Opern sind in der Regel Auftragswerke; ausgerechnet Wagner stellt eine Ausnahme dar. Auftragswerke sind aber meist auch die Biografien von berühmten Komponisten und anderen Kulturgrößen. Der Auftrag ergeht, wenn ein Jubiläum naht. Ein solches ist Richard Wagners 200. Geburtstag. Der fällt zwar erst auf den 22. Mai 2013, aber der Buchmarkt ist gern ein bisschen früher da, zumal das Weihnachtsgeschäft noch profitieren soll. So liegt Martin Gecks Wagner-Biografie jetzt schon vor, und natürlich: Warum auch auf einen Stichtag warten mit der Lektüre eines lehrreichen Buches? Zumal es von einem der, wie man so sagt, ausgewiesenen Kenner des Komponisten stammt.
Martin Geck, Jahrgang 1936, ist emeritierter Ordinarius für Musikwissenschaft in Dortmund und Verfasser etlicher Bücher über Bach, Mozart, Beethoven, Schumann. Über Wagner hat er viele Aufsätze verfasst und auch den Band in der beim Publikum äußerst beliebten Reihe der rororo-Monografien. Er ersetzt dort - man muss schon sagen: leider - den Vorgängerband, der vom großen Hans Mayer stammte und Wagners Opern als Auseinandersetzungen mit seinem eigenen Künstlertum interpretierte.
"ES gibt wohl keinen Forscher, der Wagner und sein vielgestaltiges Werk besser überblickt als Martin Geck,…"
... orgelt der Klappentext. Gewiss: Geck weiß alles über Wagner, und er hat unendlich viel gelesen. Die zahlreichen Schriften des Meisters, dazu seine Korrespondenz, die umfangreichen Tagebücher der Gattin Cosima, schockweise Sekundärliteratur, nicht nur von den Fachleuten, sondern auch von Schriftstellern und Philosophen, Naheliegendes und Entlegenes, von Proust bis Sloterdijk. Diese Belesenheit kann beflügeln, sie kann aber auch behindern. Bei unserem Autor führt sie dazu, dass er ständig gegen echte oder vermeintliche Gegner agitiert. Oder, bildlich gesprochen: Geck bewegt sich weniger an der Leitplanke seiner Gedanken, sondern recht unelegant in einem Gassengewirr von Zitaten. Das wirkt sich bis in den Satzbau aus: Nachdem er in langen Perioden einem Kollegen nachgewiesen hat, die Sache nicht ganz richtig zu sehen, langt für die eigene, die richtige Sicht nur noch ein mattes syntaktisches Anhängsel. Oder er packt das Wesentliche in den Neben-, das Unwesentliche in den Hauptsatz. Auch dass er übergenaue Biografen "Erbsenzähler" schilt, ist nicht schön und nicht fair.
Kurz: Dies ist keine immer angenehme Lektüre. Sie ist vor allem für Einsteiger schwierig, schon weil man Noten lesen können muss, um die entscheidenden Belege von Gecks Beweisführung nachvollziehen zu können. Seinen Anspruch, über Wagner "uns selbst und unserer Zeit auf die Schliche zu kommen", kann der Autor nicht einlösen - wie sollte das auch gehen! Schon gar nicht ist Gecks "Wagner", was der Untertitel verheißt, nämlich eine Biografie: Der Autor setzt Wagners abenteuerliche Lebensgeschichte nämlich einfach voraus, auf biografische Elemente greift er nur dann zurück, wenn er sie für seine Werkdeutungen benötigt. Wenn man indes Wagnerianer ist, wenn man den Erfinder des Gesamtkunstwerks Musikdrama für den Allergrößten hält oder zumindest für einen der interessantesten Gestalten der Kulturgeschichte, dann kann man an diesem Buch durchaus seine Freude haben. Es ist, auch wenn eine Generalthese fehlt, voller bedenkenswerter und anregender Bemerkungen zu zahlreichen Einzelaspekten des Wagnerschen Werks. Und auch die vielen Lesefrüchte, die Geck in seinen Korb legt, sind für Wagner-Fans ein Genuss - ob man ihnen zum ersten oder zum wiederholten Mal begegnet.
Eine gewisse Tragik für alle, die über Wagner schreiben, liegt darin, dass der Philosoph Friedrich Nietzsche, erst enthusiastischer Anhänger, dann scharfsinniger Gegner des Meisters, die klügsten Gedanken über ihn schon geäußert hat. Und auch noch besser formuliert als alle, die nach ihm kamen. Das gilt auch für folgenden Nietzsche-Satz, den Geck gleich mehrfach zitiert, weil er sein eigenes Wagner-Verständnis auf den Punkt bringt:
"Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen."
