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Gesa Jessen: „Ein lautes Lied“
Eine nachgereichte Liebeserklärung

Trauerbuch und Liebeserklärung: Gesa Jessens Debüt „Ein lautes Lied“ wirft mit Benjamin- und Adorno-Zitaten um sich - und es funktioniert. Dieser Abgesang auf eine Beziehung steckt voller Inbrust und intellektueller Wachheit.

Von Tobias Lehmkuhl |
Gesa Jessen: "Ein lautes Lied"
Zu sehen sind die Autorin und das Buchcover
Gesa Jessens "Ein lautes Lied" ist eine nachgereichte Liebeserklärung (Buchcover: Matthes & Seitz / Foto: Mathilde Tijen Hansen)
Das kann doch nicht funktionieren. Eine Erzählerin, die mit Benjamin- und Adorno-Zitaten um sich wirft, die Rilke zitiert und zahllose Orte in Berlin aufruft, die zwar jedem Hipster in Neukölln und jedem Studi in Dahlem vertraut sein mögen, die einem Menschen in Mannheim oder Höxter aber so fremd und prätentiös erscheinen müssen wie überhaupt diese von allen ökonomischen und politischen Weltläufen abgetrennte Liebesgeschichte zweier junger Geisteswissenschaftler zwischen Oxford, Mexiko City und der deutschen Hauptstadt. Aber es funktioniert eben doch. Denn Gesa Jessens „Ein lautes Lied“ ist von einer Unbedingtheit, Inbrunst und intellektuellen Wachheit wie man sie selten in einem Debüt und wie man sie überhaupt selten in der deutschen Literatur findet.

Blüten in der Dunkelheit

"Manchmal sind wir die ganze Bundesallee bis zu mir nach Schöneberg gelaufen, dann schon Nacht, der süße Duft erst der Kastanien und später im Jahr der Linden, die Blüten in der Dunkelheit wie Porzellan. Jedes Mal, wenn ich schon denke, ich kann auch weiterleben ohne dich, dann kommt so ein Abend und ich will dagegen anstürmen, wieder und wieder, wie eine Wahnsinnige, wie eine wirklich Verrückte, die nicht einsehen kann, dass du in mir nicht mehr finden wirst, was du suchst."

Eine Beziehung ist vorbei und ein Buch beginnt. Vier oder fünf Jahre waren der namenlose Philosophiestudent und die Erzählerin namens Gesa Jessen ein Paar, spazierten stundenlang durch Berlin und diskutierten über Gott und die Welt, küssten sich auf Unifluren und kauften die Antiquariate der Hauptstadt leer. Was man halt so macht als Student und junger Mensch. Aber nur, weil es alle machen, heißt es nicht, dass es dem Einzelnen weniger bedeutet. Und Gesa bedeutet es, so lang es dauert und weit darüber hinaus, die Welt.

"Ich finde dich so schön, es trifft mich wieder und wieder, dieses Glück, in dein Gesicht zu sehen. Als wäre darin etwas zu finden, das sich nicht ausdrücken, nicht übersetzen lässt, etwas in dem Schwung deiner Augenbrauen, der Krümmung deiner Nase und der Form deines Mundes. Als wäre das ein Zeichen. Etwas, auf das ich immer wieder werde antworten müssen." 

Schreiben statt putzen

„Ein lautes Lied“ ist eine Elegie, ein Abgesang auf eine Beziehung, eine nachgereichte Liebeserklärung, von einer Intensität, wie man sie selten zu hören oder zu lesen bekommt. Es ist aber vor allem ein Buch von großer Klarsicht dem eigenen Empfinden und Denken gegenüber, das Buch einer großen Leserin, die Lacan zitiert, und Walter Benjamin und Theodor Adorno wie Ratgeberliteratur liest, auch wenn sie weiß, dass denen das gar nicht gefallen würde.
Und es ist vor allem auch das Buch einer Schreibenden, einer ganz in Schrift verstrickten, deren Schreibpuls immer weiter schlägt, auch wenn das liebende Herz zu versagen droht.

"Ich weiß, dass ich noch das Zeitungspapier im Mülleimer von den benutzten Kaffeebechern trennen und meine Schuhe, die im Schrank stehen, putzen muss – all diese Dinge gehören ja zu mir, warten sozusagen sehnsüchtig darauf, dass ich mich ihrer wieder annehme, aber ich sitze da und kann nicht. Kann einfach nicht meinen Körper aufheben und diese Handgriffe verrichten, das Einzige, was ich gerade so tun kann, ist, sie aufzuschreiben."

Liebeskummer, ist das nicht ein etwas läppisches und auch ziemlich abgenutztes Thema für ein Buch? Nicht, wenn man es mit einem solchen Ernst, mit einer solchen Kompromisslosigkeit, mit einem so bewundernswerten Gefühl für Form und Rhythmus angeht wie Gesa Jessen. „Ein lautes Lied“ ist kein leises Lied. Jedes Wort in diesem Buch singt die Autorin deutlich und klar phrasiert.
Gesa Jessen: „Ein lautes Lied“
Edition Rohstoff, Berlin. 170 Seiten, 10 Euro.