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Ringkampf

Die Geschichte sollte ursprünglich so gehen: Eine Abiturientin und glühende FDJlerin denunziert einen Lehrer, der sich antisozialistisch verhält. Dafür wird sie von der Mehrheit der Schüler verachtet. Schließlich gelingt es der Denunziantin aber doch, ihren Verrat überzeugend als wichtigen Schritt in Richtung Sozialismus darzustellen. Der Lehrer flieht in den Westen.

    An dieser Stelle darf nicht gelacht werden. Das stammt nicht aus "Sonnenallee", ist nicht von Brussig, keiner der Ossi-Breitwandfetzen, die in ihrer simplen Komik ihren Figuren gegenüber meist selber denunziatorisch sind. Nur: anders ließe sich eine solche Geschichte heute wohl kaum noch erzählen.

    "Die Denunziantin" entstand wie die Erzählung "Joe und das Mädchen auf der Lotosblume" Ende der fünfziger Jahre; zwei frühe Texte Brigitte Reimanns, die jetzt im Aufbau-Verlag gemeinsam mit ihrer Entstehungsgeschichte zum ersten Mal erschienen sind. Hier ringt jemand: mit sich, mit der herrschenden Auffassung von Moral, um ethische Positionen, um eine Haltung einer Welt gegenüber, die gerade im Entstehen ist. Von der Sonnenallee aus betrachtet eher lächerlich. Vielleicht sind diese Romanfragmente der hochdekorierten DDR-Autorin gerade deshalb so eindrucksvoll zu lesen. Denn literarisch ausgefeilt sind sie noch nicht.

    Durch Anna Seghers Fürsprache gelangte Reimann, 19jährig, mit der Denunziantin-Geschichte zunächst in eine Autoren-AG. Dort muß sie derartig mit Umarbeitungswünschen traktiert worden sein, daß aus der vorher schillernden und widersprüchlichen Hauptfigur, der Denunziantin Eva, ein linientreuer Holzschnitt wurde. Im bei Aufbau erschienenen Band liegt nun die letzte der Überarbeitungen vor, unvollendet. Was die anderen Fassungen betrifft, muß man sich leider auf das allerdings ausführliche Nachwort von Withold Bonner verlassen. Sichtbar bleiben dennoch die Ablagerungen der langsamen Zerstörung des Textes durch ein System, an dem er sich doch eigentlich stromlinienförmig orientiert hatte. "Als unsere Bücher fertig waren, wurden sie nicht gedruckt, unsere Themen waren seinerzeit unerwünscht", schreibt Reimann rückblickend 1972. Bonner zufolge wurde aus dem schulmädchenhaften Aufsatzstil der Urfassung mit viel Jugendalltag und einer widersprüchlichen Heldin, ein neutraler, vom Schülerslang gereinigter Ton. Die Heldin wurde auf kommunistisch wohlerzogene Linie gebracht. Wohl auch deshalb wird Reimann die Perspektive gewechselt haben. In der erneut aufsässigen Endfassung schlüpfte sie in die Rolle des die neue Gesellschaft bekritelnden Klaus. Inzwischen hatte die Jungautorin Hemingway entdeckt, was den kurzen Sätzen, der Spröde der Figuren, allerdings auch einem meist falsch verstandenes Gefühlspathos anzumerken ist. Am deutlichsten steht die Hommage in der veränderten Überschrift. "Die Denunziantin" wurde kurzerhand in "Wenn die Stunde ist zu sprechen" umgetauft.

    Das Mädchen, die Frau als Charakterkopf zieht sich motivisch und in der Wahl der Figuren durch alle Bücher Reimanns. Die Eva der Endfassung droht allerdings im Kleid der sozialistischen Ideologie zu versinken. Nach insgesamt fünf Jahren der Überarbeitung ist ein starres Kleid daraus geworden, zu oft gestärkt, zu oft geglättet. Aber Kleider kann man wechseln, wie Reimann mit der charismatischen Gestalt der "Franziska Linkerhand" mehr als ein Jahrzehnt später gezeigt hat. Aufregend auch an diesem frühen Text allerdings ist die Glut unter der Sprache, die, wenn sie auflodert, die Vorgaben eines sozialistischen Realismus überstrahlt. Die durch die Strenge dieser Vorgaben möglicherweise erst zum Lodern gebracht wurde.

