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Rezension "Martin Luther. Der Reformator und sein Werk"
Luther ohne Jubelarien

Im Jahr 2017 wird der Geburtstag der Reformation in Deutschland gefeiert, denn im Herbst 1517 hat der Mönch Martin Luther seine 95 Thesen zur Reform der Kirche veröffentlicht. Der Tübinger Kirchengeschichtsprofessor Ulrich Köpf führt nun auf rund 250 Seiten in sein Leben und Werk ein.

Von Christoph Fleischmann |
    Denkmal des Reformators Martin Luther (1483-1546) mit der Stadtkirche im Hintergrund in der Lutherstadt Wittenberg (Sachsen-Anhalt).
    Denkmal des Reformators Martin Luther mit der Stadtkirche im Hintergrund in der Lutherstadt Wittenberg (dpa / picture alliance / Peter Endig)
    Was wollte dieser Mönch aus Wittenberg, der nach unserer üblichen Epocheneinteilung zu Beginn der Neuzeit lebte? Er war, so die Antwort vom Kirchenhistoriker Ulrich Köpf, ein durch und durch religiöser Mensch, ein Mensch des Mittelalters mit mittelalterlichen Problemen. Aber er hat in der Auseinandersetzung mit der Kirche und der Theologie des Mittelalters neue Antworten auf seine drängenden Fragen gefunden:
    "Der alte Sinn des Wortes Gerechtigkeit, auch in der Theologie, war ganz stark durch Aristoteles geprägt, den griechischen Philosophen, der unter Gerechtigkeit eine aktive Vergeltung des Guten wie des Bösen verstanden hat. Und das hat nach Luthers Auffassung zu einer Überbetonung der Werke und einem Gedanken einer Gerechtigkeit aus Werken geführt, der sich so in seiner Lebenswirklichkeit nicht bewährt hat."
    Durch religiöse Leistungen – Werke sagte man damals – habe Luther keinen Seelenfrieden gefunden und deswegen die Bibelstellen zum Thema Gerechtigkeit neu bedacht:
    "Dabei ist er eben auf eine neue Lösung gekommen: Gerechtigkeit sollte nicht mehr die Gerechtigkeit sein, die dem Menschen aufgrund seiner Werke, seiner Verdienste, von Gott zugesprochen wird, sondern es sollte die Gerechtigkeit sein, die Gott dem Menschen ohne Verdienste zuspricht, so wie das ja Paulus formuliert."
    Von der philosophischen Autorität des Mittelalters, Aristoteles, verabschiedete sich Luther. Eine andere Autorität, den Mönchstheologen Bernhard von Clairvaux, aber nahm er immer wieder zustimmend auf. Und betonte, wie wichtig die Erfahrung sei, um die christliche Lehre zu verstehen. Aber gerade der Bezug auf die eigene Erfahrung brachte ihn in Konflikt mit der Kirche:
    "Luther hat die Rolle des religiösen Subjektes neu entdeckt. Das war dann für ihn auch der Anlass, die Kirche als Heilsinstanz, als Heilsanstalt, die das Individuum in seinen Bann zieht, von der das Individuum abhängig wird, zu kritisieren."
    Verwurzelung in der mittelalterlichen Geisteswelt
    Eine Stärke von Köpfs Einführung ist sicher, dass er diese Verwurzelung Luthers in der mittelalterlichen Geisteswelt deutlich macht. Hervorragend ist sie aber auch, weil Köpf ganz sachlich informiert ohne jeden konfessionellen Zungenschlag. Das einzige, was man kritisieren könnte, wäre, dass Köpf Luthers zahlreiche Gegner nicht in ihrem Anliegen würdigt. Aber das ist verzeihlich bei einem Buch, das sich der Einführung in Luthers Denken widmet: Dieses Denken präsentiert Köpf, der Luthers Oeuvre wie kaum ein anderer überblickt, in schönen Zitaten der deutschen Originalfassung Luthers, die nicht dem Hochdeutschen angepasst sind:
    "Wir seindt allsampt zu dem tod gefodert und wirt keyner für den andern sterben, Sonder ein yglicher in eygner person für sich mit dem todt kempffen. In die oren künden wir woll schreyen, Aber ein yeglicher muss für sich selber geschickt sein in der zeyt des todts: ich würd denn nit bey dir sein noch du bey mir. Hierjnn so muss ein yederman selber die hauptstück so einen Christen belangen, wol wissen und gerüst sein."
    Luthers neuer Glaube – die persönliche Begegnung mit einem gnädigen Gott frei von der Heilsanstalt Kirche – hatte eine mittelalterliche Wurzel: das Bewusstsein von der heillosen Sündhaftigkeit des Menschen.
    "Für Luther ist die Sünde, sogar die Erbsünde, die für uns heute ein Konstrukt seit der alten Kirche ist, für Luther ist die Erbsünde wirklich eine unmittelbare persönliche Erfahrung."
    Und auch diese mittelalterliche Wurzel, die Voraussetzung seiner neuen Antworten, hat Luther der Neuzeit vermacht:
    "Das Sündenbewusstsein ist bei Luther und auch im nachlutherischen Protestantismus stark ausgeprägt."
    Dialektik von Neuem und Altem
    Diese Dialektik von Neuem und Altem macht Luthers Erbe aus. Die Gegensätze verdeutlicht Köpf noch anhand eines anderen Themas: Obwohl Luther sich in einer Welt sah, die fraglos vom Teufel beherrscht wurde, kam er in Bezug auf Gott doch zu erstaunlich modernen und vorwärtsweisenden Vorstellungen:
    "Der Glaube ist nicht mehr das Fürwahrhalten von Aussagen wie in der Tradition seit Platon, sondern das Glauben ist eine Zuversicht, ein Sich-Einlassen, ein Sich-Verlassen auf das gesprochene Wort. Und in diesem dem Menschen zugesprochenen Wort ist eine Verheißung enthalten, auf die der Mensch mit seinem Glauben, mit seiner Zuversicht antwortet. In dieser Beziehung zwischen Wort und Glaube ist Gott gegenwärtig, aber als etwas Unanschauliches."
    Oder in Luthers eigenen Worten:
    "Was heist ein Gott haben oder was ist Gott? Ein Gott heisset das, dazu man sich versehen sol alles guten und zuflucht haben ynn allen nöten. Also das ein Gott haben nichts anders ist denn yhm von hertzen trawen und gleuben, wie ich offt gesagt habe, das alleine das trawen und gleuben des hertzens machet beide Gott und abeGott. [ ... ] Worauff du nu (sage ich) dein hertz hengest und verlessest, das ist eygentlich dein Gott."
    Wer sich anlässlich des Lutherjubiläums über Luther ohne Jubelarien informieren will, der greife zu Köpfs zuverlässiger und erhellender Einführung in Luthers Leben und Denken.
    Buchinfos:
    Ulrich Köpf: "Martin Luther. Der Reformator und sein Werk", Reclam Verlag, Stuttgart 2015, 254 Seiten, Preis: 22,95 Euro