Archiv

Richard McGuire
Amerikas Geschichte als Comic

1989 veröffentlichte der Amerikaner Richard McGuire im Szenemagazin "Raw" den sechsseitigen Comic "Here". Darin setzte er sich über die übliche Einheit von Raum und Zeit hinweg. "Here" gilt als Meilenstein der Comicgeschichte. Zum 25. Jubiläum der Erstveröffentlichung hat McGuire seine Maßstäbe setzende Comic-Short-Story auf eine 300 Seiten starke Graphic Novel erweitert.

Von Tabea Soergel |
    Aufgenommen am 21.07.2013 in Münster-Altheim.
    Jede gezeichnete Doppelseite in "Hier" zeigt den Ort in einem bestimmten Jahr. (picture alliance / dpa / Susannah V. Vergau)
    "Hallo, wir kommen von der archäologischen Gesellschaft. Hätten Sie einen Moment Zeit?"
    Im Jahr 1986 klingelt eine Gruppe von Hobbyarchäologen bei einer älteren Dame irgendwo in Nordamerika. Zu sehen ist in diesem Moment ein menschenleeres Wohnzimmer. Das Gespräch an der Haustür dringt nur in Form von Sprechblasen ins Bild. Über die Stimmen aus dem Off wundert man sich als Leser keineswegs: Denn jede Doppelseite von Richard McGuires Graphic Novel "Hier" zeigt nichts anderes als einen einzigen Ort, dieses Wohnzimmer in fahlen Farben. Ein Raum im Wandel der Zeit. Die Einrichtung wechselt etwas häufiger als die Bewohner, von deren Leben man nur Fragmente erhascht: Gesprächsfetzen, Momentaufnahmen, oft ganz banale Situationen, aber auch einschneidende Ereignisse und Wendepunkte. Einmal sind fein säuberlich datiert all die kleinen Katastrophen zusammengestellt, die sich im Wohnzimmer zugetragen haben: zerbrochene Fenster, Gläser und Teller, zersprungene Spiegel, eine körperliche Auseinandersetzung. Und all die Schimpfwörter, die im Laufe der Zeit gefallen sind:
    "Tropf. Irrer. Trottel. Drecksack. Spinner. Arsch. Trampel. Flasche. Spießer. Eierkopf. Blödmann. Psycho. Scheißkerl. Spasti. "
    Ein Ort der Handlung, aber die gesamte Weltgeschichte
    Hätte sich Richard McGuire auf das Jahrhundert nach der Errichtung des für seine Geschichte zentralen Hauses im Jahr 1907 beschränkt, wäre seine Idee einer alternativen Chronik Amerikas noch immer charmant und ungewöhnlich gewesen, hätte sich aber vielleicht doch bald erschöpft. Dem Autor fällt es indes nicht ein, sich an seine eigenen Spielregeln zu halten. Der Ort der Handlung bleibt zwar stets derselbe, doch zeitlich erstreckt sich sein Buch über die gesamte Weltgeschichte - buchstäblich: Die weiteste Rückblende reicht zurück bis ins Jahr 3.000.500.000 v. Chr., als sich an der Stelle des Hauses eine Wasserlandschaft unter einem zerklüfteten Himmel in grellen Farben befindet und die Erde noch menschenleer ist. Erzählt wird nicht chronologisch, sondern in Form wilder Sprünge durch die Jahrtausende; der Schwerpunkt ist und bleibt aber das zwanzigste Jahrhundert, sozusagen das Jahrhundert des Wohnzimmers, dem Schauplatz der alltäglichen Dramen seiner Bewohner - und auch ganz stiller Momente, wenn etwa ein junger Vater mit seinem Neugeborenen im Arm am Fenster steht und ihm den nächtlichen Himmel zeigt:
    "Das ist der Mond."