Für Wagner, meint Geck, steht fest, dass es in einer heillosen Welt kein Heil, kein Glück, keine Gerechtigkeit geben kann. Mit Adorno zu sprechen: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Deshalb müssen Wagners Helden, die sich in der Realität unweigerlich heillos verstricken, in Intrigen oder in Schuldzusammenhänge, in eine andere Welt versetzt werden. Sie müssen untergehen, um erlöst zu werden. Erlösung durch Untergang: Das ist Gecks Formel für das Wagnersche Denkuniversum; nicht originell, aber zutreffend. Und diese Erlösung vollzieht sich in Wagners Musikdramen in der Musik und durch Musik. Wobei die Musik nicht als Allheilmittel, als Surrogat oder als billiger Ersatz für Lebensglück zu betrachten ist, sondern tatsächlich als andere Dimension; was sich dort vollzieht, ist nicht übersetzbar und nicht synthetisierbar. Als Kronzeugen für diese Auffassung zitiert Geck einen anderen Philosophen, diesmal einen Zeitgenossen: George Steiner. Es gibt Augenblicke, sagte Steiner, …
" … in denen man sagen möchte, dass der menschliche Geist wenig geschaffen hat, das sich mit Wagner messen kann. Aber Vorsicht: Er hat nichts anderes gemacht, als die unergründliche Fremdheit von Musik selbst zum Ausdruck zu bringen."
Wenn Wagner als Denker betrachtet werden darf, dann nur als Musikdenker, in musikalischen Zusammenhängen. Darauf kommt Geck immer wieder zurück, wenn er die berühmten "heiklen" Punkte Wagnerscher Schriften oder der Rezeption in den Blick nimmt. So schließt mancher gern aus der bekannten Begeisterung Adolf Hitler für Wagners Werke, dass in diesen doch etwas Prä-nationalsozialistisches zu finden sein müsste. Geck kann hier ziemlich gut kontern, auch wenn er es wieder mithilfe eines Zitats tut, erneut von George Steiner:
"Als der junge Hitler zum ersten Mal Wagners 'Rienzi' hörte, hatte er, wie er seinem Jugendfreund erzählte, seine Vision vom nationalsozialistischen Weltstaat. Jahre zuvor hört dieselbe Oper der erfolgreiche Journalist Theodor Herzl und notiert in sein Tagebuch: Heute Abend habe ich gesehen, dass wir Jerusalem zurückerobern werden. Es gibt weder Gut noch Böse in der Musik."
Die Formel "Erlösung durch Untergang" ist für Geck nicht nur ein Passepartout für die Musikdramen, sondern gilt auch für vieles andere. Zum Beispiel für seine Sänger. Die erfüllen ihre Aufgabe für Wagner dann vollgültig, wenn sie in ihrer Rolle aufgehen - und in ihr, im Moment der Verkörperung dieser Rolle auf der Bühne, untergehen. So schätzte Wagner an der Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient, seiner Senta und Venus in den Uraufführungen des "Holländer" und des "Tannhäuser", die Fähigkeit zur vollkommenen Selbstentäußerung. Und vom Darsteller des Mime im "Siegfried" verlangte er, dass dieser ...
"... die Handlung des gefeierten Helden nicht nur darstellt, sondern sie moralisch durch sich selbst wiederholt, indem er nämlich durch dieses Aufgeben seiner Persönlichkeit beweist, dass er auch in seiner künstlerischen Handlung eine notwendige, die ganze Individualität seines Wesens verzehrende Handlung vollbringt."
Auch der vielleicht berüchtigtste Text aus Wagners Feder, der Aufsatz "Das Judentum in der Musik", erscheint durch die Formel "Erlösung durch Untergang" in anderem Licht. Die Juden, so Gecks Deutung, bräuchten diesen Untergang zu ihrer Erlösung mehr als jede andere Gruppe der Gesellschaft, weil sie deren Organismus zersetzt hätten; aber zum Untergang - metaphorisch verstanden, nicht als physische Vernichtung, wohlgemerkt - sei die ganze Gesellschaft verurteilt, wenn sie erlöst werden wolle. Natürlich auch das Kapital, die Geldwirtschaft und der Staat. Nur auf sich selbst, das nebenbei bemerkt, für seine bürgerliche Existenz, seinen Alltag, war die Formel nicht anzuwenden. Mochte die Welt untergehen: Auf den seidenen Morgenmantel und was noch alles zu einem luxuriösen Dasein gehörte, wollte Wagner keinesfalls verzichten, gemäß seiner Überzeugung: Die Welt ist mir schuldig, was ich brauche.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Geck beschönigt Wagners antisemitische Haltung keineswegs, auch wenn er die berüchtigte Judenschrift mit der Erlösungsformel interpretiert. Wagners ambivalente Haltung zu den Juden in seiner Umgebung kommt in mehreren der hübschen vignettenartigen Zwischenkapitel, die Geck "A propos" nennt, deutlich, ja grell zum Ausdruck. Eine Vignette gilt Josef Rubinstein, Wagners "Hausisraeliten", der den Meister fast hündisch verehrte und von ihm zum Notenkopieren und Vorspielen benutzt, ansonsten aber recht rüde behandelt wurde. Ein anderer Exkurs behandelt Angelo Neumann, den Impresario, der Wagner-Werke mit einem wandernden Ensemble aufführte und bekannt machte, allein den Ring in den Jahren 1882 und 1883 an 23 verschiedenen Orten. Wagner brauchte diesen Propagandisten seiner Sendung, aber dass es ein Jude war, führte immer wieder zu Sticheleien. Für einmal findet Geck hier eine schöne Formulierung:
"Wagner lässt sich bei seiner hohen Sendung beständig von Juden helfen und tritt dabei vor Verlegenheit von einem Bein auf das andere."
