Dirk Müller: Die Bundesverfassungsrichter sollen also klären, ob Sanktionen, Geldkürzungen gegenüber Beziehern rechtens sind, wenn diese nicht kooperieren, wenn diese eine angebotene Arbeit beispielsweise ablehnen. Eindeutig gegen diese Sanktionen und gegen Hartz IV im Ganzen sind die Linken, so auch Parteichef Bernd Riexinger, der nun bei uns am Telefon ist. Guten Morgen!
Bernd Riexinger: Guten Morgen.
Müller: Herr Riexinger, was haben Sie gegen Fordern?
Riexinger: Wir haben was dagegen, dass man das Existenzminimum noch unterbieten kann. Die Hartz-IV-Sätze sind sowieso viel zu niedrig mit 424 Euro im Monat. Auch die Sozialverbände sagen, dass sie zu niedrig sind. Um ein halbwegs vernünftiges Leben führen zu können, braucht man deutlich über 500 Euro. Das sagen nicht nur wir, sondern auch viele Experten. Das Bundesverfassungsgericht muss entscheiden, kann man das Existenzminimum, das der Staat mit dem Regelsatz festlegt, nach unserer Ansicht viel zu niedrig festlegt, kann man das noch unterschreiten? Können Bestrafungen so aussehen, dass Menschen in einem Sozialstaat unter das Existenzminimum gedrängt werden? Das verneinen wir, lehnen wir ab und hoffentlich das Bundesverfassungsgericht auch.
Müller: Und Sie meinen, man kann von Hartz-IV-Empfängern, die beispielsweise Termine versäumen, die Arbeiten ablehnen, die angeboten werden, dann auch nichts verlangen?
Riexinger: Es funktioniert so nicht. Das hat man ja gesehen, dass wir ganze Generationen von Menschen haben, die im Hartz-IV-Bezug bleiben. Das System quasi der Bestrafung hat nicht funktioniert. Es passiert sogar das Gegenteil. Wenn man die Menschen drangsaliert, wenn sie Termine versäumen oder ähnliche Dinge, brechen sie irgendwann den Kontakt mit dem Jobcenter ab.
Müller: Aber ist das Drangsalieren, wenn jemand nicht zum Termin kommt, um die Kriterien zu überprüfen? Was ist daran nicht zumutbar?
Riexinger: Man muss es ja so sehen, dass das oft Menschen sind, die jahrelang erwerbslos sind, die oft langzeiterwerbslos sind, oft dann auch physisch oder psychisch angeschlagen sind. Und denen hilft man nicht dadurch, indem man sie bestraft, sondern denen hilft man, indem man eine Brücke baut zum Arbeitsmarkt, indem der Staat, insbesondere die öffentliche Hand, Arbeitsplätze anbieten, die sie wieder in ordentliche Arbeit bringen können.
"Nachweislich haben die Sanktionen die Menschen nicht weitergebracht"
Müller: Passiert das denn nicht, Herr Riexinger? Ist das nicht die Aufgabe der Bundesagentur, genau diese Arbeiten, Ausbildungen, Fördermaßnahmen anzubieten? Genau das passiert doch.
Riexinger: Das passiert nachweislich zu wenig. Ich weiß nicht, ob Sie schon mit vielen Erwerbslosen zu tun hatten. Ich hatte in meiner Zeit, als ich noch Gewerkschafter war, die Erwerbslosen bei uns in Stuttgart betreut. Wenn Sie vier, fünf, sechs Jahre erwerbslos sind, wenn Sie hunderte von Bewerbungen geschrieben haben, wenn Sie viele Niederlagen erlitten haben, das kann jemand, der immer in Arbeit ist, fast gar nicht nachvollziehen. Dann kriegen Sie große Probleme, ihr Leben zu organisieren, und da hilft man den Menschen nicht, indem man sie drangsaliert und sie unter das Existenzminimum bringt. Nachweislich haben die Sanktionen die Menschen nicht weitergebracht. Im Gegenteil! Man drängt sie oft sogar dann ab, den Kontakt abzubrechen, in die Schwarzarbeit zu gehen, und so stehen sie dem regulären Arbeitsmarkt erst recht nicht zur Verfügung. Das kann man auch nachweisen.
Müller: Das ist ja sehr umstritten. Sie sagen, nachweislich; bestreiten andere, Detlef Scheele beispielsweise, der Nürnberger Chef der Bundesagentur, sagt ja eindeutig, auch die Sanktionen haben dazu beigetragen, dass Hartz IV funktioniert. Ich hatte eine Zahl genannt, dass zwei Millionen Bezieher von Hartz IV in den vergangenen Jahren aus Hartz IV wieder rausgekommen sind, das heißt in den Job gekommen sind. Wieso reden Sie dann davon, dass das Ganze nicht funktioniert?
