Sprecherin: Oft war sie die einzige Frau unter vielen Männern: Die Richterin Renate Jaeger, geboren am 30. Dezember 1940 in Darmstadt. Nach dem Abitur verbringt sie mehrere Monate in den USA. Die dortige Diskrepanz zwischen Norm und gelebter Wirklichkeit ermuntert sie zum Studium der Rechtswissenschaften. Jaeger studiert in den 1960er-Jahren in Köln, Lausanne und München. Die gesellschaftlichen Umbrüche dieser Dekade beeinflussen sie aber erst später wirklich.
Sie ist bereits Ehefrau und Mutter, als sie 1968 ihr zweites Staatsexamen abschließt. Bis 1974 arbeitet Renate Jaeger als Richterin am Sozialgericht Düsseldorf. Vom Rheinland zieht es sie ins Badische. Jaeger wird wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. 1990 tritt sie in die SPD ein. 1994 dann die Ernennung zur Richterin am Verfassungsgericht.
Mit 63 Jahren erfüllt sich ein Lebenstraum für die überzeugte Europäerin: Die parlamentarische Versammlung des Europarats wählt sie zur Richterin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dort bleibt sie bis 2011. Ob Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft oder Vorsitzende des Disziplinarrates der EU-Kommission, auch nach 2011 bleibt Renate Jaeger aktiv.
Sorge um die Verfassungsordnung
Stephan Detjen: Frau Jaeger, die nächsten Wochen nach der Ausstrahlung dieses Gesprächs werden stark geprägt sein von den Feiern, von Reden, von Erinnerungen zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes. Wir feiern das Jubiläum unserer Verfassung. Sie sind, wenn man das so sagen kann, ein Kind dieser Verfassung, Sie sind die erste Generation, die im Grunde ihr gesamtes, jedenfalls politisch bewusstes Leben in der Verfassungsordnung dieses Grundgesetzes gelebt haben. Und Sie haben sie ja dann auch als Richterin am Bundesverfassungsgericht, am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg haben Sie die deutsche und europäische Verfassungsordnung ganz maßgeblich mitgestaltet. Wenn Sie auf Verfassung in Deutschland und Europa in diesen Tagen schauen, sind Sie dann besorgt, dass Sie, dass wir zurzeit vielleicht auch so etwas wie den Anfang vom Ende der rechtsstaatlich liberalen Verfassungsordnung erleben, wie Sie sie kennengelernt und mitgeprägt haben?
Jaeger: Ich bin besorgt, aber ans Ende denke ich dabei noch nicht. Ich sehe die Gefährdung. Ich sehe, dass wir das äußere Gerippe, das Gehäuse, das haben wir gut bewahrt, aber ob wir es innerlich ausfüllen, ob wir mit Überzeugung dahinterstehen, ob wir wirklich Entscheidungen, die uns nicht gefallen, immer noch vollstrecken wollen, ein Thema in vielen Ländern, aber auch bei uns, solche Dinge höhlen Verfassungen aus, auch wenn sie im geschriebenen Text ganz unverändert bleibt.
Detjen: Woran denken Sie da? Die einen sagen, die Erosion von Rechtsordnung hat zum Beispiel angefangen mit der Eurorettungspolitik, man hat sich nicht mehr an die Verträge gehalten bei der Rettung der gemeinsamen Währung. Die anderen schauen auf die Flüchtlingspolitik, wieder andere schauen auf den Umgang des Staats in Asylverfahren, auf politischen Druck, auf Medien, die da eine Rolle spielen? Worauf achten Sie?
Jaeger: Auf alles zusammen, was Sie gerade erwähnt haben. Wenn wir gerade in den letzten Tagen die Diskussion hatten, ob eigentlich Abschiebungen vollzogen werden sollen oder ob Menschen, denen die Entscheidung nicht passt, legitimiert, wenn auch nicht legal handeln, wenn sie sich dagegenstellen, die Leute warnen, ist ein solcher Punkt. Ein weiterer Punkt ist die Frage, wie weit werden Wahlen beeinflusst. Ein dritter Punkt, wie weit respektieren wir das Verfassungsgericht als solches, fragen wir uns nicht, ob sich da Richter zu sehr in die Politik einmischen und der zu fern sind. Diese Probleme werden immer lauter. In den USA hat es angefangen. Der frühere Kollege Dieter Grimm hat neulich hier in der Justizpressekonferenz darüber berichtet und auch dies mit einem sehr ernsten Unterton: Wir dürfen das nicht ignorieren, wenn wir das System erhalten wollen, und ich möchte das.
Detjen: Sie haben das Beispiel USA erwähnt, das ist ein besonders drastisches Beispiel, was wir da gerade erleben, vom Ringen um Verfassungsrichter, um Verfassungsgericht, um Rechtsstaatlichkeit. Aber der Konflikt ist auch mitten in Europa angekommen – Polen, Ungarn, auch der Brexit kann man als einen Konflikt um eine Verfassungsordnung sehen.
Jaeger: Richtig. Genau das. Es wird immer zweifelhafter, ob wir die gegebenen, man könnte sagen Hierarchien oder Verpflichtungen, die wir eingegangen sind mit Verfassungen, wirklich einhalten wollen.
Detjen: Haben wir uns zu lange Illusionen über die Stabilität des Grundgesetzes gemacht? Wenn man frühere Verfassungsjubiläen anschaut, dann sind das meistens Feierlichkeiten, Reden der Selbstbestätigung, der Selbstvergewisserung gewesen, das Grundgesetz wurde als die beste Verfassung gepriesen, die Deutschland jemals hatte, und vielleicht hat man zu wenig auf die Schwächen, auf die Verwundbarkeit auch der Verfassung geschaut.
Jaeger: Also ich erinnere mich ja an das Jubiläum zu 50 Jahren, was ja ein ganz großes Ereignis hier in Karlsruhe war. Wir haben da nicht auf die Schwächen geschaut, das stimmt, aber Schwächen werden von außen herangetragen. Ich würde jedenfalls in Deutschland sagen, die Schwächen kommen nicht aus dem Inneren des Gerichts, sie kommen auch nicht aus dem Inneren der anderen Gerichte. Sie kommen aus der Öffentlichkeit, aus der Gesellschaft.
