil, die fehlende Vergangenheit muss keine Leere, sie kann auch eine Öffnung sein. (…) Aus diesem Grund bin ich Schriftstellerin. (..) Schreibend habe ich mir meinen Fluchtweg gebahnt.
Neben der Wurzel des Schreibens versucht Winterson auch, die Wurzel der eigenen Sexualität aufzuspüren. "Warum glücklich statt einfach nur normal?" – dieser treffende Titel des Buches - ist ein wörtliches Zitat der Adoptivmutter. Als sich Jeanette mit 16 zum ersten Mal in eine Frau verliebt und der Exorzismus zur Austreibung dieses vom Teufel angestifteten Begehrens wirkungslos bleibt, setzt sie die Tochter kurzerhand vor die Tür. Fünfundzwanzig Jahre später, die im Buch übersprungen werden, im zweiten Teil also findet Winterson ihre Adoptionspapiere. Diese Papiere sind der Anlass, sich auf die Suche nach der leiblichen Mutter zu machen. Mittlerweile liegen ein früher Ruhm und mehrere aufreibende Affären hinter ihr. Als Winterson in den 80er-Jahren eine Liaison mit Julian Barnes Ehefrau anfing, wandte sich das literarische Establishment gegen sie. Sie bekam so viele negative Kritiken, dass sie ihr Buch "Auf den Körper geschrieben" nach seinem Erscheinen kurzerhand selbst zum besten Buch des Jahres kürte. Die Adoptionsurkunde löst in Winterson einen Zusammenbruch aus, der in einem Selbstmordversuch gipfelt. Ursache dafür mag auch die aktuelle Freundin sein, eine Theaterregisseurin, die sich nach sechs gemeinsamen Jahren abrupt von Winterson trennt. Der Schmerz über den Urverlust flammt wieder auf. In diesem Schmerz erscheint die Trennung der Geliebten als das Verlassenwerden von der Mutter. Und sie glaubt, das Verlangen nach der Mutter sei der Grund für ihr lesbisches Begehren. Ein Begehren, das demzufolge immer scheitern muss.
Verlorene Verluste sind unberechenbar und nicht zivilisiert. Ich war zurückgeworfen an einen Ort der Hilflosigkeit, Machtlosigkeit und Verzweiflung. (…)Ich fing an, nachts aufzuwachen und festzustellen, dass ich auf allen Vieren herumkroch und 'Mama, Mama' schrie. Ich war schweißgebadet. (…) Kleinlaut sagte ich Veranstaltungen und Termine ab, ohne einen Grund angeben zu können. Manchmal ging ich tagelang nicht vor die Tür, zog mich nicht an, manchmal streifte ich im Schlafanzug durch meinen großen Garten, manchmal aß ich gar nichts, oder man sah mich mit einer Dose Baked Beans im Gras sitzen. Menschliches Elend, wie man es kennt.
Seit Vladimir Nabokovs ironischer Autobiografie "Sieh doch die Harlekine" weiß man, dass Schriftstellern nicht hundertprozentig zu trauen ist, wenn sie über sich selbst sprechen. Nabokov verwirbelt im ästhetischen Spiel Leben mit Literatur. Und Felicitas Hoppe hat erst kürzlich mit ihrer fiktionalen Autobiografie "Hoppe" auch für die deutsche Literatur die Grenzen des Genres verunsichert. Obwohl Wintersons biografische Abrechnung überraschend unspielerisch daherkommt, eher existenzieller Not als ästhetischem Vergnügen zu verdanken ist und stellenweise wie eine Beschwörung zur Selbstheilung klingt, entsteht während des Lesens dennoch der Eindruck eines kunstvollen literarischen Gefüges, von Monika Schmalz wunderbar ins Deutsche gebracht. Winterson erzählt wie immer fragmentarisch. Sie flicht Zitate ein und lässt Lebenswelt und politisches Geschehen der Fünfziger- und Sechzigerjahre in England anschaulich aufblitzen, als man die Keilriemen von Autos noch mit Nylonstrümpfen flickte, unter den Achseln herausnehmbare Schweißeinlagen trug, die abends gewaschen wurden, und Thatcher an die Macht kam. Winterson ist zu sehr in der Literatur zu Hause, um die Reize der Wirklichkeit nicht literarisch zu nutzen. Hat sie tatsächlich versucht, sich umzubringen, als der Verlustschmerz sie überrollte? Und wenn ja, hat sie sich wirklich in der verschlossenen Garage in ihren alten Porsche gesetzt, den Motor angelassen und wurde dann von ihrer Katze gerettet? 2010 gab sie dem "Guardian" ein Interview. Der Journalist stellte damals fest:
Wie Sie bemerkt haben, hat Winterson, mittlerweile 50, keinen Selbstmordversuch begangen.