Martin Geck nimmt Wagner als Theoretiker nicht wirklich ernst, und das ist wohltuend. Auf spitzfindige Erörterungen, was mit dieser oder jener Formulierung gemeint sei, etwa dem abschließenden "Erlösung dem Erlöser" im Parsifal, will er sich gar nicht einlassen. Wagner, meint Geck, ist ein Musikdenker, das Eigentliche findet sich, findet er in Wagners Musik. Und da vor allem im Orchester, das unter dem, was ausgesprochen und über die Handlung dargestellt wird, eine zweite Ebene aufzieht, auf der die entscheidenden Vorgänge stattfinden. Wo die psychologische Wahrheit ans Licht kommt. In seiner Schrift "Zukunftsmusik" hat Wagner dies Selbst ausgesprochen:
"In Wahrheit ist die Größe des Dichters am meisten danach zu ermessen, was er verschweigt, um das Unaussprechliche selbst schweigend uns sagen zu lassen; der Musiker ist es nun, der dieses Verschweigende zum hellen Ertönen bringt, und die untrügliche Form seines laut erklingenden Schweigens ist die unendliche Melodie."
Die Orchestermelodie und die Leitmotivtechnik sind die entscheidenden Bestandteile von Wagners Kunst, seine Erfindungen, neudeutsch würde man sagen: seine Unique selling proposition. Geck findet sie ansatzweise schon in den früheren Werken, etwa in der Romerzählung des "Tannhäuser", die nicht nur vom Scheitern seiner Pilgerreise berichtet, sondern diese kompositorisch durchführt: Die traditionelle Harmonik und Periodenbildung wird dekonstruiert, bis an den Rand der musikalischen Anarchie, an den Rand des Wahnsinns. Riesig ist dann der Schritt zum "Ring", wo das Orchester in allen wichtigen Handlungsmomenten die Führung übernimmt und mit den Leitmotiven ein System entwirft, das in seiner Komplexität und Aussagefähigkeit an eine Sprache heranreicht. Es hat etwas überaus Bestrickendes und - wie wir gleich sehen werden - auch etwas Verstrickendes. Wenn es eine Wagner-Sucht gibt - und es gibt sie ja -, dann ist sie sicher zum großen Teil auf die Verführungskraft dieser Leitmotivsprache zurückzuführen, in der sich der Hörer bald bewegt wie in einer Parallelwelt.
Über diese Leitmotive herrschen weitverbreitete Missverständnisse. Viele betrachten sie als simple Etiketten, als musikalische Entsprechungen für Dingsymbole wie Schwert, Lanze, Kelch, Ring, aber auch feste psychologische Begriffe wie Zorn, Schuld oder Reue. Im 19. Jahrhundert fertigten Wagnerianer Kataloge an, die wie ein Wörterbuch funktionieren: Motiv und begriffliche Übersetzung. Nun, so einfach verhält es sich nicht, und hierauf legt Martin Geck in seinen Analysen der Musikdramen vom "Rheingold" bis zum "Parsifal" großen Wert.
Der "Tristan" stellt hier einen Höhepunkt dar. Die Motive befinden sich in ständiger Verwandlung, modifizieren ihre Intervalle, changieren im Tongeschlecht, modulieren, verschmelzen. Dem entspricht eine Seelenlandschaft, in der Liebe und Tod, Liebesverlangen und Liebesverbot, unwiderstehlicher Drang von innen und unüberschreitbare gesellschaftliche Regeln in einer Weise ineinandergreifen, wie es Worte nicht mehr ausdrücken - wohl aber die Musik, diese Musik. Eine Musik, deren Sprache Wagner erst erfinden musste.
"Um Neues sagen zu können, erweiterte er diese Ausdrucksskala in einem bis heute unübertroffenen Maß: Während man zuvor mit der - freilich recht naiven - Vorstellung hatte leben können, dass musikalischer Ausdruck bestimmte Affekte spiegele, wurden die Hörer durch die Klänge aus Tristan und Isolde auf Gefühlsmischungen aufmerksam, deren Existenz ihnen bis dahin gar nicht bewusst gewesen war."
Noch ehrgeiziger ging Wagner im "Ring" vor, der in vier Musikdramen an vier Abenden Welterzählung und Weltdeutung bieten wollte, einen neuen Mythos und ein Gesamtkunstwerk, wie es das noch nie gegeben hatte und auch nach Wagner nicht mehr geben würde. Hier läuft der Interpret Geck teilweise zu großer Form auf, gerade wenn er sich auf einzelne Passagen genau einlässt. Etwa auf 30 Takte in "Rheingold", die er als vollkommenen Bogen analysiert, von Trompetensignalen eingerahmt und mit dem Jubel der Rheintöchter in der Mitte. Es ist eine perfekte horizontale Symmetrie, mit der Wagner hier den ewigen Kreislauf der Natur spiegelt, der durch den Raub des Rheingoldes gestört wird und den fatalen Lauf der Handlung in Gang setzt.
Noch spannender ist Gecks Nachweis der inneren Verwandtschaft entscheidender Leitmotive, so unterschiedlich sie beim bloßen Hören erscheinen. Auch das hat er natürlich nicht als Erster bemerkt, beschreibt und belegt es aber sehr überzeugend und nachvollziehbar. So haben das Walhalla-Motiv, jene prächtige, pompöse, selbstgewisse Burgbesitzer-Dreiklang-Folge und das Ring-Motiv, unheimlich, verdreht, fahl und fatal, dieselbe Struktur; sie bauen auf Terzenfolgen auf. Hat man das begriffen, kommt man nicht umhin, das eine als Verfremdung des anderen zu hören - und umgekehrt.