Detjen: Was sehen Sie da, was nehmen Sie da wahr?
Jaeger: Einmal Desinteresse. Eigentlich lebe ich hier frei, aber ob ich das verteidigen muss gegen Angriffe, was geht es mich an. Ja, eine solche Haltung. Die Haltung, es kommt mir viel mehr darauf an, ordentlich Geld zu verdienen, vielleicht auch nur deshalb, um eine Wohnung zu bekommen, als sich zu überlegen, ob nicht das Gefüge unseres Staates mir garantieren sollte, dass es sozialstaatlich und liberal funktioniert und dass ich dann als Bürger aufgerufen bin, mich daran auch zu beteiligen, aktiv es zu verteidigen.
"Es gibt eine Verführung, geführt zu werden, wenn die Freiheit grenzenlos scheint"
Detjen: Wir erleben wirkliche Gegenmodelle zum Modell der rechtsstaatlich liberalen Demokratie. Viktor Orbán in Ungarn spricht vom Modell der illiberalen Demokratie, von der nationalen Schließung, die er dem Modell der offenen Gesellschaft und freiheitlichen Verfassung, so wie wir das Grundgesetz jedenfalls 60, 70 Jahre verstanden haben, entgegenstellt.
Jaeger: Ja, es gibt eine Verführung, geführt zu werden, wenn die Freiheit grenzenlos scheint und einem schwerfällt, man alle Wahl hat, aber man nicht weiß, wie man wählen soll, jetzt nicht im politischen Sinne. Dann wartet man darauf, dass man Muster angeboten bekommt, dass man einfach nur folgen kann. Das ist eine leichte Art zu leben, solange man davon nicht schmerzlich betroffen wird.
Detjen Sie haben es gerade gesagt, die Bedrohung, die Sie wahrnehmen, kommt aus der Gesellschaft, öffentliche Diskurse, Medien, politische Entwicklungen, politische Akteure haben Sie da in den Blick genommen. Wenn man sich das betrachtet, welchen Beitrag leistet dann eigentlich der institutionelle, der verfahrensmäßige Rahmen zur Stabilität einer Demokratie, den eine Verfassung wie das Grundgesetz zur Verfügung stellt?
Jaeger: Das ist die eigentliche Garantie für alles, was an Versprechen in der Verfassung steht. Ohne einen institutionellen Rahmen kann es nicht funktionieren. Verfahrensrechte in jeder Weise sind unglaublich wichtig. Das ist mir im Verlaufe meines Lebens immer klarer geworden und hat sozusagen kulminiert in der Zeit in Straßburg, wo es noch deutlicher wurde, dass nur mit gesicherten Verfahren man auch zu angemessenen Ergebnissen kommen kann.
Konservativ gelernt, modern ausgelegt
Detjen: Straßburg ist dann schon eine der letzten Phasen Ihres reichen beruflichen Lebens.
Jaeger: So ist es.
Detjen: Schauen wir auf den Anfang. Ihr Studium, das war in den bewegten 60er-Jahren. '68, wenn ich es richtig gelesen habe, sind Sie Richterin –
Jaeger: Geworden, ja.
Detjen: – geworden. Das waren gerade in der Justiz, auch in der Rechtspolitik, waren das ja Aufbruchsjahre. Reformen, soziale Bewegungen, auch neue Vorstellungen von Recht, Rechte als Gestaltungsmittel in der Gesellschaft. Welche Ziele, welche Erwartungen haben Sie damals bewegt und motiviert, als Sie Juristin geworden sind?
Jaeger: Ich muss Sie da komplett enttäuschen, denn die Ausbildung zwischen 1959 und 1963, am Ende, als mein Studium abgeschlossen war, die war komplett dominiert von Professoren, die aus dem Dritten Reich noch kamen. Junge Professoren gab es so gut wie überhaupt nicht.
Detjen: Professorinnen auch kaum?
Jaeger: Keine. Ich habe keine erlebt. Dass ich überhaupt Jura studiert habe, lag an meinem Aufenthalt in den USA nach dem Abitur, wo mir der eklatante Widerspruch zwischen dem, was uns die Amerikaner in der Nachkriegszeit empfohlen hatten, wenn ich nicht sagen soll: aufgedrückt hatten als Verfassung und als Ideale, wo das überhaupt nicht gelebt wurde. Mein Entsetzen über die Zustände zum Beispiel in Chicago: die extreme Rassendiskriminierung, die Schere zwischen arm und reich, die so weit auseinanderging, dass wir uns das kaum vorstellen können – das alles hat mich verstört. Auch Juden wurden diskriminiert, waren in Country Clubs nicht zugelassen. Uns hatten sie beigebracht, dass das das schlimmste Verbrechen wäre. Also die Diskrepanz zwischen gelebter gesellschaftlicher Wirklichkeit und den hohen Ansprüchen, die hat mich aufgeweckt und hat dazu geführt, dass ich dachte, ich will Jura studieren, was ich vorher nicht wusste. In der Familie gab es keine Juristen.
Dann im Studium hat mich genauso aufgestört, dass vollkommen unhinterfragt weiterhin all die Entscheidungen aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 zitiert wurden im Strafrecht, im Staatsrecht, in der Abwägung der Verhältnismäßigkeit im Zivilrecht. Da ich nicht zum Repetitor ging, sondern in den Entscheidungen nachgelesen habe, war ich entgeistert. Ich bin auch einmal zu einem Professor gegangen und habe gesagt, wissen die eigentlich, was Sie hier zitieren? Das wurde nicht gern gehört.
Detjen: Aber es gibt dann einen Wandel. Es kommt –
Jaeger: Der kam danach.
Detjen: – in den 60er-, 70er-Jahren.
Jaeger: So ist es.
Detjen: Ich will mich da nicht ganz von allen Illusionen verabschieden, und Sie waren Teil davon. Sie sind Mitglied des Juristinnenbundes geworden, Frauen sind aufgetreten.
Jaeger: Ja. Ich wollte nur sagen …
Detjen: Es gibt auch eine neue Generation von Staatsrechtlern, die ja auch zum Teil an Traditionen aus der Weimarer Zeit dann anknüpft.