Sie habe nur ihre Vorstellung davon beschreiben wollen. Im selben Interview sagte Winterson allerdings auch, ihre leibliche Mutter sei tot, was, wie man jetzt weiß, nur die Behauptung ihrer Adoptivmutter war. Ihr Buch endet damit, wie sie die leibliche Mutter nach langwierigen bürokratischen Verwicklungen findet. Man erfährt, dass die Mutter aus einer einfachen Arbeiterfamilie stammt und Winterson mit 17 weggab; sie hatte kein Geld, und der neue Mann lehnte das fremde Kind ab. Ist der furchtbare und wunderbar anschauliche Suizidversuch, in der die Katze ihr lebensrettend das Gesicht zerkratzt, also wahr oder hinzugedichtet? Eine Frage, die irrelevant wird angesichts der Überzeugungskraft dieser tragikkomischen Szene, die Wintersons Meisterschaft verdeutlicht. Sie selbst sagt, es sei die Version einer wahren Geschichte. Und so ist glücklicherweise einiges in diesem Buch, was auf den ersten Blick allzu vordergründig erscheint, eine Version. Auch für ihre Liebe zu Frauen findet sich schließlich noch ein zweiter Grund: Aus den Adoptionsakten erfährt Winterson, dass ihrer Adoptivmutter zunächst ein Junge in Aussicht gestellt worden war.
Paul? Der Junge, den sie hätte haben können. Der, der niemals seine Puppe im Teich versenkt oder seine Pyjamatasche mit Tomaten gefüllt hätte. Der Teufel führte uns ans falsche Bettchen. Sind wir wieder am Anfang? Allmählich dämmert mir, dass Mrs. Winterson einen Jungen erwartete und sich nicht leisten konnte, die Sachen beiseitezupacken und mich deshalb in Jungsklamotten steckte… Also begann ich das Leben nicht als Jeanette, sondern als Paul. Aber nein, nein o nein, und ich dachte, in meinem Leben ginge alles um sexuelle Selbstbestimmung und Feminismus und jetzt stellt sich heraus, dass ich am Anfang ein Junge war. (…) In dieser absurden Erklärung steckt so viel grimmiger Witz, dass ich gegenüber meinen sämtlichen Müttern und Identitäten auf einmal keine Angst mehr empfinde, sondern Freude.
Ohne die Begrenzungen des Geschlechts wären wir freier in unserer Sexualität, sagte Winterson einmal, die auch in ihrem Werk häufig Geschlechtergrenzen unterwandert. Die Durchlässigkeit von Grenzen, die Absurdität dessen, was wir als normal begreifen, der schräge Blick, in dem Gewohntes verrückt erscheint, das sind Wintersons große Themen. Und selbst in diesem Buch voller psychologisierender Selbstdeutungen lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, welchen der oft schlichten Erklärungen die Autorin am Ende Glauben schenkt. Letztendlich sind es Annäherungsversuche, mögliche Lesarten, die sich mit jeder neuen Lektüre verändern. So wie sich auch Wintersons Bücher verändern, wenn sie auf der Folie ihrer Biografie gelesen werden.
