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Ringvorlesung an der HU Berlin
Nachhaltigkeit im Hörsaal

Seit knapp vier Jahren gibt es an der Humboldt-Universität zu Berlin ein Nachhaltigkeitsbüro. Die Studierenden kämpfen nicht nur dafür, dass der Hochschulbetrieb umweltschonender organisiert wird, sie fordern auch, dass Nachhaltigkeit in Forschung Lehre stärker thematisiert wird. Auch eine eigene Vorlesungsreihe gehört dazu.

Von Andreas Beckmann |
    Ein Stethoskop auf einem Globus
    Im vergangenen Sommersemester an der HU Berlin haben Studierende eine Ringvorlesung zum Thema Nachhaltigkeit organisiert (imago stock&people)
    "Die Frage ist: Sind wir die Generation Nachhaltigkeit, die wir eigentlich sein sollten? Das müssen wir sein, wir Studierenden, die anders denken, die neue Generation, die Strukturen aufbrechen möchte."
    Mala Kaufmann, Geografie-Studentin an der Humboldt Universität Berlin, hat klare Erwartungen, an sich selbst und an ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen. Deshalb hat sie sich der studentischen Initiative "Generation Nachhaltigkeit" angeschlossen, die sich nicht weniger zum Ziel gesetzt hat, als die HU zu einem Ort der Bildung für Nachhaltigkeit zu machen. Dass etwas geschehen muss, um etwa Klimawandel oder Artensterben zu stoppen, wissen schließlich alle. Nur was genau, kann einem auch an einer Hochschule so leicht niemand vermitteln, fügt der Gartenbaustudent Matthias Hartwig hinzu, der ebenfalls in der Initiative mitarbeitet.
    "Wir leben ja in einer Zeit der Reizüberflutung und allgemein der Informationsüberflutung. So etwas gab es ja noch nie in der Geschichte der Menschheit. Dass wir so viele Informationen nicht nur verfügbar haben, sondern dass die auch die ganze Zeit auf uns einprasseln. Also, ich glaube, man kann generell schon sagen, dass unsere Generation überfordert ist, weil wir halt noch nicht gelernt haben, damit umzugehen. Deswegen gibt es so viele Depressionen, deswegen gibt es so viele Burn-outs, deswegen gibt es so viele mentale Probleme heutzutage."
    Klimawandel überfordert Individuen wie Gesellschaften
    Um sowohl den eigenen Gefühlen der Überforderung entgegen zu wirken, als auch um inhaltliches Wissen zum Klimawandel zu verbreiten, haben die Studierenden eine Vorlesungsreihe ins Leben gerufen unter Überschrift "Too fast, too furious" . Zu schnell und zu heftig verändere sich die ökologische wie soziale Umwelt, weder der einzelne Mensch, noch die Gesellschaft komme da mit. Mit dem Geografie-Professor Christoph Schneider, der sich seit langem mit dem Klimawandel beschäftigt, fanden sie eine Art akademischen Schirmherrn für die Ringvorlesung.
    "Es gibt eben auch den Charme der Jugend, die die Welt verbessern will, die aktiv sein wollen und nicht abgeklärt sich mit theoretischen Debatten begnügen. Das finde ich unglaublich erfrischend, ich mag diesen Kontakt mit den jungen Leuten, die gar nicht so sehr fragen, warum, wieso, weshalb, das ist dann unsere Aufgabe, ihnen diese Perspektive auch mitzugeben, sondern die fragen: Wie können wir verändern? Das finde ich ganz großartig."
    Die Themen der wöchentlichen Reihe kombinierten meist praktische mit grundsätzlichen Fragen. Zum Beispiel Naturschutz. Was ist das überhaupt und wie erkennt man, ob die Natur gut oder schlecht geschützt ist? Diese scheinbar banale Frage lässt sich nur sehr schwer beantworten, erklärt Kirsten Meyer, Professorin für Praktische Philosophie an der HU. Schließlich ist die Natur nichts Statisches, sondern ein dynamisches System, das sich ständig verändert, mit und ohne Zutun des Menschen.
    Wie natürlich ist die Natur?
    "Man hätte natürlich gerne Kriterien dafür, wann es sich um eine gute und wann um eine schlechte Veränderung handelt. Zum Beispiel stellt sich manchmal im praktischen Naturschutz die Frage, ob das Einwandern von einer gebietsfremden Art etwas Schlechtes ist und eine natürliche Entwicklung demgegenüber besser. Ich bin skeptisch, dass man so pauschal sagen kann, dass das Einwandern gebietsfremder Arten ein Problem darstellt. Das zeigt, dass wir uns manchmal noch viel stärker über die Gründe für Naturschutz Gedanken machen müssen und die Kategorie, das ist unnatürlich, ist keine so gute, die ist dafür viel zu undifferenziert."