Dass das Orchester oft mehr verrät, als die handelnden Personen wissen können, uns also Hinweise auf das Kommende gibt und die tiefere Wahrheit des gerade Geschehenen preisgibt, wurde schon angedeutet. Geck illustriert diesen Befund anhand von zahlreichen Beispielen. So zeigt er, wie Hagen, die finsterste Figur der "Götterdämmerung", der Mörder Siegfrieds, der seinem Vater Alberich die Weltherrschaft verschaffen soll, im tiefsten Inneren ein anderer Siegfried sein möchte. Zum Auftakt seines langen Monologs "Hier sitz ich zur Wacht" ertönt nämlich, zusammen und verbunden mit Hagens eigenem Motiv, einer fallenden verminderten Quinte - traditionell der "diabolus in musica" - der fröhliche Hornruf Siegfrieds, aber in Hagens tiefem Bassregister und harmonisch verzerrt.
Am faszinierendsten ist Gecks Darstellung, wie sich Wagner im Verlauf der vieljährigen Kompositionsgeschichte des "Rings" immer tiefer in das System der Leitmotive verstrickt, wie ihm mehr und mehr die schöpferischen Hände gebunden sind. Das hat aber seine Berechtigung, weil es im tiefsten dem Ablauf des Weltgeschehens entspricht, wie es der "Ring" zeigt:
"Den eigenen Leitmotiven bis zum bitteren Ende ausgeliefert zu sein bedeutete zwar eine Einschränkung der kompositorischen Verfügungsgewalt; jedoch ist der 'Ring' ohnehin so konzipiert, dass seine Akteure zum Ende hin ihre Freiheit immer mehr verlieren und nur noch in der vorgegebenen Zwangsstruktur zu handeln vermögen. Ist es da von Nachteil, wenn sich auch der Komponist diesen Zwängen beugen muss - allerdings unter der Aufgabe ächzt, das zunehmend sich komplizierende Gefüge von vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem in Noten und Musik zu fassen? (...) In der 'Götterdämmerung' findet sich kaum eine Note, die nicht motivisch, das heißt aus den Leitmotiven abgeleitet wäre und damit Erinnerung und Ahnung in ein und demselben Vorgang abbildete. Das macht den Satz bisweilen so komplex, dass man als Hörer - von Wagner sicherlich gebilligt - die Details nicht mitbekommt und sich ganz dem Gefühlseindruck überlässt; und undurchschaubare Struktur schlägt unversehens in blinde Klangsinnlichkeit um - übrigens ein höchst moderner Zug an der Musik Wagners. Wer kann noch heraushören, dass in der düsteren Übergangsmusik nach 'Hagens Wacht' im ersten Akt der 'Götterdämmerung' Wehe-, Goldherrschafts-, Nibelungenhass-, Hagen-, Ring-, Horn-, Siegfried-, Vertrags- Brünnhilde- und Fluchmotiv mit- und zum großen Teil ineinander verwoben werden?"
Man merkt: Martin Geck liebt nicht den affirmativen Wagner, den von "pomp and circumstances", sondern seine dekonstruktiven, anarchischen, modernen Züge. Sie findet er überall im Werk. Im "Tannhäuser" in der schon genannten Romerzählung, im "Parsifal" in Parsifals Irrfahrt, 44 Takte tiefster Düsternis, das schwarze Loch der Musik in diesem Bühnenweihfestspiel.
Was macht Geck dann mit den "Meistersingern", in der es keine "Erlösung durch Untergang" gibt, sondern die Entwicklung vom Wahn zur Vernunft? Dieses ja durchaus komödiantische Werk deutet der Autor als "Musik über Musik", eine Reflexion über das eigene Tun und über die Musikgeschichte, voller höherer Ironie und, wie Geck etwas modisch formuliert, "double talk".
Zu den unkritischen Wagnerianern zählt der Autor jedenfalls nicht; in seinen Vorlieben ist er durchaus selektiv, scheut sich auch nicht, manches schlichtweg zu verwerfen, so die "Privatreligion" im "Parsifal" und die Ideologie vom gottgesandten Führer im "Lohengrin". Gerade für diese Oper, die er am nächsten zu Nationalismus und Nationalsozialismus verortet und als "unheilbar beschädigt" bezeichnet, entwickelt Geck eine originelle Inszenierungsidee. Man könnte doch, schlägt er vor, die Bayreuther Festaufführung vom 19. Juli 1936 nachstellen, mit Hitler in der Proszeniumsloge und Hakenkreuzbinden im Publikum. Das würde doch eine "produktive Beklommenheit" erzielen.
Noch weiter, nämlich bis in die musikalische Substanz, geht Gecks Vorschlag, wie die "Götterdämmerung" zu beenden sei. Weil auf den Untergang nur der Kultus, die Liturgie folgen kann, vor Schuld nur die Religion retten kann, stellt er sich ein Schlussbild des "Rings" vor, der in die Gralsrunde übergeht. Dazu das "Parsifal"-Vorspiel oder gleich die Gralsglocken. In einer frühen Skizze hat Geck sogar einen Hinweis darauf gefunden, dass Wagner beide Komplexe zusammengedacht hat. Auf der Bühne hat das noch niemand gewagt. Vielleicht sollte man Gecks Idee einmal aufgreifen. Es muss ja nicht gerade in Bayreuth sein.
