Christoph Heinemann: In diesem Jahr, 2017, kam man an Martin Luther kaum vorbei: 500 Jahre Reformation. Morgen, Samstag, 20:05 Uhr im Deutschlandfunk, blicken wir nach vorne: Zweiter Teil unserer Hörspielreihe "Die deutsche Revolution" von Alfred Döblin.
Auch 2018 hält runde Jahrestage bereit: den 200. Geburtstag von Karl Marx oder 1968, der Prager Frühling, die Studentenrevolte, und 1918, das Ende des Ersten Weltkrieges und in dessen Folge die Revolution, die Wolfgang Niess für unterschätzt hält.
Wolfgang Niesss ist Journalist beim Südwestrundfunk in Stuttgart, promovierter Historiker, der sich seit vielen Jahren mit der Revolution von 1918 beschäftigt, und nun, passend zum Jubiläum im kommenden Jahr, ein Buch vorgelegt hat: "Die Revolution von 1918/19" - Untertitel, und danach werde ich ihn gleich auch fragen, "Der wahre Beginn unserer Demokratie".
Vor dieser Sendung haben wir mit ihm gesprochen. Ich habe ihn gefragt, wie sich die Revolte kriegsmüder Matrosen in Kiel zur Revolution in Deutschland entwickelte.
Wolfgang Niess: Die Matrosen waren ja nicht nur kriegsmüde, sondern es sind auch sehr politisch bewusste Matrosen gewesen. Wir haben Ende September völlig überraschend für die deutsche Öffentlichkeit das Waffenstillstandsersuchen. Der Krieg wird verloren gegeben. Jetzt will nun wirklich Jedermann möglichst schnell Frieden. Und als dann die Flotte den Befehl erhält, auszulaufen gegen die britische Flotte, meutern die Matrosen, weil sie den Eindruck haben, die eigene Seekriegsleitung wolle die Politik der deutschen Regierung torpedieren, und das war ja auch so.
Dann entwickelt sich aus dieser Meuterei vor Wilhelmshaven ein Aufstand in Kiel. Am 5. November ist die Stadt in der Hand des Arbeiter- und Soldatenrates. Und dann erfasst diese Revolutionsbewegung in rasendem Tempo das gesamte Land, eine Stadt nach der anderen, am 9. November auch Berlin. Die Monarchien werden weggefegt, die Republik wird ausgerufen. Das alles zeigt: Die Zeit ist einfach reif. Die Revolutionsbewegung war eine von unwiderstehlicher Kraft.
Heinemann: Drohten in Deutschland bolschewistische Verhältnisse so wie in Russland?
Niess: Nein. Die Situation war ganz anders als in Russland. Die SPD war nach wie vor eine starke sozialistische und demokratische Arbeiterpartei. Sie hatte zwar wegen ihrer Unterstützung der Kriegspolitik durchaus gelitten. Kriegsgegner hatten sich abgespalten, die USPD gegründet. Aber auch die verfolgte mehrheitlich demokratische Ziele. Allenfalls der Spartakusbund, eine wirklich sehr, sehr kleine Minderheit, sympathisierte mit den russischen Bolschewiki. Aber als dann die KPD entstand um die Jahreswende, war die weder organisatorisch, noch personell in der Lage, die Macht an sich zu reißen und zu behaupten.
"Das Ziel war eine demokratische Republik"
Heinemann: Wofür kämpften die Revolutionäre?
Niess: Das kristallisiert sich im Laufe von November und Dezember in diesen Wochen immer deutlicher heraus. Das Ziel ist eine umfassend demokratische Republik, parlamentarische Demokratie, aber auch demokratische Strukturen im Militär, in der Verwaltung, demokratischer Geist sollte in Schulen, Hochschulen, Gerichtssälen herrschen, Demokratie auch in der Wirtschaft nicht zu vergessen. Man wollte einen gerechten Anteil am gemeinsam Geschaffenen, Sozialisierung der dafür reifen Industrie, Schwerindustrie, im Besonderen Bergbau, war für die Mehrheit der sozialdemokratischen Arbeiter fast selbstverständlich damals.
Heinemann: Wieso hat die politische Führung der SPD so eng mit der kaiserlichen Armeeführung zusammengearbeitet?
Niess: Da war die Sorge, ohne Hilfe der obersten Heeresleitung die Demobilisierung nicht zustande zu bekommen. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Heizmaterial war ein Riesenproblem. Mangelndes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten kam vielleicht noch mit dazu. Dann eine irrational vielleicht doch vorhandene Furcht vor einem bolschewistischen Putschversuch und dann vor allem aber auch eine völlige Fehleinschätzung der Gefahr, die von der militärischen Führung drohen könnte. Man hielt sie ernsthaft für dauerhaft entmachtet.
Heinemann: Welche Gefahr?
Niess: Die Gefahr der militärischen Führung, eine Gegenrevolution in Gang zu setzen. Erste Versuche dazu gab es dann bereits am 10. Dezember und im Verlauf des 23., 24. Dezember einen weiteren Versuch, und was dann im Januar stattgefunden hat nach dem 15. Januar war im Grunde nichts anderes, als dass alle Kräfte links der SPD ausgeschaltet werden sollten als erster Schritt einer Gegenrevolution, die von den Militärs ins Benehmen gesetzt wurde.
Heinemann: Welche ideologischen und personellen Verbindungen bestanden zwischen dieser Gegenrevolution und dem späteren Nationalsozialismus?
