Mario Dobovisek: Weiter wirbt Großbritanniens Premierminister Boris Johnson für seinen Brexit-Weg, den harten Brexit in gut einem Monat, sollte es keinen neuen Deal mit der EU geben, und danach sieht es im Moment wahrlich nicht aus. Auch ein Treffen mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gestern gab keinen Durchbruch. Vielmehr betonte dieser, es sei weiter an London, jetzt konkrete Vorschläge zu machen. So will man zwar weiter miteinander sprechen, ohne dass jedoch erkennbar etwas dabei herum käme.
Ungemach für Johnson droht auch aus London selbst, denn das oberste Gericht, der oberste Gerichtshof verhandelt die Zwangspause, die Johnson dem Parlament verordnet hatte. Über all das möchte ich sprechen mit Christos Katsioulis. In London leitet er das Büro der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Guten Morgen, Herr Katsioulis!
Christos Katsioulis: Guten Morgen.
Dobovisek: Spätestens mit der Zwangspause für die Unterhaus-Abgeordneten ging eine Welle der Empörung durchs Land der sonst so zurückhaltenden Briten. Wie nehmen Sie die Stimmung wahr?
Katsioulis: Die Welle der Empörung ist keine landesweite Welle. Wir haben es hier mit einer Protestwelle zu tun, die von einigen, gerade besser gebildeten Schichten getragen wird. Das war vor allem in Städten bemerkbar. Aber es ist nichts, was die gesamte Bevölkerung ergreift. Hier herrscht viel eher eine Art Müdigkeit. Dieser "never ending Brexit", das soll jetzt einfach nur noch aufhören. Das was in Westminster passiert, im Parlament und darum herum in den Redaktionsstuben, ist da gar nicht so wichtig, wie wir das vielleicht von außen wahrnehmen.
Johnson setzt auf Macher-Mentalität
Dobovisek: Was heißt das für Boris Johnson?
Katsioulis: Für Boris Johnson heißt das, die Taktik, die er im Moment fährt, den Menschen klarzumachen: Ich schaffe das, ich regele das, ich kriege euch raus aus der EU. Ich mache den Brexit und dann ist es vorbei. - Diese Illusion zu erzeugen, dass sobald wir ausgetreten sind, dann ist das ganze Theater, was ihr hier seit drei Jahren oder seit dreieinhalb Jahren, seit dem Referendum erlebt, endlich vorbei und wir können uns den wirklichen Problemen widmen, diese Attitüde greift und wir sehen, dass die Zustimmung zu ihm in den Umfragen steigt.
Dobovisek: Anders sieht das bei den Abgeordneten selber aus. Sie haben auch immer wieder Kontakt zu Abgeordneten. Wie reagieren die?
Katsioulis: Für die Abgeordneten ist es eine wahnsinnig schwierige Situation, weil Boris Johnson sich im Moment ja als jemand geriert, der für das Volk agiert und gegen das Parlament, gegen das Establishment. Großbritannien hat ja eine ganz offene Demokratie. Die Abgeordneten sind immer in ihren Wahlkreisen unterwegs, sind ansprechbar. Was sehr stark zunimmt sind Drohungen, Anschläge auf die Büros. Und wir dürfen auch nicht vergessen: Kurz vor dem Referendum ist der Abgeordnete von Labour, Jo Cox, ermordet worden. Das heißt, die Stimmung, die hier erzeugt wird gegen das Parlament, drückt sich dann auch in solchen Taten aus.
Dobovisek: War die Zwangspause jetzt aber am Ende gewissermaßen auch ein Vehikel, um den wirklich einzementierten, festgefahrenen Stillstand der vergangenen Monate aufzubrechen?
