Peter Sawicki: Der Fall Sami A. hat in dieser Woche die Schlagzeilen bestimmt. Am Mittwoch teilte das Oberverwaltungsgericht Münster sein Urteil mit, und es war an Deutlichkeit kaum zu überbieten. Die Abschiebung des mutmaßlichen Islamisten nach Tunesien sei "evident rechtswidrig" gewesen, Zitat Ende. Der verantwortliche Minister Joachim Stamp bleibt aber vorerst im Amt, dafür gibt es den einen oder anderen, der meint, Gerichte müssen auch das sogenannte Rechtsempfinden der Bevölkerung beachten.
Hat der Fall Sami A. die Justiz in Deutschland beschädigt? Das haben wir vor der Sendung Christian Friehoff gefragt. Er ist Direktor am Amtsgericht Rheda-Wiedenbrück und Vorsitzender des Deutschen Richterbundes in Nordrhein-Westfalen. Und die erste Frage an ihn war, ob es notwendig war, dass die Richterin Ricarda Brandts aus Münster zusätzlich Öl ins Feuer gießt.
Christian Friehoff: Die Art und Weise, wie Frau Brandts, die immerhin auch von Verfassungs wegen die höchste Richterin des Landes Nordrhein-Westfalen ist – sie ist Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs –, jedenfalls die Art und Weise, wie sie eine Entscheidung rüberbringt, hat sie sich sicherlich sehr gut überlegt. Sie ist eine sehr erfahrene Kollegin, und wenn sie das so rüberbringt, wird sie sicherlich gemeint haben, dass es Zeit war für deutliche Worte.
Diskussion ist sehr schwierig
Sawicki: Trotzdem stellt sich ja die Frage, ob die Form so notwendig war. Weil es waren ja ziemlich harte Worte, die sie gewählt hat. War das tatsächlich notwendig?
Friehoff: Die Diskussion, die hier geführt wird, ist deswegen sehr schwierig, weil mindestens zwei Diskussionsebenen einander überlappen. Es gibt einmal die Sachdiskussion über die Frage, wie gehen wir mit Gefährdern um. Die wird mit sehr vielen Emotionen geführt. Und dann gibt es eine Strukturebene, und da ist der Vorgang schon sehr ungewöhnlich, um es vorsichtig zu formulieren. Das ist mir sehr wichtig, dass man das voneinander trennt.
Worum es jetzt am Mittwoch in dieser Entscheidung ging, war nicht die Frage, ob es richtig und rechtmäßig war, Sami A. abzuschieben, sondern es ging allein um die Situation, dass ein Gericht eine Entscheidung getroffen hatte und die Verwaltung diese Entscheidung nicht beachtet hat. Das ist ein Strukturproblem, wenn das passiert. Die Diskussion, die darum geführt wird, ist vielleicht besser nachvollziehbar, wenn man eine vergleichbare Situation sich mal für einen gänzlich anderen Fall vorstellt, wo man nicht so viele Emotionen hat.
Stellen Sie sich in einer Gemeinde ein Haus vor, mit dem es irgendwelche Probleme gibt. Die Behörde erlässt eine Abrissverfügung. Gegen die wehrt sich der Hauseigentümer, und das Gericht sagt, Moment, wir brauchen Zeit zum Entscheiden. Behörde, du reißt das Haus jetzt vorläufig erst einmal nicht ab. Und wenn es dann trotzdem abgerissen wird – sollen wir jetzt danach entscheiden, ob das ein guter Rechtsbruch oder ein schlechter Rechtsbruch ist? Ein guter Rechtsbruch, wenn der Hauseigentümer der stadtbekannte Querulant ist, wo alle sagen, richtig so, oder ein schlechter Rechtsbruch, wenn das Haus dem allseits beliebten Bürgermeister gehört? Das kann nicht der Maßstab in einem Rechtsstaat sein. Wenn eine gerichtliche Entscheidung steht, ist sie zu beachten, ohne Wenn und Aber. Das verlangen wir von jedem Bürger, von wirklich absolut jedem Bürger. Das verlangt die Verwaltung auch von jedem Bürger, wenn sie denn mal irgendeine Entscheidung in ihrem Sinne erstritten hat. Das verlangen wir aber natürlich auch, wir meine ich übrigens nicht als Justiz, sondern wir als Demokraten, als Staatsbürger, auch von der Verwaltung. So funktioniert ein demokratischer Rechtsstaat. Und wenn sich daran nicht gehalten wird, haben wir in diesem Land ein riesiges strukturelles Problem.
"Ich bin von Berufs wegen Richter. Ich unterstelle nichts"
Sawicki: Unterstellen Sie da der Verwaltung und der Politik in diesem Fall in Nordrhein-Westfalen Vorsatz?
Friehoff: Ich bin von Berufs wegen Richter. Ich unterstelle nichts. Wenn ich eine Aussage dazu treffe, möchte ich ganz gern auch die Beweisführung haben. Die liegt hier im politischen Raum.
Tatsächlich ist es aber auf jeden Fall so, dass das Verwaltungsgericht nicht alle Informationen bekommen hatte, die sie hätten haben sollen und nach denen sie auch gefragt hatten.