Jaeger: Richtig.
Detjen: Es gibt auf einmal linkes Rechtsverständnis, das sich an bestimmten Universitäten durchsetzt und da mächtig vertreten wird.
Jaeger: Aber ich glaube, dass man an meiner persönlichen Entwicklung klarmachen kann, wie schwierig das ist, in eine solche Bewegung hineinzugeraten, wenn man in der Zeit des Aufbruchs bereits Teil des Systems ist, Richterin ab '68, und Mutter eines Kindes, verheiratet, in der Familiengründungsphase, wo man sehr stark durch allesmögliche belastet ist.
Das heißt, bei mir war die Zeit bis, ich würde sagen, 1976, bis ich Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht wurde, war ich von den politischen Entwicklungen ziemlich abgekoppelt. Ich glaube schon, dass ich im Bereich der Rechtsprechung, die ich in der Zeit zu verantworten hatte, insbesondere die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Rentenversicherung, durchaus von meiner Nachdenklichkeit profitiert habe. Aber dass ich mich als Teil einer gesellschaftlichen Aufbruchsbewegung gesehen hätte, nein.
Detjen: Kam das dann später?
Jaeger: Das kam. Das kam in demselben Moment, wo ich hier in Karlsruhe in einem Mitarbeiterkreis empfangen wurde, der …
"Das war wie so ein Erweckungserlebnis"
Detjen: Als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Bundesverfassungsgericht.
Jaeger: Ja, der ganz außergewöhnlich war und wo viel Zeit war zu diskutieren, wo wir natürlich immer mit Verfassungsfragen, also auch mit gesellschaftlichen und politischen Fragen befasst waren, und das war wie so ein Erweckungserlebnis, genau so würde ich das kennzeichnen.
Detjen: Man muss das vielleicht erklären für jemanden, der das nicht kennt. Diese wissenschaftlichen Mitarbeiter, manchmal genannt der dritte Senat des Bundesverfassungsgerichts, eine Art Kaderschmiede der deutschen Justiz, viele, die man dann auch später, so wie Sie, als Verfassungsrichter wieder erlebt oder in höchsten politischen Ämtern, waren mal Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht. Gibt es da Personen, die Ihnen besonders in Erinnerung sind, die wichtig für Sie waren, die Sie geprägt haben, Vorbilder vielleicht, die da aufgetreten sind?
Jaeger: Ja, ganz sicher. Simon und Rupp-von Brünneck, die ich – Rupp-von Brünneck nur kurze Zeit, aber Simon –
Detjen: Eine der wenigen Richterinnen damals.
Jaeger: – erlebt habe. Ganz sicher war auch mein durchaus politisch im anderen Lager stehende Meister Katzenstein für mich prägend in seinem Umgang mit dem Recht und mit der Gesellschaft, weil er vom Typ her und aus einer internationalen Familie kommt, sehr offen war. Das spielt eine ganz große Rolle. Und manchmal spielt es auch eine Rolle, dass sich Menschen verbunden fühlen, weil sie mit demselben religiösen Hintergrund kamen. Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass die Dreierbesetzung in der Kammer, also wenn drei zusammen einstimmig entscheiden – in diesem Fall Bender, Simon, Katzenstein, sehr verschiedene Menschen, die aber einen ähnlichen Hintergrund hatten –, sich mühelos über soziale Fragen und über Gerechtigkeitsvorstellungen verständigen konnten, ohne in dogmatische Streitereien zu verfallen.
Die Zeit am Bundesverfassungsgericht: Fehlende Kommunikation mit der Öffentlichkeit
Detjen: Sie haben das eben schon erwähnt: Eine junge Frau, eine Mutter, erstes Kind, dann kam noch ein zweites dazu, Richterin, immer Vollzeit im Beruf, und dann eine steile Karriere, Sozialrichterin, Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht, Richterin am Bundessozialgericht, dann schließlich Bundesverfassungsgericht – was waren die Voraussetzungen, und zwar einerseits in Ihrer Person, persönliche Voraussetzungen, aber dann auch in Ihrem Umfeld in dieser Zeit, mit diesen Lebensumständen als Frau, diese Karriere zu machen?
Jaeger: Also das wichtigste war, dass ich immer arbeiten wollte, dass mir wirklich am Herzen lag, das umzusetzen, was ich mal gelernt hatte. Das war wichtig. Das Zweite war, dass mir Geld nicht wichtig war. Ich habe über viele, viele Jahre – ich, wir, die Eheleute – das eine Gehalt komplett ausgegeben, um persönliche Kinderbetreuung sicherzustellen.
Detjen: Gab es Förderer, gab es Mentoren, die wichtig für Sie waren?
Jaeger: Es gab sicherlich Vorbilder, es gab Vorbilder im positiven und im negativen Sinn, so willst du es nie machen, oder das macht jemand großartig. Es gab auf jeden Fall Menschen, die wohl gesehen haben, dass ich gewisse Talente habe.
Detjen: Das hat dann auch irgendwann auch dazu geführt, dass Sie hierherkamen nach Karlsruhe 1994.
Jaeger: Ja.
Detjen: Gewählt im Frühjahr 1994, zusammen auch mit Jutta Limbach, die damals Vizepräsidentin, später dann nach den Traditionen des Gerichts dann Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts wurde. Der Wahl von Jutta Limbach, anders als Ihrer Wahl, ist eine politische Auseinandersetzung zuvorgegangen. Das hat gezeigt, wie Politik da wirkt bei der Bestellung von Richtern. Wie haben Sie das erlebt, welche Rolle spielt Politik, welche Rolle spielt auch Parteizugehörigkeit? Sie waren seit 1990, glaube ich, SPD-Mitglied.
Jaeger: Richtig. Mein Sohn hatte mich geworben. Wir waren damals beide in Münster, weil ich auch in Münster auch noch unterrichtete an der Universität und im Verfassungsgericht Münster war. Also ich war Verfassungsrichterin des Landes, und ich war Bundesrichterin, und ich dachte, wenn ich jetzt die Partei eintrete, kann das keiner so interpretieren, dass ich jetzt eine Karriere machen möchte, weil ich Parteimitglied bin. Eigentlich habe ich gedacht, ich bin da am Ende meiner Laufbahn. Das liegt jetzt 25 Jahre zurück, und das war weiß Gott nicht das Ende. Aber das habe ich so nicht geahnt.