Niess: Die Freikorps, die von der militärischen Führung geschaffen worden sind ab etwa dem 15. Dezember, traten zum Teil ja schon mit auf den Stahlhelm aufgemalten Hakenkreuzen an. Es gibt auch personelle Verbindungen. Erich Ludendorff beispielsweise, der militärische und politische Kopf der obersten Heeresleitung bis Ende Oktober 1918, war 1923 einer der führenden Putschisten, die mit Hitler den Marsch auf die Feldherrnhalle angetreten sind. Führende Offiziere, Freikorps-Führer sind später hohe Offiziere und Funktionsträger in der SS geworden.
Aber es ist auch wichtig, sich klar zu machen, dass der Nationalsozialismus sich von Anfang an als Gegenbewegung zur Revolution verstanden hat. Der Nationalsozialismus war im Grunde die radikale Gegenrevolution. Der Kampf gegen die sogenannten November-Verbrecher hat in kaum einer Hitler-Rede gefehlt. Die Errichtung des Dritten Reiches war im Grunde Hitlers Antwort auf die November-Revolution.
"Die schlimmsten Gräueltaten fanden erst im Frühjahr 1919 statt"
Heinemann: Sozialdemokraten und Sozialisten, SPD und USPD fanden nicht dauerhaft zusammen. Hätte ein Schulterschluss den Verlauf der Geschichte der Ersten Republik verändert?
Niess: Ja, da bin ich ziemlich sicher. Es wäre mehr von dem demokratischen Programm der Revolutions- und Rätebewegung verwirklicht worden und das hätte mutmaßlich der Republik eine stabilere Basis verschafft. Es war ein großer politischer Fehler, dass die USPD zur Jahreswende 1918/19 aus der gemeinsamen Regierung mit der SPD ausgetreten ist, auch hinausgedrängt wurde. Die schlimmsten Gräueltaten in dieser Revolution fanden nach diesem Zeitpunkt statt, im Frühjahr 1919, als Freikorps gegen streikende Arbeiter und Aufständische vorgegangen sind und dabei wahre Massaker angerichtet haben.
Heinemann: Stichwort Massaker. Vier Jahre eines bis dahin unvorstellbar grausam geführten Krieges lagen ja hinter den Soldaten. Welche Rolle spielte die Brutalisierung der Gesellschaft in der Revolution?
Niess: In der Revolution, was die Revolutionsbewegung selbst angeht, im Grunde kaum, erstaunlicherweise. Die verlief außerordentlich friedlich. Wir haben 15 Tote am 9. November in Berlin. Da gibt es Revolutionen, die mit ganz anderen Opferzahlen aufwarten.
Ganz anders die Konterrevolution, aber man muss sich klar machen, dass es sich dabei häufig nicht um spontane Gewaltakte gehandelt hat. Hauptmann Waldemar Pabst, der eigentliche Chef der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, hat mit völlig kühlem Kopf die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht befohlen. Er hat es auch als große psychologische Aufgabe gesehen, seine Männer ideologisch auf den Kampf gegen die eigenen Landsleute vorzubereiten, und das ist ihm gelungen. Bei den Kämpfen im Frühjahr, die eher Massaker waren aufgrund der militärischen Überlegenheit dieser Truppen, sind etwa 2000 Männer und Frauen umgebracht worden.
"Man kann Demokratie auch verlieren"
Heinemann: Wolfgang Niess, inwiefern bildet die Revolution von 1918/19 den wahren Beginn unserer Demokratie?
Niess: Schon auf den ersten Eindruck natürlich. Zum ersten Mal wurde dauerhaft auf deutschem Boden eine demokratische Republik verankert, und diese demokratische Republik war eben nicht ein Geschenk der obersten Heeresleitung oder des Kaisers. Wir verdanken sie nicht Reformen im Kaiserreich, die ja im Oktober noch zuletzt versucht worden sind, sondern wir verdanken sie den Männern und Frauen, die im November unter Einsatz ihres Lebens dafür gekämpft haben. Ich denke, es ist gerade heute wichtig, sich das wieder klarzumachen. Man kann Demokratie auch verlieren, was wir in der Endphase der Weimarer Republik erlebt haben, und man muss für sie kämpfen.
Heinemann: Welche uns heute selbstverständliche demokratische und soziale Errungenschaften hat diese Revolution geformt?
Niess: Zuvorderst die parlamentarische Demokratie. Wir verdanken aber auch das Frauenwahlrecht dieser Revolution wurde ganz selbstverständlich verfügt am 12. November 1918. In der Weimarer Verfassung wurden Freiheitsrechte garantiert. Soziale Rechte wurden verankert in dieser Verfassung. Im sozialen Bereich wurde der Acht-Stunden-Tag sofort im November auch verabredet. Es fand am 15. November 1918 eine Verständigung zwischen Unternehmern und Gewerkschaften über Mitbestimmung in der Wirtschaft statt. Später sind die Betriebsräte übrig geblieben von dieser Rätebewegung, die ja zunächst die Macht in Deutschland übernommen hatte, aber dann dafür eintrat, eine parlamentarische Demokratie zu installieren. - Wenn man das alles zusammennimmt, dann kann die Schlussfolgerung nur sein, die Revolution von 1918/19 ist eine der stärksten Wurzeln unserer heutigen Bundesrepublik.
Heinemann: Der Journalist und Historiker Wolfgang Niess, Autor des Buchs "Die Revolution von 1918/19" – Untertitel "Der wahre Beginn unserer Demokratie", gerade erschienen.
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