Sandra Schulz: Ab der kommenden Woche sind die britischen Abgeordneten wieder dazu gezwungen, ihre Parlamentsarbeit ruhen zu lassen. Ab da greift die von Regierungschef Boris Johnson ausgerufene Suspendierung. Damit stehen vor allem die Gegner eines ungeordneten Brexits unter großem Zeitdruck und darum rechnen alle Beobachter heute mit einem heftigen Kräftemessen, wenn am Nachmittag das Parlament zusammenkommt.
Mitgehört hat Felix Dane. Er leitet in London das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung und ist jetzt am Telefon. Schönen guten Tag!
Felix Dane: Schönen guten Tag, Frau Schulz.
Schulz: Was haben die Gegner eines No-Deal-Brexit Boris Johnson jetzt noch entgegenzusetzen?
Dane: Die Gegner eines No-Deal-Brexit werden versuchen, ihn heute über einen parlamentarischen Text dazu zu bewegen, diesen Artikel-50-Zeitraum zu verlängern und praktisch eine weitere Verlängerung in den Brexit-Verhandlungen herauszuschlagen, um Zeit zu gewinnen, um dann praktisch den No Deal zu verhindern. Das ist der Versuch heute, hinter dem die Opposition und Teile der eigenen Partei, der Konservativen stehen. Und das wird der Versuch sein, wobei nicht ganz klar ist, wie das ausgehen wird. Das Ergebnis wird aus meiner Sicht sehr knapp werden.
Neuwahlen könnten Johnson nützen
Schulz: Halten Sie es denn für möglich, dass dieses Gesetzesvorhaben durchkommt, trotz der ja ganz massiven Drohkulisse, die Boris Johnson jetzt aufbaut gegenüber Abweichlern aus eigenen Reihen?
Dane: Ja, ich halte das durchaus für möglich. Es wird durchaus einige geben aus seiner eigenen Partei, die da abweichen werden. Es wird aber genauso aus der Labour-Partei einige geben, die mit der Regierung stimmen werden, weil sie einfach sagen, wir wollen auch raus. Sie haben alle Leave-Wahlkreise. Gerade die Labour-Abgeordneten aus den Midlands stehen da unter enormem Druck, jetzt nicht immer weiter zu verlängern, sondern doch bitte endlich diese EU zu verlassen. Deswegen ist die Gemengelage sehr, sehr knapp. Die Entscheidungen in den letzten Monaten im House of Commons waren ja immer sehr, sehr knapp mit gerade mal ein paar Stimmen dafür oder dagegen, die das dann entschieden haben, und so wird es aus meiner Sicht auch heute ausgehen.
Die Frage ist dann, wie der nächste Schritt ist. Der nächste Schritt wird natürlich dann sein, dass es auch noch durch das Haus of Lords muss. Da kann man dann auch wieder sehr viel Störfeuer reinhauen über Änderungsanträge, Zeit und so weiter, die dann auch gebraucht wird. Man wird trotzdem mit Hochdruck versuchen, das dann durchzubringen. Boris Johnson hat aber angekündigt, dann darauf zu kontern, wenn das heute durchkommt, indem er morgen praktisch Neuwahlen dem Parlament vorschlägt. Und bei solchen Neuwahlen sieht er nach den letzten Umfragen auch als ein klarer Gewinner aus.
Schulz: Für wen wären diese Neuwahlen am gefährlichsten? Für die Labour Party, von der wir gerade schon gehört haben, dass Tony Blair vor einer Elefantenfalle warnt?