Dann hat es wahrscheinlich eine Rolle gespielt für die Wahl zum Bundesverfassungsgericht, aber entscheidender war, dass das Gericht ja einen Vorschlag machen musste, weil da eine so lange Vakanz war, bevor Jutta Limbach gewählt wurde und die Politik sich nicht einigen konnte.
Detjen: Ist es vor dem Hintergrund immer problematisch, wenn dann, so wie wir es jetzt auch gesehen haben, aktive Politiker aus der politischen Karriere ins Verfassungsgericht wechseln? Wir haben das immer wieder erlebt, ehemalige saarländischer Ministerpräsident Müller ins Gericht gewechselt, Roman Herzog war vor... Also viele, viele Beispiel von aktiven Politikern. Stefan Habert, vorher stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, jetzt Vizepräsident, künftig Präsident wahrscheinlich des Gerichts. Also der ist nur das letzte Beispiel. Führt das zu Problemen im Gericht oder belebt es das Gericht? Ist das gut für das Gericht?
Jaeger: Die Fälle, die ich habe beobachten können, waren eigentlich eher belebend. Ich habe keinen Zweifel, dass Bender ein vorzüglicher Präsident war, und er war intern ein erstklassiger Vorsitzender.
Detjen: Und war vorher Bundesinnenminister gewesen.
Jaeger: Ja. Und der Ruf, den er als Innenminister hatte, den hat er ja überhaupt nicht eingelöst als Vorsitzender des Ersten Senats oder als Verfassungsgerichtspräsident. Jeder hat gesehen, wie er richterlich geworden ist und auch sich verändert hat mit dem Amt. Ich würde das bei Herzog ganz genauso sehen.
Ich unterstelle daher, dass das auch den anderen möglich ist. Wir müssen uns alle verändern, wenn wir in ein solches Gremium gehen. Wenn ich als Bundesrichter – und wir haben diese Quote, dass in jedem Senat drei Bundesrichter zu wählen sind –, wenn die Hemmungen hätten gegenüber ihrem alten Gericht, eine Beißhemmung, und sagen würden, ich komme vom BGH, alles, was der BGH macht, ist verfassungskonform, ich komme vom Bundessozialgericht, das ist wunderbar, die Rechtsprechung Land, wir brauchen das Verfassungsgericht gar nicht – wenn die sich nicht ändern könnten, würde es auch nicht funktionieren.
Detjen: Als Sie in das Gericht kamen Mitte der 90er-Jahre, war das Gericht, kann man glaube ich so sagen, in schwerem Wasser. Es gab heftige Diskussionen um eine Reihe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts – Soldaten sind Mörder, Kruzifix-Entscheidung, Sitzblockadenentscheidungen, es gab Demonstrationen in München, öffentliche Demonstrationen vor der Feldherrnhalle mit Beteiligung des Klerus und des bayrischen Ministerpräsidenten gegen das Bundesverfassungsgericht, aber auch in der Staatsrechtslehre wirklich fast eine Spaltung in der Diskussion darüber, ob das Bundesverfassungsgericht zu weit geht, sich zu sehr in Politik einmischt. Wie haben Sie diese Diskussion erlebt, und wie haben Sie ihm Gericht gewirkt, als Sie da reinkamen?
Jaeger: Ich befürchte, ich war einer der Gründe für diesen Wechsel, weil damit die Stimmen sich ganz deutlich in die Richtung dieser Fünfermehrheit verändert haben.
Detjen: Im Ersten Senat.
Jaeger: Im Ersten Senat. Ich war weniger vorsichtig. Jugendliches Ungestüm könnte man sagen. Jedenfalls gelernt haben wir, dass wir solche Sachen viel besser vorbereiten müssen. Das, scheint mir, war damals das größte Defizit. Eine gewisse Betriebsblindheit und Selbstherrlichkeit, nicht die Entscheidungen, sondern die Art, wie wir sie präsentiert haben.
Detjen: Also die Kommunikation nach außen.
Jaeger: Ja. Wir haben nicht mündlich verhandelt. Die Öffentlichkeit wusste überhaupt nicht, dass darüber im Augenblick beraten wird.
Detjen: Die "Soldaten sind Mörder"-Entscheidung war zunächst eine Kammerentscheidung.
Jaeger: War eine Kammerentscheidung. Die beruhte auch auf alter Rechtsprechung. Das war in Ordnung, dass die Kammer entschied, aber wir hatten nicht gespürt, dass in dieser Zeit einfach die Wiederholung einer alten Entscheidung durch drei zu solchem Aufstand führen könnte. Das galt für das Ganze.
Wir haben danach gewusst, wenn es heikel ist, wenn es weltanschaulich heikle Fragen sind, und mögen sie auch verfassungsrechtlich bereits als geklärt gelten, dann verhandeln wir besser. In dem Moment, wo wir verhandeln, wird die Öffentlichkeit, ohne dass sie den Spruch kennt, wach, hier muss noch mal drüber nachgedacht werden, Menschen bilden sich eine Meinung, die nicht gleich Opposition zu einer Verfassungsgerichtsentscheidung ist, und es geht nicht darum, dass das Gericht dann anders entscheidet, sondern dass der Boden ganz anders vorbereitet ist.
Auch die Kommentare aus den Medien sind ja vorher auf diesem ungewissen Feld viel vorsichtiger, als wenn die Entscheidung da ist und man sagt, na so hätten sie es aber nicht machen dürfen, wenn man sich also vorher auch schon mit seiner eigenen Meinung in die Öffentlichkeit wagt.