Martin Geck: "Richard Wagner. Biografie"
Siedler, München 2012. 414 Seiten, 24.99 Euro
Martin Geck, Jahrgang 1936, ist emeritierter Ordinarius für Musikwissenschaft in Dortmund und Verfasser etlicher Bücher über Bach, Mozart, Beethoven, Schumann. Über Wagner hat er viele Aufsätze verfasst und auch den Band in der beim Publikum äußerst beliebten Reihe der rororo-Monografien. Er ersetzt dort - man muss schon sagen: leider - den Vorgängerband, der vom großen Hans Mayer stammte und Wagners Opern als Auseinandersetzungen mit seinem eigenen Künstlertum interpretierte.
"ES gibt wohl keinen Forscher, der Wagner und sein vielgestaltiges Werk besser überblickt als Martin Geck,…"
... orgelt der Klappentext. Gewiss: Geck weiß alles über Wagner, und er hat unendlich viel gelesen. Die zahlreichen Schriften des Meisters, dazu seine Korrespondenz, die umfangreichen Tagebücher der Gattin Cosima, schockweise Sekundärliteratur, nicht nur von den Fachleuten, sondern auch von Schriftstellern und Philosophen, Naheliegendes und Entlegenes, von Proust bis Sloterdijk. Diese Belesenheit kann beflügeln, sie kann aber auch behindern. Bei unserem Autor führt sie dazu, dass er ständig gegen echte oder vermeintliche Gegner agitiert. Oder, bildlich gesprochen: Geck bewegt sich weniger an der Leitplanke seiner Gedanken, sondern recht unelegant in einem Gassengewirr von Zitaten. Das wirkt sich bis in den Satzbau aus: Nachdem er in langen Perioden einem Kollegen nachgewiesen hat, die Sache nicht ganz richtig zu sehen, langt für die eigene, die richtige Sicht nur noch ein mattes syntaktisches Anhängsel. Oder er packt das Wesentliche in den Neben-, das Unwesentliche in den Hauptsatz. Auch dass er übergenaue Biografen "Erbsenzähler" schilt, ist nicht schön und nicht fair.
Kurz: Dies ist keine immer angenehme Lektüre. Sie ist vor allem für Einsteiger schwierig, schon weil man Noten lesen können muss, um die entscheidenden Belege von Gecks Beweisführung nachvollziehen zu können. Seinen Anspruch, über Wagner "uns selbst und unserer Zeit auf die Schliche zu kommen", kann der Autor nicht einlösen - wie sollte das auch gehen! Schon gar nicht ist Gecks "Wagner", was der Untertitel verheißt, nämlich eine Biografie: Der Autor setzt Wagners abenteuerliche Lebensgeschichte nämlich einfach voraus, auf biografische Elemente greift er nur dann zurück, wenn er sie für seine Werkdeutungen benötigt. Wenn man indes Wagnerianer ist, wenn man den Erfinder des Gesamtkunstwerks Musikdrama für den Allergrößten hält oder zumindest für einen der interessantesten Gestalten der Kulturgeschichte, dann kann man an diesem Buch durchaus seine Freude haben. Es ist, auch wenn eine Generalthese fehlt, voller bedenkenswerter und anregender Bemerkungen zu zahlreichen Einzelaspekten des Wagnerschen Werks. Und auch die vielen Lesefrüchte, die Geck in seinen Korb legt, sind für Wagner-Fans ein Genuss - ob man ihnen zum ersten oder zum wiederholten Mal begegnet.
Eine gewisse Tragik für alle, die über Wagner schreiben, liegt darin, dass der Philosoph Friedrich Nietzsche, erst enthusiastischer Anhänger, dann scharfsinniger Gegner des Meisters, die klügsten Gedanken über ihn schon geäußert hat. Und auch noch besser formuliert als alle, die nach ihm kamen. Das gilt auch für folgenden Nietzsche-Satz, den Geck gleich mehrfach zitiert, weil er sein eigenes Wagner-Verständnis auf den Punkt bringt:
"Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen."
Für Wagner, meint Geck, steht fest, dass es in einer heillosen Welt kein Heil, kein Glück, keine Gerechtigkeit geben kann. Mit Adorno zu sprechen: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Deshalb müssen Wagners Helden, die sich in der Realität unweigerlich heillos verstricken, in Intrigen oder in Schuldzusammenhänge, in eine andere Welt versetzt werden. Sie müssen untergehen, um erlöst zu werden. Erlösung durch Untergang: Das ist Gecks Formel für das Wagnersche Denkuniversum; nicht originell, aber zutreffend. Und diese Erlösung vollzieht sich in Wagners Musikdramen in der Musik und durch Musik. Wobei die Musik nicht als Allheilmittel, als Surrogat oder als billiger Ersatz für Lebensglück zu betrachten ist, sondern tatsächlich als andere Dimension; was sich dort vollzieht, ist nicht übersetzbar und nicht synthetisierbar. Als Kronzeugen für diese Auffassung zitiert Geck einen anderen Philosophen, diesmal einen Zeitgenossen: George Steiner. Es gibt Augenblicke, sagte Steiner, …
" … in denen man sagen möchte, dass der menschliche Geist wenig geschaffen hat, das sich mit Wagner messen kann. Aber Vorsicht: Er hat nichts anderes gemacht, als die unergründliche Fremdheit von Musik selbst zum Ausdruck zu bringen."