Katsioulis: Im Gegenteil. Es war vielleicht eher das Gefühl, das Parlament auszuschalten und den Menschen klarzumachen: Ich scheue auch vor wirklich rigorosen Taten nicht zurück, um diesen Brexit endlich zustande zu kriegen. Boris Johnson sprach ja auch davon, Großbritannien müsse sich verhalten wie der unglaubliche Hulk. Je verrückter, desto stärker werde man. Das spielt alles auf diese Macher-Mentalität an. Das kennen wir auch von Donald Trump, the "Art of a Deal", die Kunst, einen Deal durchzubekommen. Diese Macher-Mentalität versucht er, den Menschen durch zum einen die Suspendierung des Parlaments, aber auch durch solche Aussagen klarzumachen, um dann die Neuwahlen zu bestreiten, auf die er ganz klar zusteuert, von Beginn an.
Grundlagen der Demokratie erodieren
Dobovisek: Wie wichtig wird dabei die Entscheidung des obersten Gerichtshofes sein, die diese Woche noch erwartet wird?
Katsioulis: Sie wird wichtig sein für das, was hier in Westminster stattfindet. Aber für die Menschen, die dieses Theater verfolgen, die auch gar nicht die Zeit dafür haben, genau zu verstehen, was hier eigentlich stattfindet, ist das eine Kleinigkeit, um ehrlich zu sein. Wir hören auch schon aus Nr. 10, dass die Überlegungen herrschen, das Parlament dann einfach noch mal zu suspendieren, um gleichzeitig Ruhe an dieser Front zu haben. Das heißt, Gerichtsentscheidungen werden hier als Hindernisse wahrgenommen. Es wurden ja auch schon Richter in der Presse als Feinde des Volkes bezeichnet, nachdem sie entschieden hatten, dass das Parlament mitentscheiden darf über die Art des Brexit. Wir haben es hier mit einer aufgeheizten Stimmung zu tun, in der Parlament, Gerichte, Journalisten, sozusagen das gesamte Establishment in eine Tonne gepackt werden und gegen das Volk gerichtet werden. Boris Johnson versucht, das im Moment auszunutzen. Das ist eine ganz klassisch populistische Vorgehensweise.
Dobovisek: Für wie gefährlich halten Sie diese Situation?
Katsioulis: Ich halte das für extrem gefährlich. Wir haben es zwar mit der ältesten parlamentarischen Demokratie der Welt zu tun in Großbritannien, aber das Vertrauen in Institutionen, was ja die Grundlage ist für Demokratie, geht hier zurück; das erodiert, wird immer weniger. Und viele Menschen gerade auch in Umfragen nennen immer wieder die Tatsache, dass sie jemanden hätten, der mit starker Hand das Land endlich steuert, als einen Aspekt. Das heißt, wir haben es hier mit einer Situation zu tun, in der wir nicht genau wissen, ob die Parteien noch dieselbe Bindungswirkung haben wie auch in der Vergangenheit. Die Perspektiven sind leider sehr unklar.
Ausgang von Neuwahlen ist offen
Dobovisek: Jetzt versucht Boris Johnson ja, weiter Neuwahlen durchzusetzen, am liebsten noch Mitte Oktober. Das hatte ihm das Parlament noch vor der Zwangspause versagt. Wie geht es da weiter? Was schätzen Sie?
Katsioulis: Die Neuwahlen werden wir in jedem Fall bekommen dieses Jahr. Wir werden sie wahrscheinlich nicht im Oktober bekommen, weil solange das Parlament suspendiert ist, kann es nicht entscheiden. Das heißt, der Termin wird vermutlich im November oder Dezember sein. Die Neuwahlen wollen alle. Die will Boris Johnson, die will auch Jeremy Corbyn, der Labour-Führer, und alle anderen Parteien im Parlament auch. Deswegen ist das eine ganz klare Perspektive. Die Frage ist, bekommen wir dann wirklich eine klare Entscheidung, oder werden wir es wieder mit einem Parlament zu tun haben, was nicht in der Lage ist, sich für eine Form des Brexit zu entscheiden. Ich glaube, leider werden wir das zweitere haben.
Dobovisek: Auf der anderen Seite haben Sie vorhin, als wir über die Stimmung im Land gesprochen haben, über den steigenden Rückhalt für Boris Johnson gesprochen. Was würde das für Neuwahlen bedeuten?