Detjen: Auch danach hat das Gericht anders reagiert. Zum ersten Mal hat man sich eine Pressesprecherin, Uta Fölster damals, ans Gericht geholt. Es gab Richter, die sind in die Öffentlichkeit …
Jaeger: Die Pressesprecherin war eine sichtbare Änderung, ganz sichtbare Änderung, aber im Gericht in solchen Fällen haben wir jeweils uns gefragt, sollten wir hier mündlich verhandeln, und zwar nur, um so etwas zu vermeiden, und dass wir ganz bestimmt keine heikle Entscheidung mehr einfach auf den Tisch des Pförtners legen, wo ihn die Journalisten abholen können und das zwei Tage vor den großen Ferien in Bayern.
Detjen: Zugleich sind in diesen Auseinandersetzungen aber ja – ich habe das eben schon erwähnt – ganz unterschiedliche Vorstellungen über die Rolle des Gerichts, über die Rolle von Rechtsprechung, aber auch unterschiedliche Rechtsvorstellungen aufeinandergeprallt, die sich dann auch in unterschiedlichen Richterpersönlichkeiten abgebildet haben, auch in unterschiedlichen Akzentuierungen der Rechtsprechung der beiden Senate in ganz vielen verschiedenen Fragen etwa auch, Sozialrecht, Steuerrecht, Themen, die Sie dann wieder selber sehr beschäftigt haben. Wie wurden diese Konflikte, diese Auseinandersetzungen im Gericht selber ausgetragen? Man sitzt da zusammen, acht Richter im Senat, drei in der Kammer.
Jaeger: Im Gericht habe ich mit einer einzigen Ausnahme niemals erlebt, dass die harten Auseinandersetzungen und die sehr unterschiedlichen Meinungen, die aufeinandergeprallt sind, daran gehindert hätten, anschließend ein Glas Wein trinken zu gehen.
Detjen: Aber die Ausnahme gab es.
Jaeger: Eine Ausnahme gab es.
Detjen: Und Sie sagen nicht welche.
Jaeger: Ich glaube, es ist einfach auch nicht nötig, aber ich gestehe damit zu, dass es soweit kommen kann, dass es eine Ausnahme gibt. Doch, warum sollte ich es nicht sagen, denn die Ausnahme kann man in den amtlichen Sammlungen nachlesen, wo der Zweite Senat über eine Rechtsfrage, die im Ersten Senat anhängig war, entschieden hat, eh überhaupt der Erste Senat entschieden hatte.
Detjen: Das war Kind als Schaden?
Jaeger: Das war Kind als Schaden.
Detjen: Erklären Sie uns kurz, was da die Auseinandersetzung war.
Jaeger: In einem sehr mühsamen Entscheidungsprozess hatte der Zweite Senat das Abtreibungsrecht verfassungsrechtlich gestaltet, und in einem Leitsatz stand drin, wenn das Abtreibungsrecht so gestaltet ist, dann darf auch ein Kind nicht als Schaden angesehen werden, obwohl es in dem Fall nur um die strafrechtliche Abtreibung ging.
Der Erste Senat hatte dann Fälle, in denen Ärzte Eltern in der genetischen Beratung fehlerhaft, grob fehlerhaft beraten haben, Eltern, die wussten, wir wollen kein zweites Kind, wenn das genauso behindert wird wie das erste. Und es ist ihnen gesagt worden, kein Risiko, und sie haben ein zweites schwerstbehindertes Kind gekriegt. Der BGH hatte entschieden, in seiner langjährigen Rechtsprechungstradition, dass der Unterhalt, den sie diesem Kind schulden, der sehr hoch ist, ein Schaden ist, ein finanzieller Schaden, und diese Frage war dann an den Ersten Senat gekommen.
Der Erste Senat hat den BGH bestätigt. Im Zweiten Senat waren noch Richter, die an der Entscheidung mitgewirkt hatten, denen das ein Dorn im Auge war. Das hat zu einer ganz ungewöhnlichen und eben prozessual auch, wie ich meine, total unzulässigen Verfahren geführt, dass ein Senat unter dem Aktenzeichen des anderen einen Beschluss verfasst, zu dem er weder angerufen noch berufen ist. Aber das hat sich dann auch wieder gelegt.
"Das Wesentliche ist, die richtige Richterpersönlichkeit zu finden"
Detjen: Was ist die Voraussetzung dafür, dass ein Gericht von solchen Auseinandersetzungen – und das ist ja jetzt ein besonders prägnantes Beispiel, in allen Entscheidungen wird wahrscheinlich dann immer wieder heftig gerungen um Formulierungen, um Ausrichtungen des Gerichts –, wie funktioniert das, und was ist die Voraussetzung dafür, dass so ein Gericht von diesen Diskussionen, von dem Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Vorstellungen nicht dauerhaft Schaden nimmt, dass man dann immer wieder gut zusammenkommt, immer wieder dann doch am Ende gemeinsame Linien findet?
Jaeger: Das Wesentliche ist, die richtige Richterpersönlichkeit zu finden, wie die Menschen in der Lage sind, miteinander umzugehen, und dahinter für jeden einzelnen die feste Überzeugung, ich habe meine Meinung, und der andere darf seine Meinung haben, und wir sind zusammen berufen, die Meinung des Verfassungsgerichts zu bilden. Deshalb ist es kein Wunder, dass gerade die Entscheidung zur Meinungsfreiheit in dem Gericht immer sehr zugunsten der Meinungsfreiheit ausgegangen sind, denn wir brauchen sie zu acht auch dauernd. Wir haben immer erkannt, dass das eine zentrale positive Eigenschaft ist, um demokratische Prozesse zu formen.
Detjen: Und trotzdem, in der öffentlichen Wahrnehmung wird dann immer wieder einzelnen Richtern ein besonderer Einfluss zugeschrieben – Meinungsfreiheit, da war das Dieter Grimm, dem das immer besonders zugeschrieben wurde. Im anderen Senat in Ihrer Zeit auch Paul Kirchhoff, öffentlich besonders wirksamer wirkender Verfassungsrichter, dem ganz maßgeblich ja Einfluss auf die Europarechtsprechung, auf die Steuerrechtsprechung zugeschrieben wurde. Ist das richtig? Sind einzelne Richter da so prägend, oder wird der Einfluss der Einzelnen in der Öffentlichkeit da zuweilen überschätzt, vielleicht auch bewusst überzeichnet von den Akteuren selbst?