Wenn Wagner als Denker betrachtet werden darf, dann nur als Musikdenker, in musikalischen Zusammenhängen. Darauf kommt Geck immer wieder zurück, wenn er die berühmten "heiklen" Punkte Wagnerscher Schriften oder der Rezeption in den Blick nimmt. So schließt mancher gern aus der bekannten Begeisterung Adolf Hitler für Wagners Werke, dass in diesen doch etwas Prä-nationalsozialistisches zu finden sein müsste. Geck kann hier ziemlich gut kontern, auch wenn er es wieder mithilfe eines Zitats tut, erneut von George Steiner:
"Als der junge Hitler zum ersten Mal Wagners 'Rienzi' hörte, hatte er, wie er seinem Jugendfreund erzählte, seine Vision vom nationalsozialistischen Weltstaat. Jahre zuvor hört dieselbe Oper der erfolgreiche Journalist Theodor Herzl und notiert in sein Tagebuch: Heute Abend habe ich gesehen, dass wir Jerusalem zurückerobern werden. Es gibt weder Gut noch Böse in der Musik."
Die Formel "Erlösung durch Untergang" ist für Geck nicht nur ein Passepartout für die Musikdramen, sondern gilt auch für vieles andere. Zum Beispiel für seine Sänger. Die erfüllen ihre Aufgabe für Wagner dann vollgültig, wenn sie in ihrer Rolle aufgehen - und in ihr, im Moment der Verkörperung dieser Rolle auf der Bühne, untergehen. So schätzte Wagner an der Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient, seiner Senta und Venus in den Uraufführungen des "Holländer" und des "Tannhäuser", die Fähigkeit zur vollkommenen Selbstentäußerung. Und vom Darsteller des Mime im "Siegfried" verlangte er, dass dieser ...
"... die Handlung des gefeierten Helden nicht nur darstellt, sondern sie moralisch durch sich selbst wiederholt, indem er nämlich durch dieses Aufgeben seiner Persönlichkeit beweist, dass er auch in seiner künstlerischen Handlung eine notwendige, die ganze Individualität seines Wesens verzehrende Handlung vollbringt."
Auch der vielleicht berüchtigtste Text aus Wagners Feder, der Aufsatz "Das Judentum in der Musik", erscheint durch die Formel "Erlösung durch Untergang" in anderem Licht. Die Juden, so Gecks Deutung, bräuchten diesen Untergang zu ihrer Erlösung mehr als jede andere Gruppe der Gesellschaft, weil sie deren Organismus zersetzt hätten; aber zum Untergang - metaphorisch verstanden, nicht als physische Vernichtung, wohlgemerkt - sei die ganze Gesellschaft verurteilt, wenn sie erlöst werden wolle. Natürlich auch das Kapital, die Geldwirtschaft und der Staat. Nur auf sich selbst, das nebenbei bemerkt, für seine bürgerliche Existenz, seinen Alltag, war die Formel nicht anzuwenden. Mochte die Welt untergehen: Auf den seidenen Morgenmantel und was noch alles zu einem luxuriösen Dasein gehörte, wollte Wagner keinesfalls verzichten, gemäß seiner Überzeugung: Die Welt ist mir schuldig, was ich brauche.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Geck beschönigt Wagners antisemitische Haltung keineswegs, auch wenn er die berüchtigte Judenschrift mit der Erlösungsformel interpretiert. Wagners ambivalente Haltung zu den Juden in seiner Umgebung kommt in mehreren der hübschen vignettenartigen Zwischenkapitel, die Geck "A propos" nennt, deutlich, ja grell zum Ausdruck. Eine Vignette gilt Josef Rubinstein, Wagners "Hausisraeliten", der den Meister fast hündisch verehrte und von ihm zum Notenkopieren und Vorspielen benutzt, ansonsten aber recht rüde behandelt wurde. Ein anderer Exkurs behandelt Angelo Neumann, den Impresario, der Wagner-Werke mit einem wandernden Ensemble aufführte und bekannt machte, allein den Ring in den Jahren 1882 und 1883 an 23 verschiedenen Orten. Wagner brauchte diesen Propagandisten seiner Sendung, aber dass es ein Jude war, führte immer wieder zu Sticheleien. Für einmal findet Geck hier eine schöne Formulierung:
"Wagner lässt sich bei seiner hohen Sendung beständig von Juden helfen und tritt dabei vor Verlegenheit von einem Bein auf das andere."
