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"Richtung Europa, das ist die Fluchtroute"

Noch stürmt es heftig vor der Küste der Mittelmeerinsel Lampedusa. Wenn in ein paar Tagen das Wetter besser wird, könnten viele Tausend Tunesier und Libyer mit Fischerbooten in Richtung der italienischen Küste aufbrechen.

Karl Hoffmann im Gespräch mit Peter Kapern |
    Peter Kapern: Wenn sich heute die Innenminister der EU-Staaten in Brüssel treffen, dann dürfte dicke Luft im Sitzungssaal herrschen. Es geht um die Flüchtlinge, die aus den nordafrikanischen Revolutionsstaaten nach Europa kommen. Mehr als 5000 landeten in der letzten Woche aus Tunesien kommend auf der kleinen italienischen Insel Lampedusa. Der Bürgermeister rief daraufhin den humanitären Notstand aus. 4000 dieser Flüchtlinge sind mittlerweile aufs italienische Festland gebracht worden und die italienische Regierung fordert seither die Partnerländer der EU zur Lastenteilung auf, also zur Aufnahme von Flüchtlingen. Die nördlichen EU-Staaten wollen davon aber nichts wissen, und das trotz aller Befürchtungen, die eigentliche Flüchtlingswelle stehe noch bevor. – Karl Hoffmann auf Lampedusa, in welcher Gemütsverfassung schauen die Einwohner der Insel derzeit über das Meer Richtung Libyen?

    Karl Hoffmann: Nun, man muss sagen, dass es im Augenblick noch ruhig ist, aber unter dieser offensichtlichen Ruhe schwelt natürlich eine ganze Menge Angst, dass Lampedusa, dieser Vorposten Europas, muss man ja sagen, irgendwann einmal überrollt werden könnte von den Ereignissen. Im Augenblick sehe ich hier vor mir auf dieser kleinen Insel – ich stehe am Hafen – und hier sehe ich ein merkwürdiges Szenario.

    Auf der linken Seite gibt es eine ganze Anzahl von Fischerbooten, die hier Zuflucht gesucht haben, denn es herrscht ein ganz fürchterlicher Sturm seit gestern hier um die Insel und in diesem Bereich des Mittelmeers, und auf der rechten Seite eine ganze Menge Fischerboote aus Tunesien. Das sind diejenigen, die die Immigranten hierher gebracht haben. Also sozusagen eine Nationenteilung, die darstellt, wie es im Augenblick aussieht. Einerseits warten die Lampedusaner, was da kommen wird, andererseits weiß man genau, dass die wenigen Fischerboote, die hier sind aus Tunesien, sehr, sehr viel mehr werden können.

    Kapern: Ist denn in dem Hafen, den Sie da gerade sehen, auch noch Platz für Fischerboote aus Libyen, denn in diese Richtung gehen ja gerade die sorgenvollen Blicke in diesen Tagen?

    Hoffmann: Für die wäre sicherlich irgendwann mal kein Platz mehr. Tatsache ist, dass Lampedusa vielleicht mal fertig wird mit ein paar Booten, aber schon die 4000, die vor ein paar Wochen, vor zwei Wochen angekommen sind, haben natürlich zu ernsthaften Problemen hier geführt. Es sind immer noch 1000 Tunesier hier, die nicht weggebracht werden konnten, auch wegen des schlechten Wetters gestern, und die auf der Insel frei herumlaufen, auch deshalb, weil man verhindern will, dass sie im Lager, im Auffanglager am Ende eine Revolte anstecken, weil sie sich natürlich etwas anderes vorgestellt haben.

    Sie kamen hierher und haben gedacht, hier beginnt die Freiheit, sie würden gleich weggebracht werden. Aber Italien war nicht darauf vorbereitet und noch weniger Europa auf das, was hier passiert, und es hat den Anschein, als wäre man auch nicht vorbereitet auf das, was Sie ja schon gesagt haben, nämlich dass der Ansturm eigentlich jetzt erst beginnt. Die Sorge und die Not der Lampedusaner, die sollte eigentlich jetzt inzwischen die aller Italiener und der meisten Europäer werden.

    Kapern: Mit wie vielen Flüchtlingen aus Libyen rechnen denn die Menschen in Italien?

    Hoffmann: Es gab eine Schätzung von Experten, die auch von Politikern geteilt wurde, dass möglicherweise bis zu 200.000 oder 300.000 Menschen aus Libyen jetzt versuchen könnten zu fliehen. Das muss nicht sein, dass sie alle nach Lampedusa kommen. Aber die italienische Südseite hat ja noch andere Küstenabschnitte, in Kalabrien, in Sizilien, auch wenn das sehr viel weiter weg liegt, aber die Richtung stimmt. Nach Norden, Richtung Europa, das ist die Fluchtroute.

    Man weiß auch, dass inzwischen aus Libyen mehrere Tausend Menschen nach Tunesien geflohen sind, und die würden es selbstverständlich auch versuchen, von Tunesien aus weiterzukommen Richtung Europa. Also die Fluchtrouten sind klar, man weiß noch nicht, wann sich diese Menschen in Bewegung setzen, mit welchen Mitteln sie hier ankommen, mit welchen Verkehrsmitteln, mit welchen Booten, aber dass das irgendwann jetzt passieren wird, das ist ziemlich klar. Man wartet darauf, dass der Wind sich legt, dass der Sturm aufhört, was in ein, zwei Tagen der Fall sein wird, und dann werden wir hier stehen und schauen, was passiert.

    Kapern: Was tut Silvio Berlusconi bis dahin? Ist er überhaupt handlungsfähig? Er ist ja selbst in schwerem Wasser.

    Hoffmann: Berlusconi ist sozusagen in doppelter Hinsicht in Schwierigkeiten. Einerseits hat er ja innenpolitisch eine ganze Menge Probleme. Andererseits ist er natürlich auch derjenige, der am meisten kompromittiert ist durch seine Männerfreundschaft mit dem Diktator, der sich jetzt als ein blutiger Diktator erweist, wie man es sich nicht hat vorstellen können. Es ist ja die Rede von 10.000 Toten, die es schon gegeben hat in Libyen.

    Berlusconi hat gestern nur etwas lakonisch erklärt, ja, man müsse jetzt natürlich schauen, was passiert, wenn diese Regime alle nicht mehr existieren. Er hat nicht eindeutig Gaddafi erwähnt, seinen Freund. Er hat ja vor ein paar Tagen mal gesagt, er wolle ihn nicht anrufen, weil er ihn nicht stören wollte. Er hat ihn dann wohl doch angerufen und ihn gebeten, mit den Feindseligkeiten gegenüber den Demonstranten aufzuhören. Aber das alles wird natürlich ausgelegt als eine Peinlichkeit hier in Italien. Man hat ja noch sehr gut im Gedächtnis all die Bilder mit Gaddafi, wo er ihn als seinen besten Freund bezeichnet, und das wird ihm wohl noch eine ganze Weile nachhängen.

    Kapern: Karl Hoffmann! Danke nach Lampedusa.