Jaeger: Ich meine, in beiden Fällen haben Sie diejenigen benannt, die für diese Materien Berichterstatter waren. Dann verknüpft sich das leicht, und dementieren wird das niemand, und es wird niemand kommentieren aus der aktuellen Richterschaft jemals. Warum auch? Es ist eigentlich ja auch für die Rezeption von Entscheidungen manchmal schön, wenn sie sich mit Personen verbinden und das Thema nicht rein abstrakt bleibt, aber so richtig darauf ankommen tut es nicht.
Noch einmal im Leben alles verändern
Detjen: Wenn wir über Sozialstaat sprechen, dann sprechen wir zurzeit auch über die Funktion von Nationalstaaten. Es gibt eine Kritik auch von der linken Seite an den europäischen Entwicklungen, die sagt, Arbeitnehmerfreizügigkeit, offene Grenzen, humanitäre Schutzrechte für Flüchtende, für Migranten führen zu einer Aufweichung des Sozialstaats. Ein Sozialstaat braucht nationale Grenzen, lässt sich in einem Europa offene Grenzen so nicht verwirklichen. Ist da was dran an der Kritik?
Jaeger: So ganz mit ja oder nein kann ich nicht antworten. Ich bin infiziert, ich bin seit meinem Studium eine überzeugte Europäerin. Ich hatte einmal vor, im Europarecht zu promovieren, bei Karl Carstens, unserem späteren Bundespräsidenten, und das erste Kind ist mir etwas dazwischengekommen - obwohl ich nicht sagen würde, die Doktorarbeit wäre mehr wert gewesen. Aber seit meinem Studium habe ich eigentlich vorgehabt, auf Europaebene zu arbeiten, was sich dann ganz am Ende meines Lebens hat verwirklichen lassen, was schön war.
Also ich bin so sehr überzeugt davon, dass die Einbindung in Europa wichtig ist, dass ich bei Kritik vielleicht schon immer eine Brille aufhabe, aber zu sagen, das soziale Europa lasse sich nicht verwirklichen, erscheint mir ahistorisch. Es hat angefangen mit dem Versuch, die Sozialsysteme gleichzeitig kompatibel zu machen mit der Arbeitnehmerbewegung, nur so ging es. Man kann Freizügigkeit nicht anbieten, wenn ich dann die Rechte aus den anderen Staaten verliere, und das war früher so. Wenn ich nicht zu Hause wohnte, kriegte ich die Rente nicht. Also schon der Wohnsitz im Ausland konnte schädlich sein. Man verlor alles, wofür man mal Beiträge bezahlt hat.
Die allerersten Verordnungen, die gemacht worden sind in Europa, sind gewesen: die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer zu stärken, das ist gleichzeitig mit der Freizügigkeit gemacht worden. Wie man dann sagen kann, das gefährde das, ist mir rätselhaft.
Detjen: Aber das ist genau das, was passiert, das ist eines der Kernargumente der Brexit-Bewegung in Großbritannien gewesen, das ist eine Kritik, die wir auch hier haben.
Jaeger: Es beruht aber auf Falschinformation. Das beruht sicher auf Falschinformation. Es ist auch immer in Deutschland ein politisches Argument gewesen, hier wandern die Leute in unser Sozialsystem ein. Nein, die sind nicht in die Sozialsysteme eingewandert. Die sind in unsere sehr friedfertige Gesellschaft mit sehr guten Infrastrukturbedingungen eingewandert, wenn man sich das anguckt. Das ist so viel wichtiger als die Sozialsysteme. Das kann es immer auch geben. Missbrauch gibt es überall, aber die Idee, dass das das gefährdet. Wenn man wirklich Gefahren genau konkret beschreiben kann, dann kann man sie auch mit europäischen Verordnungen wieder einfangen, also wo der Missbrauch beginnt. Das geht.
Detjen: Sie haben gerade gesagt, es war immer Ihr Traum, mal auf europäischer Ebene zu arbeiten, und das hat dann auch stattgefunden. Im April 2004 wurden Sie von der parlamentarischen Versammlung des Europarats zur Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewählt. Sie hätten noch zwei Jahre in Karlsruhe gehabt, so lange wäre die Amtszeit hier noch gelaufen. War der Wechsel nach Straßburg für Sie Erfüllung des langen Lebensziels, ein Aufstieg oder einfach der neue Job vor dem Ende der Amtszeit des alten?
Jaeger: Es war ein wunderbares Angebot, kandidieren zu dürfen oder auch eine große Aufregung, noch einmal im Leben alles zu verändern, während man eigentlich meint, man steuert schon auf den Abschluss zu. Das war es, bevor ich angefangen habe. Als ich dann angefangen habe, war das erste Jahr sehr …
Detjen: Man muss vielleicht noch eines sagen, weil Sie sagen, das war ein Angebot. Also man kriegt das nicht einfach präsentiert, man muss sich bewerben. Man wird dann gewählt, man muss vorsingen, muss sich da präsentieren vor dieser parlamentarischen Versammlung?
Jaeger: Die Bundesregierung hat mich gefragt, ob ich kandidieren möchte. Damals war das Verfahren noch nicht so, dass eine Ausschreibung irgendwo im Bundesgesetzblatt oder in der NJW war für Interessenbekundungen. Da sind verschiedene Menschen gefragt worden, und die Bundesregierung musste drei Kandidaten präsentieren. Aus diesen drei Kandidaten wird dann ein Kandidat mit der absoluten Mehrheit der Stimmen gewählt von der parlamentarischen Versammlung.
Detjen: Also Parlamentariern aus 47 Mitgliedsländern der Europäischen Menschenrechtscharta.
Jaeger: Ja, so ist es. Und dazwischen liegt ein sogenanntes Interview bei einem Ausschuss, dem Rechtsausschuss, der sich die drei Kandidaten anhört in Einzelgesprächen.
Detjen: Auch ungewöhnlich für eine amtierende Verfassungsrechtlerin.
Jaeger: So ist es. Es gab Kollegen, die sagten, warum tun Sie sich das an, Sie können ja auch verlieren, Ja, sage ich, natürlich, wie bei jeder Wahl kann man verlieren, es ist nicht sicher.