Martin Geck nimmt Wagner als Theoretiker nicht wirklich ernst, und das ist wohltuend. Auf spitzfindige Erörterungen, was mit dieser oder jener Formulierung gemeint sei, etwa dem abschließenden "Erlösung dem Erlöser" im Parsifal, will er sich gar nicht einlassen. Wagner, meint Geck, ist ein Musikdenker, das Eigentliche findet sich, findet er in Wagners Musik. Und da vor allem im Orchester, das unter dem, was ausgesprochen und über die Handlung dargestellt wird, eine zweite Ebene aufzieht, auf der die entscheidenden Vorgänge stattfinden. Wo die psychologische Wahrheit ans Licht kommt. In seiner Schrift "Zukunftsmusik" hat Wagner dies Selbst ausgesprochen:
"In Wahrheit ist die Größe des Dichters am meisten danach zu ermessen, was er verschweigt, um das Unaussprechliche selbst schweigend uns sagen zu lassen; der Musiker ist es nun, der dieses Verschweigende zum hellen Ertönen bringt, und die untrügliche Form seines laut erklingenden Schweigens ist die unendliche Melodie."
Die Orchestermelodie und die Leitmotivtechnik sind die entscheidenden Bestandteile von Wagners Kunst, seine Erfindungen, neudeutsch würde man sagen: seine Unique selling proposition. Geck findet sie ansatzweise schon in den früheren Werken, etwa in der Romerzählung des "Tannhäuser", die nicht nur vom Scheitern seiner Pilgerreise berichtet, sondern diese kompositorisch durchführt: Die traditionelle Harmonik und Periodenbildung wird dekonstruiert, bis an den Rand der musikalischen Anarchie, an den Rand des Wahnsinns. Riesig ist dann der Schritt zum "Ring", wo das Orchester in allen wichtigen Handlungsmomenten die Führung übernimmt und mit den Leitmotiven ein System entwirft, das in seiner Komplexität und Aussagefähigkeit an eine Sprache heranreicht. Es hat etwas überaus Bestrickendes und - wie wir gleich sehen werden - auch etwas Verstrickendes. Wenn es eine Wagner-Sucht gibt - und es gibt sie ja -, dann ist sie sicher zum großen Teil auf die Verführungskraft dieser Leitmotivsprache zurückzuführen, in der sich der Hörer bald bewegt wie in einer Parallelwelt.
Über diese Leitmotive herrschen weitverbreitete Missverständnisse. Viele betrachten sie als simple Etiketten, als musikalische Entsprechungen für Dingsymbole wie Schwert, Lanze, Kelch, Ring, aber auch feste psychologische Begriffe wie Zorn, Schuld oder Reue. Im 19. Jahrhundert fertigten Wagnerianer Kataloge an, die wie ein Wörterbuch funktionieren: Motiv und begriffliche Übersetzung. Nun, so einfach verhält es sich nicht, und hierauf legt Martin Geck in seinen Analysen der Musikdramen vom "Rheingold" bis zum "Parsifal" großen Wert.
Der "Tristan" stellt hier einen Höhepunkt dar. Die Motive befinden sich in ständiger Verwandlung, modifizieren ihre Intervalle, changieren im Tongeschlecht, modulieren, verschmelzen. Dem entspricht eine Seelenlandschaft, in der Liebe und Tod, Liebesverlangen und Liebesverbot, unwiderstehlicher Drang von innen und unüberschreitbare gesellschaftliche Regeln in einer Weise ineinandergreifen, wie es Worte nicht mehr ausdrücken - wohl aber die Musik, diese Musik. Eine Musik, deren Sprache Wagner erst erfinden musste.
"Um Neues sagen zu können, erweiterte er diese Ausdrucksskala in einem bis heute unübertroffenen Maß: Während man zuvor mit der - freilich recht naiven - Vorstellung hatte leben können, dass musikalischer Ausdruck bestimmte Affekte spiegele, wurden die Hörer durch die Klänge aus Tristan und Isolde auf Gefühlsmischungen aufmerksam, deren Existenz ihnen bis dahin gar nicht bewusst gewesen war."
Noch ehrgeiziger ging Wagner im "Ring" vor, der in vier Musikdramen an vier Abenden Welterzählung und Weltdeutung bieten wollte, einen neuen Mythos und ein Gesamtkunstwerk, wie es das noch nie gegeben hatte und auch nach Wagner nicht mehr geben würde. Hier läuft der Interpret Geck teilweise zu großer Form auf, gerade wenn er sich auf einzelne Passagen genau einlässt. Etwa auf 30 Takte in "Rheingold", die er als vollkommenen Bogen analysiert, von Trompetensignalen eingerahmt und mit dem Jubel der Rheintöchter in der Mitte. Es ist eine perfekte horizontale Symmetrie, mit der Wagner hier den ewigen Kreislauf der Natur spiegelt, der durch den Raub des Rheingoldes gestört wird und den fatalen Lauf der Handlung in Gang setzt.
Noch spannender ist Gecks Nachweis der inneren Verwandtschaft entscheidender Leitmotive, so unterschiedlich sie beim bloßen Hören erscheinen. Auch das hat er natürlich nicht als Erster bemerkt, beschreibt und belegt es aber sehr überzeugend und nachvollziehbar. So haben das Walhalla-Motiv, jene prächtige, pompöse, selbstgewisse Burgbesitzer-Dreiklang-Folge und das Ring-Motiv, unheimlich, verdreht, fahl und fatal, dieselbe Struktur; sie bauen auf Terzenfolgen auf. Hat man das begriffen, kommt man nicht umhin, das eine als Verfremdung des anderen zu hören - und umgekehrt.