    Auch das ist typisch Reimann. Sie nimmt, was sie hört und sieht, erstmal ernst. Sie möchte an die Idee einer Persönlichkeit im humanistischen Sinne glauben, sie glaubt an das Gute als ästhetisches Programm und an sozialistische Ideale, die sie bereits Ende der Fünfziger Jahre der Realität als Maßstab vorhält. Hier wird alles, ob die Darstellung von Alltag, Schule oder Arbeitswelt, aber vor allem die weibliche Hauptfigur, literarischen Radikalanalysen unterzogen, die durchaus auch in Richtung staatlicher Erwünschtheit ausschlagen können. Die Prosabücher "Ankunft im Alltag" über das Braunkohlekombinat Schwarze Pumpe, aus dessen Titel später das Etikett für staatstragende Literatur, nämlich Ankunftsliteratur, gemacht wurde, oder "Die Frau am Pranger" sind sozrealistisch angepaßt. Sie entstanden in Hoyerswerda. Dorthin war Reimann noch enthusiastisch umgezogen, um direkt an der DDR mitzubauen.

    In der zweiten, der Titelgeschichte des bei Aufbau erschienenen Bandes "Joe und das Mädchen auf der Lotosblume" wird das Bild eines idealen Menschen auf seine Realismustauglichkeit geprüft. Eine junge Malerin mit dem programmatischen Namen Maria gerät in einer Experimentieranordnung zwischen drei Männer unterschiedlicher Heiligkeitsgrade. Bestimmt werden soll das Wesen einer Künstlerin, genauer: einer Künstlerin in der jungen DDR, verpackt als etwas süßliche Liebesgeschichte. Als Vorlage wird der 23jährigen Autorin ihr eigener Aufenthalt im Schriftstellerheim in Sacrow gedient haben. Während die Männer traditionelle Künstlereigenschaften verkörpern, also authentisch sind, ästhetisch kompromisslos, egozentrisch und ihr aufregendes Leid auf Selbstzweifeln gründen, scheint Maria sich all das nicht leisten zu können. Zwischen heilloser Bewunderung für ihre Künstlerkollegen und rücksichtsloser Draufgängerei spielt sich eine weibliche Selbstfindungsgeschichte ab, die, nachdem man mit allen Wassern des Feminismus gewaschen ist, etwas staubig wirkt.

    Einmal mehr wird das Paradox einer Frau vorgeführt, die sich der Strukturen, denen sie eigentlich entkommen will, bedienen muß, um sie selbst zu werden. Die in diesem unvollendeten Text noch zu beweisende These läuft vereinfacht darauf hinaus, daß der ideale Mensch immer der ideale Mann ist; zwar nicht unbedingt realismustauglicher, aber immer noch besser dran. Der eigentliche erzählerische Triumph Reimanns aber ist die Selbstbezogenheit der Ich-Figur. Maria ist so kraftvoll gestaltet, daß sie die anderen Figuren langsam an den Rand des Textes, sich selber jedoch in den Mittelpunkt eines unbedingten Interesses drängt. Wenn der Erzählton auch manchmal ins Kitschige abrutscht, der Stil noch schwankt zwischen Nüchternheit und romantischer Weichzeichnerei, gilt schon für diesen Text: alles Halbherzige ist Lüge, jeder Kompromiss tödlich.

    Und es ist nicht ausschließlich der Herausgabe der Tagebücher zu verdanken, daß Brigitte Reimann gerade jetzt wie "Phönix aus der Asche" wieder auftaucht. Die Konsequenz, mit der dieses Schreiben gegen alles Erstarrte anrennt, sich aufbäumt mit einer Ernsthaftigkeit, die ohne eigene Moral nicht zu haben ist, deren Ziel also nicht Zerstörung, sondern Umgestaltung ist, muss heute zumindest faszinieren. Solche Texte sind nicht nur in einer Literaturdebatte, die sich die Erziehung sozialistischer Staatsbürger auf die Fahnen geschrieben hatte, anstößig, sondern wahrscheinlich zu allen Zeiten, in denen Literatur nur in Konfektionsgrößen zu haben ist. Die Radikalität der Reimannschen Auseinandersetzung besteht gerade im Beharren auf der Möglichkeit von Gegenentwürfen, im trotzigen Glauben an Ideale und zwar gegen alle Widerstände und Müdigkeiten. Na klar: in Sonnenalleen, wo man schon bequem genug geworden ist, das Konservative für das einzig noch Radikale zu halten, kann darüber nur gelacht werden.

    Auch heute mag es junge Literatur mit moralischem Anspruch und dem großen pathetischen Entwurf geben. Aber sie muss wohl angesichts der derzeitigen, an einem ideologieunkritischen Erzählrealismus geschleiften, verengten Wahrnehmung, in Zeiten träger Eindeutigkeit, erstmal entdeckt und dann neu lesen gelernt werden.

    Brigitte Reimann
    Das Mädchen auf der Lotosblume
    Aufbau, 220 S., EUR 18,90