"Deutschland schafft sich ab" gehört zu den meistverkauften Sachbüchern seit Gründung der Bundesrepublik. Ein Grund, sich zu freuen, sollte man denken. Doch in seinem neuen Buch offenbart Thilo Sarrazin auf mehr als 100 Seiten, wie verbittert er auch heute noch über die zahlreichen Verrisse ist, die "Deutschland schafft sich ab" erntete. Der Autor kann es nicht verwinden, wegen seiner Thesen aus dem Vorstand der Bundesbank gedrängt worden zu sein. Unter anderem von Angela Merkel.
"Die Initiative der Bundeskanzlerin ... machte jedem in der eigenen Partei klar, dass auf Wohlwollen und Karriere nicht rechnen konnte, wer Sarrazins Buch und seinen Thesen etwas abgewann, und so stieg aus der CDU zu dem Thema fürderhin ein tiefes Schweigen auf."
Thilo Sarrazin glaubt an ein Medienkartell. Er sieht eine Clique von Meinungsmachern am Werk, mehrheitlich im linken oder linksliberalen Lager. Dieses Meinungskartell bestimme in informellem Kontakt zu einer laut Sarrazin "opportunistischen und geistig recht wenig profilierten Politikerklasse", wo die Grenze zu ziehen ist zwischen dem, was in Deutschland gesagt werden darf und was nicht. Nun erinnern sich aber viele Fernsehkonsumenten an zahlreiche Talkshows, in denen Thilo Sarrazin seinerzeit auftrat und ganz ungehindert Thesen wie diese vortragen durfte:
"Die muslimischen Migranten kosten aufgrund ihrer niedrigen Erwerbsbeteiligung und hohen Inanspruchnahme von Sozialleistungen die Staatskasse mehr, als sie an wirtschaftlichem Mehrwert einbringen. Demografisch stellt die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht im alternden Europa dar."
Das durfte er schreiben, das durfte er in Funk und Fernsehen wiederholen. Aber das steigerte eben nicht seine Beliebtheit bei Entscheidungsträgern in Politik und Medien. Sie griffen ihn an. Und zwar nicht immer fair. Grimmig und wortreich klagt der Autor seine Kritiker an, "Deutschland schafft sich ab" nicht sorgfältig genug gelesen und immer wieder unkorrekt zitiert zu haben.
"Gewissen Journalisten geht es offenbar gar nicht um die Vermittlung von Erkenntnissen und relevanten Aspekten, sondern um propagandistisches Hintreiben des Medienkonsumenten zur als richtig erachteten Meinung."
Der gekränkte Autor ist überzeugt: Die Journalisten waren über den Erfolg von "Deutschland schafft sich ab" entrüstet, weil sie angesichts von Millionen Sarrazin-Fans ihr linksliberales Meinungsmonopol bedroht sahen. Sie hätten ihn in die rechtspopulistische Ecke geschoben, um seine unbequeme Meinung zu verhindern.
"Entscheidend soll vielmehr die Meinung der Mehrheit in der Medienklasse sein. Diese möchte gerne festlegen, was das Volk richtigerweise denken sollte, und sie zögert nicht, das Volk zu zensieren, wenn es mehrheitlich das Falsche denkt."
Dass "Deutschland schafft sich ab" nicht verrissen wurde, weil es Tabus gebrochen hat oder politisch inkorrekt war, sondern weil die Kritiker Sarrazins Standpunkte für falsch und verletzend hielten, kann sich der Autor nicht vorstellen. Er habe niemanden verletzt, verteidigt er sich.
"Beleidigt hatte ich vielmehr das Weltbild der Verharmloser und Schönfärber im harmoniefreudigen Müslimilieu."
"Verharmloser und Schönfärber"' - das sind für Thilo Sarrazin die neuen "Tugendterroristen". Ansätze ihrer Denkweise glaubt er bereits im Frühchristentum und bei Vertretern der Französischen Revolution auszumachen oder sogar in den dereinst neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika. Heute spürt er die Denkweise hauptsächlich bei Zeitgenossen auf, die mit der Sprache Unterschiede eliminieren wollen. Also bei jenen, die nicht mehr "Negerkuss" sagen und auch nicht "Zigeuner", die nicht mehr von" Hilfsschülern" reden und Wörter vermeiden, von denen sich andere Menschen stigmatisiert fühlen könnten. Thilo Sarrazin nennt sie die Apologeten der political correctness und hält sie für besessen vom Gleichheitswahn.