Detjen: Jetzt ist erklärungsbedürftig, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, immer noch viel erklärungsbedürftiger als das Bundesverfassungsgericht, –
Jaeger: Richtig.
Detjen: – einem Gericht, mit Richterinnen und Richtern aus 47 Mitgliedsstaaten, Englisch und Französisch als Arbeitssprache. Was ist das für eine Welt, in die Sie da kamen?
Jaeger: Ja, sie war wirklich sehr anders. Deshalb sage ich ja, zuerst freudige Aufregung, und ich habe ja auch noch mal meine Sprachen aufpoliert, aber dann die Erkenntnis, dass das mir sehr schwerfiel, sehr schwer, und zwar auch wegen der neuen Arbeitssprachen. Ich stellte bei mir keine Fortschritte fest in Bezug auf das Abspeichern von Entscheidungen, die ich selbst mitmachte in Englisch oder Französisch. Mein juristisches Gedächtnis hat in den zwei Sprachen zunächst nicht funktioniert.
Ich nehme an, dass das für Völkerrechtler – das sind ja meistens die Konkurrenten von Richtern, wenn sie da auf der Liste sind –, die ihr Leben lang Entscheidungen immer in Fremdsprachen gelesen haben, das anders ist, aber für mich war das sehr deprimierend. Ich habe mir gesagt, das kann noch so interessant sein, ich werde das nicht machen, wenn ich da keinen Fortschritt sehe bei mir selbst, wenn ich nicht irgendwann anfange, darin zu schwimmen und wirklich verknüpfen kann, was ich als Verfassungsrichterin an Bestand menschenrechtlicher Entscheidungen und Argumentationshilfen, Dogmatik und so weiter mitbringe, was ich ja in dieses internationale Gericht einbringen soll, das zu transportieren. Ich konnte das in den Fremdsprachen erklären, erzählen, aber ich habe das nicht zusammengebracht. Das war zu Anfang ganz schwierig, und das hat von November bis September gedauert, bis das soweit war. Ich wäre gegangen.
Detjen: Das ist interessant, weil das jetzt sozusagen die Innenseite der Richterin Renate Jaeger an diesem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist, und dann kommt dazu – das stellt man sich zumindest von außen so vor –, dass da an diesem Gerichtshof dann nicht nur unterschiedliche Sprachen, Sprachkompetenzen aufeinanderprallen, sondern auch ganz unterschiedliche Rechtsverständnisse.
Jaeger: Ja.
Detjen: Da sitzen Russen und Türken.
Jaeger: Richtig.
Detjen: Oder saßen zumindest.
Jaeger: Und es sitzen da auch Richter, die dieses Stadium, dass sie das verinnerlichen können, niemals erreichen, weil sie mit viel zu dürftigen Kenntnissen in den Fremdsprachen und oft auch mit unzulänglichen Kenntnissen aus ihren Heimatländern kommen, die das dann machen, weil es gut bezahlt wird und weil es ein ehrenvolles Amt ist. Das kann man auch verstehen, aber es führt dazu, dass unter den 47 nur ein Teil wirklich sehr aktiv an der Gestaltung der Rechtsprechung mitwirkt. Die anderen stimmen ab.
Detjen: Und wie viel Gemeinsamkeit am europäischen Verständnis über die Idee der Menschenrechte haben Sie an diesem Gericht erlebt, und wie viel von Auseinanderfallen dieses Verständnisses? Ich habe Russland, die Türkei eben erwähnt. Da materialisieren sich im Augenblick auch ganz stark die Konflikte um diesen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Wie haben Sie diesen Zerfall auch erlebt?
Jaeger: Es gibt so etwas wie Europa im Recht. Das kann man feststellen bei all denen, die eine herkömmliche oder auch eine mit Auslandsbezug Erziehung hatten. Es fallen dieselben lateinischen Ausdrücke für bestimmte Sachen, egal aus welchem Land jemand kommt, auch wenn man aus Russland kommt.
Detjen: Das ist dann noch wenig an inhaltlicher Übereinstimmung.
Jaeger: Aber das zeigt, dass es dieses Basis gegeben hat, dass die auch so erzogen worden sind, dass die das kennen. Das fand ich eine positive und schöne Überraschung, aber die Prägung durch nationale Rechtsordnungen, die Prägung durch lange Jahre unter diktatorischen Regimen – wo sollten denn die Juristen herkommen, die nach 1998 an den ständigen Gerichtshof wechselten? Bis dahin war das ja kein ständig eingerichteter Gerichtshof. Sie kamen natürlich aus anderen, ganz anderen Zusammenhängen. Das macht die Arbeit sehr, sehr schwierig, sehr schwierig. Das fällt weit auseinander. Das fällt sogar auseinander innerhalb des engeren Europas bei etlichen Sachen. Das kann man feststellen.
Das finde ich eine große Herausforderung, und ich fand es sehr anregend, denn ich habe gelernt, dass wir nicht in Deutschland immer die besten Antworten auf alles haben, dass es nicht selbstverständlich ist, so wie wir mit Menschenrechten umgehen, einschließlich zum Beispiel mit Wahlrecht und so, es muss so sein wie bei uns, ich war da so daran gewöhnt, ich fand das auch gut. Man kann es auch anders machen, und es kann auch anders gut sein, und es kann anders auf andere Kulturen sich auswirken.
Das zu sehen und zu lernen und Vielfalt zuzulassen, ohne darüber den Kern des menschenrechtlichen Schutzes zu vernachlässigen, dasselbe Ziel im Auge zu behalten, aber zu sehen, dass nicht alle Wege nach Rom führen, sondern dass es sehr viele Wege gibt, die nach Rom führen können – das ist die große Bereicherung dieser Zeit.
Die Zukunft Europas
Detjen: Da hat es ja auch Fälle gegeben, wo der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dann ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts kritisiert hat, auch das hat zu Spannungen geführt. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat dem EGMR Übergriffigkeit vorgeworfen, Sozialrecht der Persönlichkeitsrechte war da Themen, um die es damals gegangen ist. Saßen Sie dann eigentlich zwischen den Stühlen in solchen Auseinandersetzungen?