    Jede Doppelseite zeigt den Ort in einem bestimmten Jahr. Mithilfe weiterer, kleinformatiger Frames im selben Bild öffnet sich der Raum: Man sieht das Geschehen auf einem klar begrenzten Areal des Wohnzimmers vor 50, vor 400, vor 12.000 Jahren. So begegnen einem bei der Lektüre zwischen Sitzgruppe und Kamin nicht nur Dinosaurier, Wölfe und Kolonialisten, sondern man vollzieht die Entwicklung des Ortes anhand von Schlaglichtern in die Vergangenheit in ihrer ganzen Fülle nach. Im Wohnzimmer der alten Dame aus dem Jahr 1986 findet parallel eine Liebesszene aus dem 17. Jahrhundert statt: Wir sehen - als Bild im Bild - ein indianisches Paar, das sich einst genau hier traf. Und als es an der Tür der alten Dame klingelt, sagt im Jahr 1609 der Mann zu seiner Geliebten:
    "Ich habe etwas gehört. Sei leise."
    Immer wieder ergeben sich spannende Bildkompositionen, wenn etwa im Jahr 1970 ein lesendes Mädchen vor einem gewaltigen Büffel liegt, der 10.000 v. Chr. an dieser Stelle rastete - ein fast schon ikonografisches Arrangement. McGuire erzählt seine Geschichte mit minimalem Wortaufwand. Bis auf die Gespräche der Figuren gibt es keinen Text. Stilistisch arbeitet er mit einer Mischung von flächigen, geometrischen Formen in Pastelltönen und Bleistiftzeichnungen sowie Aquarellen in kräftigen Farben. Das sich über die Jahre wenig verändernde Wohnzimmer wirkt im Vergleich mit der ungezähmten Vergangenheit des Ortes fast schon museal. Als Leser trauert man um den Baum, den man 1564 als junges Pflänzchen und noch 1775 in voller Größe dort hat aufragen sehen, wo in späteren Jahren ein Sessel steht. Geschichten reißen ab und gehen zuweilen nach Dutzenden vonseiten weiter. Da ist zum Beispiel die Frau, die älteren Verwandten einen Witz erzählt:
    "Ruft einer beim Arzt an und fragt nach seinen Laborwerten. Sagt der Arzt: ‚Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht, Mr. Jones. Zuerst die gute: Sie haben noch 24 Stunden zu leben.' – ‚Das ist die gute Nachricht?! Was ist denn dann die schlechte?!' Darauf der Arzt: ‚Das hätte ich Ihnen schon gestern sagen sollen.'"
    Die tragische Pointe folgt erst knapp 100 Seiten später: Einer der betagten Zuhörer lacht sich sprichwörtlich tot.
    Vergangenheit und Zukunft
    McGuire schöpft narrativ nicht nur aus der Vergangenheit; überraschenderweise setzt sich seine Geschichte auch in die Zukunft fort. Das zeitlich am spätesten verortete Bild zeigt ein dahinwehendes Blatt Papier im Jahr 2314. "Hier" enthält auch eine bittersüße Erkenntnis: Alles geht unter, um von Neuem zu erblühen - und früher oder später wieder unterzugehen. Für den Comic leistet dieses Buch auf ganz und gar unpathetische, leichtfüßige Weise, was Godfrey Reggios legendäre Filmmeditation "Koyaanisqatsi" für das Kino geleistet hat. In hypnotischen Bildmontagen thematisiert der Film die irreversiblen Eingriffe des Menschen in die Natur. "Hier" ist eine ähnlich kühne, groß angelegte, melancholische und ergreifende Betrachtung der menschlichen Existenz in all ihrer Schönheit, Absurdität und Zerbrechlichkeit. Auf den letzten Seiten des Buchs sieht man einen Kreis spielender Kinder im Jahr 1889: "Ashes! Ashes! We all fall down!", rufen sie und fallen lachend ins Gras. Und zum Schluss begegnet man der Frau wieder, die sich in einer Szene zu Beginn des Buchs laut fragt, was sie eigentlich im Wohnzimmer wollte. Nach knapp 300 Seiten kommt die Erlösung. Mit ihren Worten endet "Hier":
    "Jetzt fällt es mir ein."
    Richard McGuire: "Hier"
    Graphic Novel. DuMont Buchverlag, 300 Seiten, 24,99 Euro.