    Natürlicherweise gehören etwa Kartoffeln oder Tomaten nicht nach Europa. Seefahrer haben sie im 16. Jahrhundert vom amerikanischen Kontinent hierher gebracht. Damit haben sie tief in die Natur eingegriffen. Dass sie darüber nachgedacht hätten, scheint unwahrscheinlich. Europas Bauern haben die beiden Arten seither in großem Stil angepflanzt und damit in vielen Landstrichen geholfen, Hungersnöte abzuwenden und die Ernährungsgrundlagen nachhaltig zu sichern. Ein Eingriff in die Natur ist also nicht grundsätzlich schlecht, aber immer ein Akt mit ungewissem Ausgang. Kirsten Meyer:
    "Man kann sich darüber verständigen, wie mit einer solchen Ungewissheit seriös umgegangen werden kann, was man da jetzt tut. Da gibt es verschiedene Angebote von philosophischer Seite. Eins ist das Vorsorgeprinzip, wo man sagt, zumindest wenn das Schadensausmaß sehr hoch ist, dass dann das Risiko minimiert sollte oder dass man auf keinen Fall das riskieren darf, dass sich die Welt so sehr zum schlechteren ändert, wie das zu befürchten ist. Und dass sei selbst dann so, wenn man zum Beispiel keine Wahrscheinlichkeiten dafür abschätzen kann, dass es zu dramatischen Umwälzungen kommt. Beim Klimawandel sind das dann zum Beispiel bestimmt Rückkopplungseffekte, die dazu führen, dass es zu einer plötzlichen und sehr dramatischen Erwärmung kommt. Keiner weiß, wie wahrscheinlich diese Rückkopplungsprozesse sind, da gibt es eine große Unsicherheit, aber man könnte sagen, gerade diese Unsicherheit müsste jetzt Anlass dafür sein, maximale Vorsicht walten zu lassen."
    Alle müssen sich selbst ändern und die Politik
    Ähnlich wie Kartoffel und Tomate ist heute Fleisch für viele Menschen zu einem Grundnahrungsmittel geworden. Das ist nur möglich, weil auf riesigen Flächen Mais und Soja als Viehfutter angebaut werden. Die daraus resultierenden Monokulturen tragen zum Artensterben bei und vielleicht auch zum Klimawandel. Doch Millionen Farmer leben davon. Dieser Zustand lässt sich nur schrittweise und mit politischen Maßnahmen ändern. Kirsten Meyer:
    "Gleichwohl ist die individuelle Verhaltensänderung, wenn sie tatsächlich auch vollzogen wird, alles andere als ineffektiv. Das ist etwa die Reduzierung unseres Fleischkonsums, die auf die Problematik, die zu einer großen Gefährdung der Biodiversität führt, einen großen Einfluss hat. Insofern denke, wenn man in seinem individuellen Verhalten einen Beitrag zum Klimaschutz oder zum Schutz der Artenvielfalt leisten will, dann wäre man zum Beispiel gut beraten, kein Fleisch mehr zu essen."
    Auch wenn der Gedanke in diesem Fall nicht ganz neu ist – solche praktischen Hinweise sind Studierenden wie Mala Kaufmann wichtig. Sie wollen eine Lehre, die nicht nur in allgemein politischer Hinsicht, sondern auch ihnen ganz persönlich Perspektiven zum Handeln eröffnet.
    "Um durch die Erfahrung der Selbstwirksamkeit das Gefühl zu haben, nicht ohnmächtig zu sein, sondern tatsächlich etwas tun zu können und tatsächlich eine zu sein von einer Bewegung, die tatsächlich sehr aktiv ist. Es gibt in meinem Umkreis viele Menschen, die nicht zusehen, sondern die was tun."
    Pioniere kommen aus Nischen
    Mit ganz praktischen Ideen hat die Initiative "Generation Nachhaltigkeit" an ihrer Hochschule schon einige Entwicklungen angestoßen. Plastik-Geschirr wurde aus der Mensa verbannt. In Kopierern kommt verstärkt Recycling-Papier zum Einsatz. Und die modernen Smart Boards, die in den Hörsälen Zug um Zug die klassischen Tafeln ersetzen, sollen abgeschaltet werden, wenn sie gerade nicht genutzt werden, um unnötigen Stromverbrauch zu vermeiden. Aber in Forschung und Lehre kommt das Thema Nachhaltigkeit noch immer zu kurz, finden die Studierenden. Das gilt generell für Deutschlands Hochschulen, pflichtet ihnen Mandy Singer-Brodowsky bei, die an der FU Berlin Konzepte für eine Bildung für Nachhaltigkeit entwickelt. Nach ihrer Ansicht sollten Professoren wie Studierende gerade auf diesem Gebiet Pioniere sein.