Jaeger: Ich war wie damals bei "Soldaten sind Mörder" wieder mal der Auslöser für Konflikte, die sich ja aber dann auf das Wunderschönste gelegt haben, weil ich dieser Rechtsprechung auch innerhalb von Deutschland ein Gesicht verliehen habe. Ich bin überall hin und habe das erläutert, verteidigt und habe gesagt: Dazu stehen wir. Das ist hier unsere europäische Rechtsprechung. Und nicht immer ist alles bestens, was wir in Deutschland gemacht haben. Ich habe es gelernt, ihr werdet es lernen, und wir werden lernen, miteinander ins Gespräch zu kommen, was die Deutschen auf europäischer Ebene sehr lange versäumt haben – ganz anders als die Franzosen, auch ganz anders als die Briten, was natürlich für die leichter ist, weil sie Muttersprachler sind, aber dass wir geglaubt haben, unsere Ideen, unsere Dogmatik in der Erklärung könnte in Europa einfach so gehört werden und würde abgenickt, das war in gewisser Weise auch eine Hybris.
Detjen: Aber gerade die Briten haben sich ja schwer damit getan. Also ich meine, im Grunde die Theresa May hat als britische Innenministerin den Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorbereitet.
Jaeger: Aber das liegt nicht an dem Wahlrecht für Gefangene, worüber sie sich alle so aufgeregt haben. Das liegt ja doch daran, dass …
Detjen: Dass sie sich nicht vom Kontinent bestimmen lassen wollten.
Jaeger: Dass der Kontinent so fern ist, aber es hat gar nicht so viele Entscheidungen gegen England gegeben, die so aufregend waren. Die meisten Fälle sind ja auch da bestätigt worden. In Wirklichkeit ist es das allgemeine Unbehagen, jetzt viel zu nah an dem Kontinent zu sein, und zwar sowohl über die EU wie über die Menschenrechtskonvention. Es ist nicht wirklich der Ärger. Der Ärger wird vorgeschoben, so wie wir in Deutschland sagen, wenn irgendwas bei der Gesetzgebung einem nicht passt, ja, die EU hat das veranlasst, selbst wenn Deutschland der Anreger war für genau diese EU-Verordnung.
Detjen: Da äußert sich in solchen Momenten –
Jaeger: Schuld abladen.
Detjen: – der Vertrauensverlust, dem Europa auch ausgesetzt ist.
Jaeger: Nein, das ist der …
"Wir haben diese Stimmung geschürt für die EU"
Detjen: Das ist ein Einfallstor für Misstrauenserklärungen, für politische Bewegungen, die sagen, traut diesem Europa nicht, wir machen es besser national. Die Frage ist, ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch in der Situation, in der er jetzt ist, herausgefordert durch Putin, durch Russland, durch die Türkei? Da gibt es Schwierigkeiten, Richter zu wählen jetzt. Da gibt es keine Einigkeit für Richter aus diesen Ländern. Ist dieses Gericht noch eine Institution, wo Sie sagen würden, da kann man Europa vertrauen?
Jaeger: Ja. Ich sehe den Ansatz nicht darin, dass jetzt gegen Europa gehetzt wird. Ich sehe ihn darin, dass unsere demokratischen Organe immer die Schuld bei Europa gesucht haben und alles Gute kam national. Das ist auch bei uns so kommuniziert worden. Über Jahrzehnte ist nie gesagt worden, was uns guttut über Europa. Der Brexit hat das ausgelöst, dass auf einmal darüber nachgedacht wird, was verdanken wir denn Europa? Jahrelang war Europa der Sündenknabe, wenn die Politik bei irgendwas angegriffen wurde. Das heißt, wir haben diese Stimmung geschürt für die EU.
Für den Menschenrechtsgerichtshof war das ja eine sehr junge Entwicklung, und da gab es natürlich auch Überschießendes. Da gibt es Menschen, die als Völkerrechtler gerne möchten, dass UN-Konventionen unmittelbar bindendes Recht sind und dann einfließen über die Menschenrechtsrechtsprechung. Da gibt es Aktivisten. Ein solcher Gerichtshof muss sich finden in der richterlichen Zurückhaltung, die geboten ist, wenn man so viele Kulturen zusammenbringen will. Dass es da überschießende Entscheidungen gibt, daran kann man nicht zweifeln, aber sie sind nicht das Charakteristikum. Der Gerichtshof ist immer noch für diejenigen, die kein Verfassungsgericht zu Hause haben und sich nicht auf die heimische Justiz verlassen können, der Anker welcher, worüber man Recht kriegen kann.
Detjen: Wir haben, Frau Jaeger, am Anfang des Gesprächs über das Grundgesetz gesprochen, über das 70. Verfassungsjubiläum in Deutschland in diesem Monat, und wir werden dann fast zeitgleich zwei Tage jedenfalls nach dem Grundgesetzjubiläum eine Europawahl haben, einen Europawahlkampf, der jetzt anhebt, wenn wir das Gespräch senden, schon in vollem Gange ist wahrscheinlich. Wenn Sie auf diese Wahl, auf diese Entwicklung in Europa schauen, glauben Sie, dass diese Entwicklung des Ausbaus einer europäischen Verfassungsordnung, des Fortschritts, dass das noch weitergehen wird, oder steuern wir auf eine Phase zu, wo es im besten Fall darum gehen wird, das abzusichern, was auch in den Jahrzehnten Ihrer Berufstätigkeit erreicht worden ist?
Jaeger: Ich bin der Meinung, dass es um das Absichern geht im Moment und dass es darum geht, bessere Verfahren zu finden, um das, was erreicht ist, auch wirklich transparent und plausibel zu machen für die Bevölkerung, und dass völlig jenseits der Wahl es der Anstrengung aller Politik und aller gesellschaftlichen Kräfte, auch der Medien bedarf, immer wieder hervorzuheben, dass Europa nicht nur ein großes Friedensprojekt ist, sondern natürlich auch ein wirtschaftliches Unternehmen, das bisher uns allen sehr, sehr viele Vorteile gebracht hat.
Detjen: Frau Jaeger, vielen Dank für das Gespräch!
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