Heinz Bude: "Abschied von den Boomern"
Eine Würdigung der Boomer-Generation

In "Abschied von den Boomern" beschreibt Soziologe Heinz Bude seine Generation als durchaus kompetent in Sachen Zukunft. Lücken zeigt sein Buch vor allem bei aktuellen Fragen wie dem Erstarken rechter Bewegungen.

Von Martin Hubert |
Ein älteres Pärchen macht mit dem Smartphone Selfies im Garten (gestellte Szene).
Die Boomer-Generation bewegte sich laut Bude zwischen zwei Tendenzen: Sie sei pragmatisch und skeptisch, denke aber auch experimentell und wolle tatkräftig Neues ausprobieren. (picture alliance / dpa-tmn / Benjamin Nolte)
Dass man sich mit den allmählich abtretenden Boomern beschäftigen muss, liegt auf der Hand. Das Problem ist nur, dass sie alles andere als leicht zu fassen sind. Schließlich sind es viele Jahrgänge, die kein großes Wir-Gefühl verbindet.
Heinz Bude weiß das aus erster Erfahrung, denn er ist selbst ein früher Boomer, der im Mai 2023 in den Ruhestand gegangen ist. Seine soziologische Abschiedsvorlesung an der Universität Kassel widmete er - sinnigerweise - dem Abschied von den Boomern. Wie in dieser versucht er sich auch im Buch nicht an einer großen Systematik. Stattdessen präsentiert er eine Art essayistisches Generationen-Movie.
Er lässt wichtige historische Stationen der deutschen Boomer Revue passieren und versieht sie mit Interpretationsangeboten. Wenn er die Frühzeit der Boomer beschreibt, ruft er beispielsweise solche anschaulichen Erinnerungen wach.
„Man darf nicht vergessen, dass die Boomer im Nachbeben des Weltkriegs aufgewachsen sind. Sie erinnern sich an den Friseur, der sich durch seinen Salon mit einer Beinprothese jonglierte, und an den Nachbarn von gegenüber, dem ein Arm fehlte und der sich als Nachtwächter sein Geld verdiente; sie haben als Kinder von Flüchtlingen und Vertriebenen erlebt, wie die ganze Energie ihrer Eltern in den Bau eines Eigenheims floss.“

Politische und kulturelle Prägung

Ähnlich plastisch wird der Leser dann über die Ostpolitik Willy Brandts zu den neuen sozialen Bewegungen, der RAF und der Hausbesetzerbewegung geführt, die Bude selbst miterlebt hat. Es folgen Brokdorf, Tschernobyl und die Wiedervereinigung. Eingestreut sind Reminiszenzen an Kleidermoden, Musik, Filme und Romane.
Bude zeigt eine Abfolge, kein monolithisches Generationenbild. Aber er findet bei den Boomern doch so etwas wie eine eigene Haltung, die sie von ihren Vorgängergenerationen abgrenzt. Weder seien sie in das katastrophische Kriegs- und Nachkriegselend ihre Eltern und Großeltern verstrickt gewesen, noch trauten sie dem utopischen Denken der 68er.
Sie profitierten vom Wirtschaftswunder und der Bildungsreform, aber richtig euphorisch seien sie nie geworden. „Die Boomer sind ihr ganzes Leben lang auf Begriffe gestoßen, an die sie nicht glauben konnten, die sie sich aber trotzdem irgendwie anverwandelt haben: Leistung, Gemeinschaft, Technik, Fortschritt und Zukunft. Dass der Programmbegriff der Leistungsgesellschaft eine Schimäre darstellte, wurde der Generation der Vielen schon auf der Schule klar. Sie waren einfach zu viele, und deshalb blieben viele, die viel leisten wollten, trotzdem auf der Strecke.“

Skeptisch und pragmatisch

Die Boomer bewegten sich daher zwischen zwei Tendenzen. Sie seien pragmatisch und skeptisch und rechneten mit dem Scheitern. Sie dächten aber auch experimentell und wollten tatkräftig Neues ausprobieren.
Immer wieder vergleicht Bude auch die West- mit den Ostboomern. Letzteren bescheinigt er eine tatkräftige Skepsis, die sogar geschichtsmächtig geworden sei: „Die DDR ist durch die Stimme des Volkes auf der Straße, das erst fast weimarisch ‚Wir sind das Volk!‘ und dann neodeutsch ‚Wir sind ein Volk!‘ skandierte, angezählt worden. Aber den Garaus haben ihr die Boomer gemacht, die sich einfach umgedreht haben und abgereist sind.“
Schon vorher wurde für den Autor auch im Westen die skeptische Haltung zunehmend genährt. Ab den 1970er-Jahren ging die Wachstumsdynamik zurück, die Klimaproblematik tauchte auf und es folgten Katastrophen wie AIDS oder Tschernobyl. In einer zunehmend unsicher werdenden Welt schien wirklich nur noch Verlass auf das eigene, experimentell handelnde Ich zu sein. So interpretiert Bude die Abwendung von großen Sinnkonzepten und die Wende zum Individuellen, die sich in den 1980er-Jahren mit dem Neoliberalismus verbunden hätte.

Mehr Differenzierung wäre gut

„Die Boomer haben den Neoliberalismus als Ausdrucksform einer Revolution des Ichs verstanden. Sie hatten schon in den 1970er-Jahren die Erkenntnis gewonnen, dass die Gesellschaft nicht mehr durch die gusseisernen Formen des Sozialen oder durch den historischen Kompromiss zwischen einem bürgerlichen und einem proletarischen Block zusammengehalten wird. Das Ich hatte diese Halterungen abgeworfen und sich selbst als Objekt einer befreienden Unruhe entdeckt.“
Bude bewertet diese befreiende Unruhe positiv. Sein Urteil über das eigene Kollektiv fällt letztlich recht versöhnlich aus. Und er hält die Boomer durchaus für zukunftsfähig, anders als es die Generation Y sieht. Doch Vieles tippt er auch nur an, und das Buch zeigt Lücken.
Man fragt sich etwa, ob man nicht stärker differenzieren müsste zwischen den Boomern, die noch von den Nachwirkungen von 1968 beeinflusst wurden, den konservativen Boomern, die Kohl und Merkel wählten und denen, die dem postmodernen Denken frönten. Oder warum die Wende zum Populismus und das Erstarken rechter Bewegungen im Buch nur eine geringe Rolle spielt. Aber was Bude präsentiert, trägt Diskussionswürdiges zum Bild der Boomer bei, die einfach schwer zu fassen sind.
Heinz Bude: "Abschied von den Boomern", Hanser Verlag, 144 Seiten, 22,00 Euro