Katsioulis: Im Moment ist es so, dass er bei 37 Prozent in den Umfragen liegt, und in dem britischen Mehrheitswahlsystem könnte das bedeuten, dass er eine sehr große Mehrheit bekommt. Diese Umfragen sind aber vollkommen fluide. Das ändert sich von Tag zu Tag fast. Und es ist auch so, dass viele Bevölkerungsgruppen die Situation verfolgen, sich dann möglicherweise ganz anders entscheiden. Die Frage ist, greift diese Taktik von Johnson, oder greift möglicherweise die Idee von Jeremy Corbyn zu sagen, Brexit ist ein Aspekt, aber es gibt viel wichtigere andere Probleme im Land, in dem seit zehn Jahren gespart wird. Umfrage-Expertinnen und Experten sagen immer wieder, das sieht im Moment so aus, aber wie das dann am Wahltag aussieht und wie das dann in den einzelnen Wahlkreisen aussieht, da haben wir überhaupt keine Möglichkeit, das vorherzusagen. Es kann in beide Richtungen ausgehen.
Brexit wird sich noch weiter hinziehen
Dobovisek: Die Gegner eines harten Brexits haben ein Gesetz verabschiedet, das Johnson zwingt, eine weitere Verschiebung zu beantragen, um drei Monate. Was könnte eine solche Verschiebung bringen, wenn, wie wir gestern nach dem Gespräch mit Juncker gesehen haben, sich bei den Verhandlungen mit der EU nichts, aber auch gar nichts bewegt?
Katsioulis: Ich bin da ebenfalls sehr pessimistisch. Donald Tusk hatte ja bei der letzten Verlängerung gesagt, nutzt sie weise, lasst die Zeit nicht einfach verstreichen. Wir werden bei der nächsten Verlängerung bis zum 31. Januar zumindest eine radikale Veränderung haben, nämlich eine Neuwahl und damit ein neues Parlament.
Dobovisek: Sie gehen von einer Verlängerung aus?
Katsioulis: Ich gehe von einer Verlängerung aus. Ich glaube nicht, dass Europa den Tisch verlässt. Ich gehe auch davon aus, dass Johnson das Gesetz nicht bricht und deswegen um die Verlängerung bittet. Ich glaube nur, dass die Verlängerung uns nicht wirklich weiterbringt, es sei denn, Johnson gewinnt die Wahl und wird sich für einen "No Deal" entscheiden. Sollte er die Wahl nicht klar gewinnen und sollten wir weiterhin ein Parlament haben, was in sich unentschieden ist, dann wird es zwangsläufig auf eine weitere Verlängerung hinauslaufen, weil die Parteien entweder ein zweites Referendum fordern, oder eine Neuverhandlung wollen, die dann aber auch deutlich einfacher auszuhandeln sein könnte. Es wird sich in jedem Fall leider noch weiter hinziehen, der Brexit.
Dobovisek: Klingt nach einem berühmten Sankt-Nimmerleins-Tag. – Die EU sagt ja klar und das haben wir gestern auch wieder gehört, man warte weiter auf substanzielle Vorschläge aus London. Sind die denn überhaupt in irgendeiner Form in Sicht?
Katsioulis: Es gibt Vorschläge, die diskutiert werden, und seit Boris Johnson keine Mehrheit mehr im Parlament hat und somit auch nicht auf die nordirische DUP-Partei angewiesen ist, gibt es wieder die Idee, die ganz am Anfang in den Verhandlungen herrschte, dass man quasi die Grenze, die Zollgrenze und die Kontrollgrenze nicht innerhalb Irlands ansetzt, sondern zwischen der irischen Insel und der britischen Insel. Das wäre eine Möglichkeit, die sich auch schnell aushandeln lassen würde. Es ist nur die Frage, ob es dann eine Mehrheit dafür im Parlament gibt, und das ist das Problem von Anfang an gewesen, dass hier zwar klar ist, was man nicht will, nämlich einen "No Deal", aber nicht klar ist, was man will. Deswegen bin ich auch da etwas skeptisch, ob wirklich noch eine Verhandlung zustande kommt, die dann auch durchs britische Parlament geht.
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