    "Nicht nur gedankliche Pioniere, sondern ganz praktische Pioniere, wenn es darum geht, technologische Innovationen im Tüftler- und Bastlermodus zu entwickeln und auch mainstream-fähig zu machen. Aber gedankliche Pioniere, neue, experimentierfreudige Konzepte, das Teilen von Essen oder Kleidung, all die Nischenakteure, die wir jetzt sehen, Tauschkonzepte, Carsharing, all das sind Beispiele für diese Nischenakteure, die lange vor dem, dass es gesellschaftlich präsent war, angefangen haben, darüber nachzudenken und das voranzubringen."
    Innovationen, die in Nischen entstehen, sind am besten geeignet, die Gesellschaft auf einen Weg der Nachhaltigkeit zu bringen, findet Mandy Singer-Brodowsky. Doch die Wissenschaft orientiert sich ihrer Ansicht nach noch immer viel zu sehr an großen Institutionen, ob das Unternehmen sind oder auch die Vereinten Nationen mit ihren Nachhaltigkeitszielen.
    "Das ist auch eine Kritik an den sustainable development goals, die ein stabiles Wirtschaftswachstum fördern und fordern und damit letztlich die Frage von ökologischen Belastungsgrenzen und überhaupt die Frage von planetaren Grenzen massiv untergraben, wenn wir Wirtschaft so denken, wie wir sie bisher denken."
    Alles immer wieder neu denken
    Nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaft, sondern in allen Disziplinen der Wissenschaft kommt es auf die Bereitschaft an, selbst grundlegende Dinge noch einmal ganz neu zu überdenken, ergänzt Christoph Schneider. Eine solche gedankliche Flexibilität zu fördern, sei auch ein Ziel der Vorlesung.
    "Was ich erkennen kann, ist, dass die Studierenden durch die Vorträge immer mal wieder in ihren fest eingefahrenen Denkmustern irritiert werden. Wir hatten zum Beispiel einen Vortrag von zwei jungen Forscherinnen, die darüber sprachen, dass Gen-Technik möglicherweise eine Möglichkeit ist, um Nahrungsmittelkrisen in den Griff zu bekommen und ökologische Lebensmittelproduktionen weltweit zu gewährleisten. Das hat auch mich erst mal irritiert, weil auch meine Haltung erst mal eine Anti-Gentechnik-Haltung war und ich habe gemerkt, dass da tatsächlich Menschen ins Grübeln kommen durch diese Vorträge. Und das ist natürlich wichtig, denn ideologisierte oder eingefahrene Denkmuster helfen uns ja nicht in der Nachhaltigkeitstransformation."
    Nachhaltigkeit ist nicht zuletzt eine Frage des Bewusstseins. Aus diesem Grund haben die Studierenden für einen Nachmittag Kuldeep Amrelia eingeladen, der in Bombay aufgewachsen ist und sich als spirituellen Aktivisten und Trainer bezeichnet. Ein Großteil seiner Vorlesung bestand aus Atemübungen und Meditation. Das helfe, das eigene Leben zu entschleunigen und Gefühle der Überforderung zu verarbeiten. Wer ruhiger lebe, könne seine materiellen Bedürfnisse auf ein vernünftiges Maß reduzieren und verbrauche weniger Ressourcen. Solche Erkenntnisse bezeichnet Kuldeep Amrelia als indischen Beitrag zur Klimadebatte.
    "Jedes Land hat etwas anzubieten für den Kampf um Nachhaltigkeit. Die Amerikaner sind gut in Marketing und können uns erklären, wie man das Thema populär macht. Deutschland ist berühmt für Präzision bei technischen Lösungen. Japan steht für Teamarbeit, die wir brauchen, weil wir es nur gemeinsam schaffen. Und Indien bietet Spiritualität an. Wir müssen alle Stärken und Kräfte mobilisieren, das Beste aus der ganzen Welt."