Dane: Ja, ich glaube, ehrlich gesagt, schon. Die letzte Sonntagsfrage war so: Wenn die Brexit Party gar nicht antreten würde und somit Boris Johnson indirekt stützen würde, würden die Tories eine Mehrheit von 84 Sitzen im Parlament haben. Das heißt, sie könnten dann sehr bequem regieren, auch ohne die DUP und so weiter. Das heißt, für Johnson ist das gar nicht so ungeschickt, eine Wahl zu haben. Er hat immer gesagt, er will sie nicht. Ich bin bei ihm aber immer nicht so ganz sicher, was da Rhetorik ist und ob er nicht vielleicht ein großes Spiel spielt, indem er auch in den letzten Tagen diese Parlamentssuspendierung und gestern noch mal diese Rhetorik, auf jeden Fall am 31.10. auszutreten und so weiter, nicht extra provoziert, um praktisch das Parlament dahin zu bringen, doch bitte endlich hier praktisch ihn dazu zu zwingen, Neuwahlen auszurufen. Dann war es nicht seine Schuld, sondern dann die Schuld des Parlaments. Und das könnte durchaus eine Strategie sein, die aufgehen könnte.
"Die Stimmung ist schon sehr geladen und gereizt im Land"
Schulz: Wobei, wenn Sie sagen, dass Boris Johnson jetzt durchaus guten Mutes in Neuwahlen gehen könnte, heißt das im Umkehrschluss ja auch, dass er diese Brexit Party, die Partei von Nigel Farage, die unheimlich erfolgreich aus den Europawahlen hervorgegangen ist, dass er die dann jetzt schon mal ziemlich erfolgreich ausgekontert hätte.
Dane: Das ist richtig. Die hat er enorm erfolgreich ausgekontert. Die stehen heute bei 14 Prozent in britischen Wahlen, wobei man sagen muss, dass EU-Wahlen natürlich nie gleichzusetzen sind mit nationalen Wahlen, erst recht nicht in Großbritannien. Das war eine reine Protestwahl, um noch mal zu zeigen, in welche Richtung das Volk sich eigentlich den Ausgang des Brexit wünscht. Ich glaube, da müssen wir auch vorsichtig sein, wenn wir in Europa oft sehr hoffen, dass dieser ganze Brexit gar nicht stattfindet, dass wir da nicht in ein Wunschdenken verfallen, denn viele Teile der Bevölkerung wollen nach wie vor raus aus der EU. Das darf man nicht unterschätzen. Ein Referendum würde heute ähnlich ausgehen, vielleicht dafür, vielleicht dagegen, aber die Mehrheiten sind da sehr knapp. Da hat sich viel in beide Richtungen verschoben, aber grundsätzlich ist es nach wie vor mehr oder minder 50:50.
Schulz: Aber wir wissen, dass es im Parlament ja diese Mehrheit und auch Abstimmungen gegeben hat, die sich ganz klar gegen einen No-Deal-Brexit ausgesprochen haben. Ist es da taktisch jetzt überhaupt klug, dass sich das Parlament auf diese Verlängerung kapriziert, auf dieses Gesetzesvorhaben, das auf eine Verlängerung abzielt? Müsste man die Frage da nicht noch mal viel offener stellen und fragen, wollt ihr den No-Deal-Brexit oder nicht?
Dane: Das ist richtig. Das wird viel diskutiert, inwieweit man die ganze Frage nicht auch zurück an das Volk gibt. Man wusste zu Zeiten des Referendums nicht wirklich, was ein Brexit oder ein No-Deal-Brexit bedeuten würde. Es war einfach gar nicht klar, um was man abgestimmt hat, außer, dass man eben raus will aus der EU. Die Frage ist, inwieweit man das machen möchte. Das Volk ist aber sehr zerrissen und insofern ist die Frage, ob so ein Referendum da wirklich hilfreich wäre. Die Interessenslinien verlaufen ja heutzutage gar nicht mehr so sehr entlang von Parteilinien, sondern viel stärker an dieser Brexit-Frage, für oder gegen einen Brexit, und da sind schon viele Freundschaften dran zerbrochen in der letzten Zeit.
Die Stimmung ist schon sehr geladen und gereizt im Land. Das muss man wirklich sagen. Das Parlament spielt da eine Sonderrolle, was natürlich in politische Prozesse viel besser involviert und informiert ist und deswegen vielleicht auch nicht ganz die Bevölkerung wiederspiegelt, was diese Diskussionsstände anbelangt. Und so kommt dieser Unterschied auch zustande, dass einige in der Bevölkerung anders denken als dieses Parlament, was den No Deal auf jeden Fall verhindern will.
