Überall in Wiedenbrück trifft man auf sie, die Alltagsmenschen. Dicke runde Frauen, gemütliche Skatrunden, der Schützenverein, locker gruppiert, quer durch die Stadt. Skulpturen. Erschaffen von der Künstlerin Christel Lechner. Aus Beton. In diesen Tagen wirken sie noch fremder als sonst. Denn nichts stimmt mehr an diesem Westfalen-Idyll. Und wenn das eine in dieser Stadt schon sehr lange weiß und sehr lange sagt, dann ist das Inge Bultschnieder.
"Heute war ich wieder in dem Haus."
Sie sitzt am Küchentisch in ihrem Haus in Wiedenbrück. Aber vor ihrem inneren Auge ist sie wieder in einer der verlassenen Sammelunterkünfte mit schwarzem Schimmel in den Ecken, nicht weit von ihrem Wohnhaus entfernt.
"Es stinkt so widerlich in diesem Haus. Man sich das nicht vorstellen, man kann eigentlich nur mit Atemschutzmaske da reingehen. Ich hab noch einen Brief gefunden im Haus vom 13.6., den jemand ins Haus gelegt hat. Das heißt, am 13.6. hat dort noch jemand gewohnt."
Unterbringung unter dubiosen Bedingungen
Das grüne Haus ist eins von rund 455 Schlafstätten in Rheda-Wiedenbrück, 1300 im Kreis Gütersloh. Rund 3000 Arbeiter und Arbeiterinnen sollen in der Stadt leben, weitere 3000 im Umkreis. Eine Schätzung. Denn so genau weiß man das nicht.
"Und wir haben immer darauf hingewiesen, dass es nicht sein kann, dass einer vom Subunternehmen sämtliche Ausweise der Arbeiter einsammelt und dann mit Sammelanmeldungen zur Stadt geht und sagt: 'Ich hab hier 50 Leute, die möchte ich da und da anmelden.'"
Inge Bultschnieder lag 2012 im Krankenhaus und erfuhr vom Elend der Beschäftigten durch ihre Zimmernachbarin. Anders als viele in der Stadt wollte sie nicht schweigen und wegschauen. Sie gründete die Interessengemeinschaft Werkfairträge, mit fair wie ‚gerecht‘ zwischendrin. Kleinigkeiten haben sich verbessert, aber das Kernproblem ist geblieben, die totale Abhängigkeit für Arbeit und Wohnen von den Subunternehmern.
"Die Bullis holen sie ab, sonst erlebe ich sie im Stadtbild nicht"
Wie kann das sein, dass eine ganze Stadt den Mißständen tatenlos zusieht, über Jahre hinweg? Dabei leben die Familien, die überwiegend aus Rumänien, Bulgarien oder Polen stammen, zum Teil schon seit vielen Jahren hier. Was bekommen ihre Nachbarn mit?
"Sehen tu ich die nicht, das liegt daran, dass sie in den Häusern verschwinden. Die Bullis holen sie ab, sie steigen ein, steigen aus, ansonsten erlebe ich sie im Stadtbild nicht", erzählt Solveig Disselkamp-Niewiarra, mit mehreren Unterkünften in der Nachbarschaft.
Und die Beschäftigen selbst und ihre Familien? Wie geht es ihnen, wer versorgt sie? Eine Tür in einer der Unterkünfte öffnet sich.
"Und wie werden Sie versorgt?"
"Bei die Firma, die bringen zu uns, zum Beispiel Brot oder Wasser oder was wir brauchen. Aber Samstag haben wir eingekauft."
"Bei die Firma, die bringen zu uns, zum Beispiel Brot oder Wasser oder was wir brauchen. Aber Samstag haben wir eingekauft."
Diese Frau muss mit ihren vier Kindern jetzt in Quarantäne bleiben.
Wo sind die Leiharbeiter jetzt?
Viele andere Häuser stehen leer. Wo sind die Menschen jetzt? Diese Fragen beschäftigen auch Volker Brüggenjürgen, sowohl als Vorsitzenden des Kreis-Caritasverbandes als auch als Fraktionsvorsitzender der Grünen im Stadtrat Rheda-Wiedenbrück.
"Sie sind es eigentlich gewohnt, dass sie, wenn keine Arbeit mehr vorhanden ist, auch keinen Lohn bekommen. Ich glaube, dass die Einschätzung sehr sehr klar ist, wenn das bei Tönnies zu ist, dass man dann in Quarantäne ist, aber nicht auf Lohn hoffen darf. Von daher werden sich viele auf den Weg gemacht haben."
Noch bei einer Ratssitzung am 18. Mai wurde das Hygienekonzept der Firma Tönnies gelobt. Mittlerweile ist klar, dass die Auflagen nicht eingehalten wurden und viele der Angaben nicht stimmen. Das Ausmaß der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schäden für die Bevölkerung und die Zahl der Opfer sind nicht abzusehen.
Die öffentliche Aufmerksamkeit bringt auch Hoffnung
Inge Bultschnieder sieht jetzt endlich Licht am Ende des Tunnels:
"Ich hab wirklich eine ganz große Hoffnung und ein großes Vertrauen in Herrn Laumann, dass er das jetzt gemeinsam mit Herrn Heil auch umsetzt, dass also diese Art des Werkvertrags tatsächlich gegessen ist. Dass am 1. 1. 2021 also dieser Scheiß gelaufen ist."