Riexinger: Na ja. Der größte Teil der Hartz-IV-Bezieher sind die sogenannten Aufstocker. Das sind ja auch Menschen, die durchaus zur Arbeit gehen und von ihrer Arbeit nicht leben können, weil praktisch der Lohn zu niedrig ist. Hartz IV ist zugleich auch eine Lohnzusatzleistung. Auch das lehnen wir ab und sagen, es müssen vernünftige Löhne bezahlt werden, weil der Nebeneffekt von Hartz IV war ja nicht nur, dass die Erwerbslosen drangsaliert werden und dass sie sich mehr oder weniger nackt ausziehen müssen, sondern hat ja auch einen unendlich großen Druck gehabt auf die Menschen, die beschäftigt sind, weil die Philosophie war, dass man jede Arbeit annehmen muss, sei sie noch so niedrig bezahlt und sei sie noch so schlecht. Diese Philosophie lehnen wir ab. Die ist unwürdig für einen Sozialstaat.
"Diese Philosophie ist unwürdig für einen Sozialstaat"
Müller: Arbeit muss zumutbar sein, sagen Sie. Haben Sie auch die Kriterien dann dafür, wonach das in der Praxis funktionieren kann? Was ist zumutbar? Wie groß darf die Diskrepanz sein?
Riexinger: Früher hatten wir zum Beispiel einen Qualifikationsschutz. Jemand, der Ingenieur war oder qualifizierter Facharbeiter, musste nicht einfach nur Straßen kehren. Jetzt habe ich nichts gegen Straßen kehren, aber ich glaube, die Menschen, die einen Beruf erlernt haben, die oft 10, 20, 30 Jahre in ihrem Beruf waren, die oft nichts dafür konnten oder meistens nichts dafür können, dass sie ihre Arbeit verlieren, die dürfen nicht auch noch bestraft werden, indem man ihnen zumutet, eine Arbeit anzunehmen, die aber auch gar nichts mit ihrer Qualifikation zu tun hat. Wir haben jetzt den gesetzlichen Mindestlohn, der einen bestimmten unteren Schutz einführt, aber wir wissen, wie oft er umgangen wird, und wir wissen, dass er nach wie vor zu niedrig ist.
Müller: Ingenieur als Straßenkehrer für Sie unzumutbar? Das heißt, der Ingenieur wird dann dementsprechend, obwohl er arbeiten könnte, vom Staat weiter finanziert? Ihm wird geholfen, wie auch immer definiert, weil er keinen adäquaten Job findet?
Riexinger: Na ja, der Staat, der muss eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik machen. Wir diskutieren gleichzeitig über Facharbeitermangel. Aber in der Tat, es ist ja gar nicht so, dass die Langzeiterwerbslosen überwiegend unqualifiziert sind. Die meisten haben einen Beruf erlernt, haben eine qualifizierte Tätigkeit gemacht, und es ist durchaus Bestandteil einer guten Arbeitsmarktpolitik, den Leuten Arbeit zu vermitteln, von der sie leben können und die auch was mit ihrer Qualifikation zu tun hat. Alles andere ist doch Vergeudung.
Müller: Herr Riexinger, wenn ich Sie da noch mal unterbrechen darf? Sie suchen doch händeringend. Warum sollten sie qualifizierte Arbeitnehmer, auch wenn sie arbeitslos waren im Vorfeld, denn ablehnen, wenn es dafür keine Gründe gibt?
Riexinger: Sie suchen nicht unbedingt einen 50jährigen Erwerbslosen, der schon vier oder fünf Jahre erwerbslos ist und wo man gewisse Mühe auch hat, sie wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Sonst wären die Menschen ja nicht langzeitarbeitslos. Die Menschen, die erwerbslos sind, wollen sich ja in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht auf die faule Haut legen, sondern die wollen ja wieder Arbeit haben. Wie gesagt, oft ist dieser Weg der Langzeiterwerbslosigkeit – um die reden wir, um die Menschen, die im Übrigen auch dazuverdienen müssen – auch mit vielen Niederlagen, mit vielen psychischen Schädigungen versehen, und da kann man nicht praktisch mit der Prügelstrafe drohen und sagen, Du wirst unter das Existenzminimum gedrängt.
"Da braucht man spezielle arbeitsmarktpolitische Programme"
Müller: Herr Riexinger! Ich muss Ihnen noch kurz eine Frage stellen. Wir reden über drei Prozent der Hartz-IV-Bezieher.
Riexinger: Ja, es sind 930.000 Sanktionen, also nicht gerade wenig.
Müller: …, die gestiegen sind. Die Meldeversäumnisse sind auch gestiegen in den vergangenen Jahren. Deswegen sind die Sanktionen auch gestiegen.
Riexinger: Ja, weil natürlich in der Zeit, wo doch der Arbeitsmarkt ganz gut ist und viele auch wieder reingekommen sind – Sie haben es ja gesagt -, natürlich viele Menschen, die jetzt Hartz IV bekommen und erwerbslos sind, also nicht die, die aufstocken, das sind natürlich jetzt wirklich Langzeiterwerbslose. Ich glaube, da braucht man spezielle arbeitsmarktpolitische Programme und da braucht man auch viel Mühe, die Menschen wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren. Das ist natürlich eine wichtige Aufgabe. Die wird unzureichend erfüllt. Solange sie aber nicht gelingt, darf man aber die Menschen nicht in so einer reichen Gesellschaft, wie wir sie sind, unter 424 Euro drücken.
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