Sawicki: Hätte Joachim Stamp deswegen zurücktreten müssen?
Friehoff: Das ist eine politische Frage, zu der ich mich als Richterbundsvorsitzender an dieser Stelle nicht äußern will.
Sawicki: Machen Sie auch dem Innenminister Horst Seehofer Vorwürfe im Hinblick auf die Emotionalität rund um die Debatte um die Abschiebung von Gefährdern, die Sie ja schon angesprochen haben?
Friehoff: Ja, hier kommen wir nun auf die zweite Ebene. Das ist gut, dass Sie das ansprechen. Wir haben sicherlich eine sehr sensible Diskussion über die Frage, wie gehen wir mit Gefährdern um. Das hat ja auch einen Vorlauf, wenn wir dieses schreckliche Berlin-Attentat bedenken und was ansonsten mit all diesen Dingen passiert. Die Kernüberlegung, wenn man es jetzt mal versucht, möglichst einfach darzustellen, ist aber eigentlich ziemlich schlicht. Im Kern geht es darum, dass wir in Deutschland zum Glück ein Folterverbot haben. Und ich denke, alle, zumindest alle Demokraten stimmen mir da zu, Folterverbot ist Folterverbot. Und dieses Folterverbot gilt für jeden. Das Folterverbot gilt nicht nur für Deutsche oder für Menschen, die wir mögen, sondern es gilt auch für Menschen, die wir für schlecht halten. Dieses Folterverbot muss absolut gelten, und ich denke, da sind sich alle Demokraten einig.
Und deswegen ist eine Abschiebung dann möglich, wenn man die Beweisführung hat, dass im Abschiebeland keine Folter droht. Und man stritt sich eigentlich nur noch darum, ob diese Beweisführung erfolgt ist, ob die entsprechende diplomatische Note vorliegt oder besorgt werden kann und diese Dinge. Das hätte man alles in Ruhe klären können und in Ruhe klären sollen. Dann hätten wir all diese Probleme, über die wir jetzt reden nicht.
Weil die Situation aber sehr emotional ist und auch weiter emotional aufgeheizt wurde durch bestimmte Boulevardpresse, durch bestimmte politische Vorgaben, kam sehr viel unangemessener Druck in die Sache, und das führte dann zu der Abfolge der Ereignisse, die wir nun zu beklagen haben.
Richterbundsvorsitzender beklagt unangemessene, teils strafbare Reaktionen
Sawicki: Haben Sie auch Informationen, bekommen Sie Erfahrungen zugespielt, dass sich hinter den Kulissen da weiter Druck, bisher unbeachtet vielleicht, auf die Gerichte vonseiten der Politik aufbaut?
Friehoff: Als Richterbundvorsitzender Nordrhein-Westfalen und als Direktor eines Amtsgerichts habe ich nur einen begrenzten Blick hinter die Kulissen. Was die Gerichte angeht, bin ich jedoch recht zuversichtlich, dass die Kolleginnen und Kollegen zumindest ganz grundsätzlich einen solchen Druck auch aushalten. Das ist ihr Beruf. Sie lassen sich von diesen Dingen wenig bis gar nicht irritieren.
Was natürlich ein Riesenproblem wiederum ist, und das ist dann eine ganz andere Ebene noch, das sind die Reaktionen, die jetzt auf das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen eingeprasselt sind, von denen ich mir habe berichten lassen, in denen wirklich unsägliche, auch strafbare Äußerungen wohl gefallen sind und dann auch in dieser unmittelbaren Konfrontation, wo jegliches halbwegs sachliche Nachdenken wohl offensichtlich abgeschaltet worden ist.
Sawicki: Können Sie da ein Beispiel nennen, welche Aussage Sie für strafbar erachten?
Friehoff: Na ja – Morddrohungen, "vergasen", Beschimpfungen, denke ich …
Sawicki: Also Reaktionen in sozialen Netzwerken. Keine politischen Äußerungen?
Friehoff: Nein, nein. Nicht in sozialen Netzwerken, sondern Äußerungen, die dann unmittelbar beim Verwaltungsgericht angekommen sind. Nicht die üblichen, sehr unerfreulichen Äußerungen, oder nicht dieses normale Gerede, was da in diesen sozialen, asozialen Netzwerken, wie auch immer Sie das nennen mögen, erfolgt, sondern wirklich ganz unmittelbares hasserfülltes, bedrohendes Beschimpfen. Das ist eine andere Qualität.
Sawicki: Ist das für Sie eine Folge dieser emotionalen Debatte?
Friehoff: Das liegt nahe, ja. Ich bin jetzt kein Soziologe, dass ich da hundertprozentige Kausalität feststellen könnte, aber das ist völlig neu. Das hatten wir vorher noch nicht. Und dass wir das ausgerechnet natürlich in einer so emotional aufgeheizten Debatte haben, legt natürlich diesen Zusammenhang nahe, und wie dann mit den weiteren gerichtlichen Verfahren in der öffentlichen Darstellung, in den Boulevardmedien umgegangen wird, das tut natürlich noch ein Übriges.