Dass das Orchester oft mehr verrät, als die handelnden Personen wissen können, uns also Hinweise auf das Kommende gibt und die tiefere Wahrheit des gerade Geschehenen preisgibt, wurde schon angedeutet. Geck illustriert diesen Befund anhand von zahlreichen Beispielen. So zeigt er, wie Hagen, die finsterste Figur der "Götterdämmerung", der Mörder Siegfrieds, der seinem Vater Alberich die Weltherrschaft verschaffen soll, im tiefsten Inneren ein anderer Siegfried sein möchte. Zum Auftakt seines langen Monologs "Hier sitz ich zur Wacht" ertönt nämlich, zusammen und verbunden mit Hagens eigenem Motiv, einer fallenden verminderten Quinte - traditionell der "diabolus in musica" - der fröhliche Hornruf Siegfrieds, aber in Hagens tiefem Bassregister und harmonisch verzerrt.
Am faszinierendsten ist Gecks Darstellung, wie sich Wagner im Verlauf der vieljährigen Kompositionsgeschichte des "Rings" immer tiefer in das System der Leitmotive verstrickt, wie ihm mehr und mehr die schöpferischen Hände gebunden sind. Das hat aber seine Berechtigung, weil es im tiefsten dem Ablauf des Weltgeschehens entspricht, wie es der "Ring" zeigt:
"Den eigenen Leitmotiven bis zum bitteren Ende ausgeliefert zu sein bedeutete zwar eine Einschränkung der kompositorischen Verfügungsgewalt; jedoch ist der 'Ring' ohnehin so konzipiert, dass seine Akteure zum Ende hin ihre Freiheit immer mehr verlieren und nur noch in der vorgegebenen Zwangsstruktur zu handeln vermögen. Ist es da von Nachteil, wenn sich auch der Komponist diesen Zwängen beugen muss - allerdings unter der Aufgabe ächzt, das zunehmend sich komplizierende Gefüge von vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem in Noten und Musik zu fassen? (...) In der 'Götterdämmerung' findet sich kaum eine Note, die nicht motivisch, das heißt aus den Leitmotiven abgeleitet wäre und damit Erinnerung und Ahnung in ein und demselben Vorgang abbildete. Das macht den Satz bisweilen so komplex, dass man als Hörer - von Wagner sicherlich gebilligt - die Details nicht mitbekommt und sich ganz dem Gefühlseindruck überlässt; und undurchschaubare Struktur schlägt unversehens in blinde Klangsinnlichkeit um - übrigens ein höchst moderner Zug an der Musik Wagners. Wer kann noch heraushören, dass in der düsteren Übergangsmusik nach 'Hagens Wacht' im ersten Akt der 'Götterdämmerung' Wehe-, Goldherrschafts-, Nibelungenhass-, Hagen-, Ring-, Horn-, Siegfried-, Vertrags- Brünnhilde- und Fluchmotiv mit- und zum großen Teil ineinander verwoben werden?"
Man merkt: Martin Geck liebt nicht den affirmativen Wagner, den von "pomp and circumstances", sondern seine dekonstruktiven, anarchischen, modernen Züge. Sie findet er überall im Werk. Im "Tannhäuser" in der schon genannten Romerzählung, im "Parsifal" in Parsifals Irrfahrt, 44 Takte tiefster Düsternis, das schwarze Loch der Musik in diesem Bühnenweihfestspiel.
Was macht Geck dann mit den "Meistersingern", in der es keine "Erlösung durch Untergang" gibt, sondern die Entwicklung vom Wahn zur Vernunft? Dieses ja durchaus komödiantische Werk deutet der Autor als "Musik über Musik", eine Reflexion über das eigene Tun und über die Musikgeschichte, voller höherer Ironie und, wie Geck etwas modisch formuliert, "double talk".
Zu den unkritischen Wagnerianern zählt der Autor jedenfalls nicht; in seinen Vorlieben ist er durchaus selektiv, scheut sich auch nicht, manches schlichtweg zu verwerfen, so die "Privatreligion" im "Parsifal" und die Ideologie vom gottgesandten Führer im "Lohengrin". Gerade für diese Oper, die er am nächsten zu Nationalismus und Nationalsozialismus verortet und als "unheilbar beschädigt" bezeichnet, entwickelt Geck eine originelle Inszenierungsidee. Man könnte doch, schlägt er vor, die Bayreuther Festaufführung vom 19. Juli 1936 nachstellen, mit Hitler in der Proszeniumsloge und Hakenkreuzbinden im Publikum. Das würde doch eine "produktive Beklommenheit" erzielen.
Noch weiter, nämlich bis in die musikalische Substanz, geht Gecks Vorschlag, wie die "Götterdämmerung" zu beenden sei. Weil auf den Untergang nur der Kultus, die Liturgie folgen kann, vor Schuld nur die Religion retten kann, stellt er sich ein Schlussbild des "Rings" vor, der in die Gralsrunde übergeht. Dazu das "Parsifal"-Vorspiel oder gleich die Gralsglocken. In einer frühen Skizze hat Geck sogar einen Hinweis darauf gefunden, dass Wagner beide Komplexe zusammengedacht hat. Auf der Bühne hat das noch niemand gewagt. Vielleicht sollte man Gecks Idee einmal aufgreifen. Es muss ja nicht gerade in Bayreuth sein.
Martin Geck: "Richard Wagner. Biografie"
Siedler, München 2012. 414 Seiten, 24.99 Euro