Unterschiedliche Verhandlungsmentalität bei Großbritannien und EU
Schulz: Sie haben gerade noch mal gesagt, dass es oft mehr oder weniger europäisches Wunschdenken ist, dass die Briten das doch gar nicht so ernst meinen mit dem Brexit, und dass viele Europäer immer nicht sehen, dass es den Briten dann aber doch mehrheitlich oder zumindest in einer sehr starken Gruppe, 50 Prozent, sehr ernst ist. Umgekehrt sehen wir ja in Großbritannien immer wieder diesen Glauben, dass die EU, wenn man da jetzt harsch genug auftritt, schon noch mal nachverhandeln wird. Können Sie uns das erklären?
Dane: Ja. Bei Großbritannien ist es einfach eine völlig andere Art und Weise, wie man an Verhandlungen herangeht. Wir erinnern uns alle an das Bild, das erste, als Barnier auf David Davis, den damaligen Chefunterhändler der Briten traf, und es war ganz eindeutig: Barnier hatte da ja riesige Gesetzestexte vor sich liegen und David Davis hatte gar nichts. Wir haben darüber sehr gelächelt und uns gewundert. Aber es ist einfach auch die britische Mentalität. In Verhandlungen geht man erst mal rein, man unterhält sich, man beschnuppert sich, man testet sich gegenseitig an, und dann guckt man, wie man in diesen Verhandlungen weitermacht. Für uns ist es eine sehr starr formaljuristische Angelegenheit, bestimmte Gesetzestexte durchzudeklinieren.
Und da, glaube ich, sehe ich den großen Unterschied, weshalb Großbritannien nach wie vor hofft, wenn genügend Verhandlungsdruck da ist, vielleicht die EU dann doch das eine oder andere Zugeständnis noch machen würde. Boris Johnson selbst ist ja einer, der auch viel lieber mit einem Deal aus der EU austreten will als ohne Deal. Er proklamiert das zwar immer, aber er macht das aus wahltaktischen Gründen und er macht es auch aus verhandlungstaktischen Gründen, weil nach seiner britischen mentalen Auffassung es so ist: Je größer der Druck ist, desto mehr wird auch auf der Gegenseite Verhandlungsspielraum plötzlich dargelegt. Ich glaube, das ist ein bisschen dieser mentale Unterschied, mit dem da Großbritannien und die EU aufeinandertreffen.
Viele Briten wollen einfach nur noch ein Ende
Schulz: Würden Sie denn sagen, dass es der EU da an Klarheit gemangelt hat? Wir haben ja immer wieder die Ansage gehört, wir verhandeln nicht nach. Jetzt in diesem Moment, da wir sprechen, erreicht uns auch noch mal die Eilmeldung aus Brüssel, wonach die EU-Kommission davon ausgeht, dass es den Austritt am 31. Oktober geben wird. War das nicht klar genug?
Dane: Ich glaube, die Ansage aus Brüssel hätte nicht klarer sein können. Sie wurde auch aus allen Hauptstädten immer wiederholt. Ich glaube, da gibt es überhaupt keinen Zweifel daran, dass es Brüssel ernst gemeint ist. Aber in London wird es zum Teil doch auch anders verstanden. Genauso wie Boris Johnson jetzt, wie man hier so sagt, Hardball spielen will oder soll, tut das sehr wahrscheinlich auch nur Brüssel. Das heißt, die Lesart ist da einfach eine andere. Ich glaube schon, dass vielen Briten auch klar ist, dass es dann zum No Deal kommt. Es ist aber auch eine gewisse Ermüdung zu beobachten. Viele Bürger wollen einfach nur noch ein Ende haben und nicht mehr dieses ewige noch mal verlängern und noch mal verlängern und nicht zu wissen, wo die Reise denn hingeht. Da haben viele auch einfach schon aufgegeben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.