Das Leben besteht aus Schichten, aus flüssigen, beweglichen Fragmenten. Ich konnte nie auf die übliche Art eine Geschichte mit Anfang, Mittelteil und Schluss schreiben, weil sich das für mich immer unwahr anfühlte. (…) Wenn ich ein Buch schreibe, bildet sich in meinem Kopf ein Satz wie eine Sandbank über der Wasseroberfläche. "Verlangen": Ich erzähl dir Geschichten. Trau mir. "Auf den Körper geschrieben": Warum ist das Maß der Liebe Verlust? (…) In meinem letzten Roman "Der Leuchtturmwärter", hatte ich mit dem Gedanken eines fossilen Zeugnisses gearbeitet. Jetzt stand ich wieder genau da – mit dem Gefühl, dass etwas überschrieben wurde, aber dennoch zu erkennen war.
Der dunkle Turm aus dem Roman "Leuchtturmwärter", in den die Heldin Silver vor einer grantigen Mrs. Pinch flüchtet, erinnert an Wintersons Kohlenkeller, wo sie versuchte, die Angst vor dem Dunkel mit ausgedachten Geschichten zu verscheuchen. Silvers Nervenzusammenbruch liest sich wie eine Parallele zu Wintersons eigener psychischer Krise. Und während es Winterson nach dem Selbstmordversuch in die Arme von Susie Orbach, der letzten Psychotherapeutin von Lady Diana treibt, landet die fiktive Silver auf der Couch eines Psychiaters. Der bescheinigt ihr, dass sie den Sinn für die Realität verloren habe. "Seitdem versuche ich herauszufinden, was Realität ist, um dafür einen Sinn zu bekommen", erklärt Silver.
Dass Jeannette Winterson die Realität nicht in den Griff bekommt, macht ihre Romane so aufregend. Ihr Erzählen vollzieht die Bewegung nach, mit der sich das Leben immer wieder dem engmaschigen Netz an Bedeutungen entzieht. Deshalb ist man besser beraten, der Autorin überall dort nicht zu folgen, wo Schmerz oder Therapie sie dazu verführen, die Vielfalt und Widerborstigkeit ihres Werks auf einfache Antworten herunterzubrechen. Denn sobald sie dem Mangel an mütterlicher Liebe allzu nah kommt, verengt sich ihre Perspektive. Zeitweilig scheint es, als wäre jeder Satz, den sie je geschrieben hat, ein Schrei nach der vermissten Mutter. Für das intellektuelle Vergnügen an Wintersons Literatur kann ihr neues, biografisches Buch also hinderlich sein. Als Porträt des Lebens einer Schriftstellerin ist es notwendig. Und glücklicherweise ist Winterson längst Teil der englischen Literaturgeschichte von A bis Z.
Ich war eine Frau. Ich war eine Frau aus der Arbeiterklasse. Ich war eine Frau, die Frauen lieben wollte, ohne Schuldgefühle zu haben oder ausgelacht zu werden. Ich hatte keinerlei Ehrfurcht vor dem Familienleben. Ich hatte kein Zuhause. Ich hatte Wut und Unerschrockenheit. (…) Im College wurde mir gesagt, das 19. Jahrhundert habe vier große Romanschriftstellerinnen hervorgebracht – Jane Austen, George Eliot, Charlotte und Emily Brontë. Nicht eine von ihnen hat ein beneidenswertes Leben geführt – alle mussten sich auf groteske Weise opfern, um schreiben zu können. Ich war nicht gewillt, das zu tun.
Jeanette Winterson: "Warum glücklich statt einfach nur normal?"
Hanser Verlag, 256 Seiten, 18,90 €.
Mehr auf dradio.de:
Zweite Chance für die Menschheit - Jeanette Winterson: "Die steinernen Götter"
Keine Geschichte, die ein Ende nimmt - Jeanette Wintersons Roman "Der Leuchtturmwärter"