    Alle gemeinsam und doch auf ihre Weise
    Alle könnten von allen lernen, aber das heiße nicht, dass alle die gleiche Strategie im Kampf gegen den Klimawandel anwenden müssten. Es helfe wenig, wenn etwa westliche Experten nach Indien kämen und den Leuten dort erklären wollten, wie sie zu wirtschaften hätten. Oder wenn sie das Land etwa wegen seines Kohleverbrauchs und der vielen kleinen, oft kommunalen Kohlekraftwerke kritisierten. Für Deutschland sei es vielleicht gut, aus der Kohle auszusteigen, für Indien noch zu früh.
    "Warum sollte man mit dem Bergbau aufhören? Wenn man durch wirtschaftlich notwendige Arbeiten der Natur schadet, muss man eine Kompensation leisten. Wälder sind gut gegen den Treibhauseffekt. Also, wer Minen baut, muss Bäume pflanzen. So kann Bergbau ein ökologisch und ethisch sauberes Geschäft sein."
    Kuldeep Amrelia arbeitet für eine Stiftung, die sich aus Spenden finanziert und unter anderem solche Baumpflanzaktionen durchführt. So etwas kann auch zu einer Art ökologischem Ablasshandel werden, weil sich kaum exakt nachrechnen lässt, wie viel Abgase bei der Kohleverbrennung freigesetzt werden und wie viele Bäume zum Ausgleich nötig wären. Aber die Bürger westlicher Länder werden sich wohl darauf einstellen müssen, dass es zuerst ihre reichen Gesellschaften sein müssen, die auf weitere wirtschaftliche Zuwächse verzichten. Die meisten ärmeren Länder brauchen weiterhin ökonomisches Wachstum. Aber es muss so ökologisch verträglich wie möglich gestaltet werden, sagt Christoph Schneider.
    "Wenn in einem Großraum die ökologische Tragfähigkeit sinkt, das Wasser immer teurer wird, die Lebensmittel, die ökonomischen Rahmenbedingungen, dann ist das die Triebkraft einerseits für gewalttätige Konflikte und zur Migration andererseits, die einfach nach besseren Lebensbedingungen anderswo sucht. Und da kann man schon erkennen, dass Nachhaltigkeits-Ziele in Richtung Partizipation, stabile Strukturen und Nachhaltigkeits-Ziele Klimawandel oder Süßwasser-Reserven, dass die ganz eng miteinander gekoppelt sind. Und die ökologische Bedrohung von Ländern oder Landschaften fast immer dann auch eine Bedrohung des Staatswesens oder der politischen Ordnung nach sich zieht."
    Ökologische Nachhaltigkeit muss sozial sein
    Nicht nur Fragen des praktischen Umweltschutzes standen deshalb auf der Tagesordnung, sondern auch politische Themen. Ohne soziale Gerechtigkeit wird es keine Politik der Nachhaltigkeit geben können, meint Mala Kaufmann.
    "Man darf auch nicht vergessen, dass diese ökologische Fokussierung viel zu kurz gegriffen ist. Und dass wir viel mehr auch über Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit reden müssen. Auf den Feldern sind viele junge Menschen an der Hochschule auch sehr aktiv und setzen sich für Genderthemen ein und gegen die Diskriminierung von Menschen und das ist absolut mit Teil davon. Wenn wir eine nachhaltige Entwicklung starten und unsere Umwelt schonen wollen, dann brauchen wir eine inklusive Gesellschaft, die das mittragen möchte."
    Etwa 80 Hörerinnen kamen im Schnitt zu den Vorlesungen. Diese gute Resonanz ist für Christoph Schneider ein weiteres Zeichen, dass es noch nicht zu spät ist, um viele Menschen dazu zu bewegen, für Nachhaltigkeit zu streiten.
    "Meine Wahrnehmung ist die, dass in der Geschichte der Menschheit viel zu oft Apokalyptiker da gestanden sind und vom Weltuntergang gesprochen haben. Und eigentlich immer die Kreativität des Menschen, seine Innovationskraft und seine Krisen-Resilienz unterschätzt haben. Es gibt für mich keinen Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Wir haben so viel Potenzial, Bildung ist wahrscheinlich eine der Schlüsselgrößen an dieser Stelle, dass ich optimistisch in die Zukunft blicke."
    Um die Ringvorlesung herum baut die Humboldt Universität ein interdisziplinäres Studium Oecologicum auf, das als Wahlpflichtfach Studierenden aller Fachbereiche offensteht. Die Hoffnung ist, dass in wenigen Jahren niemand mehr die Uni verlässt, ohne sich wenigstens einmal intensiv mit dem Thema Nachhaltigkeit befasst zu haben.