"Für alles Ungleiche sind entweder Ungerechtigkeiten oder äußere Umstände ursächlich, die niemand zu verantworten hat. Soweit Wettbewerb zu Ungleichheit führt, ist er illegitim. Jedes äußere Anzeichen von Ungleichheit soll vermieden werden."
14 Postulate der sogenannten Tugendterroristen
Im letzten Drittel von "Der neue Tugendterror" stellt der Autor insgesamt 14 Postulate der sogenannten Tugendterroristen vor. Laut Sarrazin gehören zu ihren Glaubenssätzen unter anderem die Annahmen, dass alle Kulturen gleichwertig sind, dass Männer und Frauen bis auf ihre physischen Geschlechtsmerkmale keine angeborenen Unterschiede haben - oder dass die menschlichen Fähigkeiten fast ausschließlich von Bildung und Erziehung abhängen. Eines ihrer Postulate laute zum Beispiel, dass die Pflege von Sekundärtugenden nicht wichtig und der Leistungswettbewerb fragwürdig sei. Menschen, die diese Haltung vertreten, denken laut Sarrazin:
"Es gibt keinen Grund, jene in ihrem Tun zu bestärken, die sich besonders anstrengen. Damit dienen sie ja sowieso nur ihrem privaten Ehrgeiz und Egoismus. Sie beschämen und irritieren alle anderen, die möglicherweise weniger leisten, aber vielleicht die besseren Menschen sind."
Diesen angeblichen Axiomen, die der Autor übertrieben zugespitzt formuliert, stellt er die "Wirklichkeit" gegenüber. Thilo Sarrazins Wirklichkeit. Auf den Glaubenssatz "Der Islam ist eine Kultur des Friedens. Er bereichert Deutschland und Europa" entgegnet der Autor zum Beispiel:
"Offen bleibt die Frage, ob ein gewaltfreier, pluralistischer, demokratischer Islam überhaupt möglich ist, ohne dass diese Religion, die auf der Einheit von Glauben und Gesellschaft aufbaut, ihre Seele verliert. Darum steht zu Recht das Misstrauen im Raum, was letztlich in westlichen Gesellschaften geschieht, wenn dort Muslime die Mehrheit haben, oder in deren Nähe kommen. Zum weitverbreiteten Wunschdenken rund um den Islam gehört eben auch, dass die Muslime in Deutschland als Folge ihrer kulturellen Anpassung alsbald so geburtenarm seien wie die Deutschen selbst."
Es bleibt Thilo Sarrazins Geheimnis, wo man den Tugendterroristen, deren Postulate er kritisiert, in der Wirklichkeit begegnen könnte. Auch was die angeblichen Glaubenssätze der Tugendterroristen mit den behaupteten Grenzen der Meinungsfreiheit zu tun haben, erschließt sich nicht. Die Annahme, derartige Glaubenssätze könnten einen Denkstil repräsentieren, der Medien und Politik beeinflusst, hat mit der Realität so viel zu tun wie eine Rummelplatz-Geisterbahn mit wirklichem Grauen. Die Denkstile, die der Autor hier entwirft, existieren so gar nicht. Und deswegen dominiert am Ende der Eindruck, dass "Der neue Tugendterror" vor allem eines ist: Das Buch eines narzistisch gekränkten Mannes, der nicht damit klargekommen ist, dass eine Elite in Politik und Medien ihm die Anerkennung verweigert hat, obwohl er doch so gerne zu den deutschen Meinungsführern gehört hätte.
Mit seinen neuen Parolen wird Thilo Sarrazin es vermutlich wiederum in die Talkshows des deutschen Fernsehens schaffen. Aber von seinem Traum, zur Elite der Meinungsführer in Deutschland zu gehören, kann er sich nun endgültig verabschieden.
Thilo Sarrazin: "Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland"
Deutsche Verlags-Anstalt, die 397 Seiten, 22,99 Euro
Deutsche Verlags-Anstalt, die 397 Seiten, 22,99 Euro