Sawicki: Umgekehrt stellt sich natürlich trotzdem auch die Frage, vor allem, wenn viele Menschen wenig Verständnis nachgewiesenermaßen dafür haben, wie mit Sami A., mit dem Fall umgegangen ist, können Sie das nicht nachvollziehen sozusagen, dass man dann Kritik an diesem Urteil übt?
Friehoff: Ich kann verstehen, wenn Menschen, die keine juristische Ausbildung haben, und das sind nun die allermeisten Menschen, vielleicht auch zum Glück die allermeisten Menschen, dass Menschen, die keine juristische Ausbildung haben, dass die sich zunächst erst mal mit der Analyse und der Trennung dieser Problemebenen schwertun. Aber ich denke, wenn man möchte, kann man das den Menschen auch erklären. Und in dem Moment, und das war ja für uns als Richterbund Nordrhein-Westfalen der Aufhänger, in dem Moment, in dem Herr Reul diese Gesprächsebenen vermengte und damit den Blick auf das eigentliche Problem, der Entscheidung von Mittwoch, verstellte, in dem Moment wurde es wirklich schwierig. Denn Mittwoch hat das OVG ja eigentlich zu der Sache selbst gar nicht gesagt, sondern einfach nur festgestellt, es geht nicht an und es ist absolut nicht in einem Rechtsstaat tolerabel, dass die Verwaltung Gerichtsentscheidungen missachtet.
Friehoff: Man muss auf drei Ebenen über Konsequenzen nachdenken
Sawicki: Was müssen jetzt die Konsequenzen aus diesem Fall sein?
Friehoff: Man wird sicherlich auf zwei, nein, man wird auf drei Ebenen über Konsequenzen nachdenken müssen. Das eine ist die politische Ebene, da mögen sich die Parteien und die Parlamentarier miteinander auseinandersetzen. Das ist nicht meine Baustelle, auch nicht unsere Baustelle als Justiz. Die zweite Ebene, da ist auch schon angefangen worden oder in Aussicht gestellt worden, Gespräche zu führen, seitens der Ministerien und Gerichte, wie man besser kommunizieren kann. Wenn Sie sich mal dieses Ausschussprotokoll vom 20.7. anschauen – übrigens, da kann ich diese Anregung geben, das Ausschussprotokoll ist für jeden, der einen Internetzugang hat, frei herunterladbar und nachlesbar, sind 66 Seiten, ist teilweise sogar spannend. Das ist die Ausschusssitzung vom 20.7. gewesen. Da wird sehr klar dargestellt, wie verquer teilweise die Kommunikationswege waren.
Ich will das jetzt nicht bewerten, wie das gelaufen ist, sondern es ist halt nur sehr über Eck gelaufen. Und da wird man vielleicht drüber nachdenken können, wie man sicherstellt, dass klarere und eindeutigere Kommunikationswege noch vorhanden sind, damit man derartige Debatten künftig nicht mehr hat.
Und die dritte Ebene, auf der zu handeln ist, ist natürlich die, dass wir uns alle, und damit meine ich jetzt wir als Justiz, wir als Richterbund, noch besser aufstellen müssen, wie wir versuchen können, dem Bürger das Funktionieren von Justiz nahezubringen. Ich bin da sehr zuversichtlich, dass das grundsätzlich geht. Dass viele Leute ja auch an diesen Themen interessiert sind, und vielleicht sind die – oder ich hoffe, dass die meisten auch froh sind, wenn sie sich nicht immer nur aus dem populistischen Geblähe nähren müssen, sondern tatsächlich auch mal eine vernünftige Information bekommen.
"Wir als Justiz haben natürlich auch die Aufgabe, unsere Arbeit zu erklären"
Sawicki: Konkret daran angesetzt: Wo können Sie da sozusagen als Justiz in Zukunft besser arbeiten?
Friehoff: Wir als Justiz haben natürlich auch die Aufgabe, unsere Arbeit zu erklären. Und da hat sich in den letzten 15, 20 Jahren sehr viel getan. Es gibt Pressesprecher und Gerichtssprecher et cetera. Aber wir haben nach wie vor nicht die Infrastruktur, um dauerhaft wirklich in die Fläche zu arbeiten, und ich denke, dass man da auch noch sehr viel professionalisieren oder noch besser werden kann, als es bislang der Fall ist. Und ich kann mir gut vorstellen, dass das hilfreich ist. Dabei muss man allerdings natürlich sagen, dass der normale Jurist gelernt hat, und das ist sein Beruf, Sachverhalte möglichst fein ziseliert auseinanderzupulen. Und wenn ein Jurist dann was erklärt, kann es gut sein, dass er sich in Details verstrickt, die der Normalbürger gar nicht hören möchte. Das heißt, er muss also entgegen seiner eigentlichen Ausbildung, entgegen seiner eigentlichen Tätigkeit versuchen, möglichst einfache Erklärungen für teilweise extrem komplexe Sachverhalte zu finden. Das ist eine echte Herausforderung. Da hat sich viel getan, aber ich denke, da können wir auch noch besser werden.
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