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Ringvorlesung Uni Münster
Wie beeinflussen Religionen sich gegenseitig?

Religionen sind keine monolithischen Gebilde, wo jede für sich und getrennt von allen anderen existiert. Judentum, Christentum und Islam, die sich alle auf den Stammvater Abraham beziehen, haben mehr miteinander zu tun, als ihre Dogmatiker wahrhaben wollen. Wo die offiziellen Religionsvertreter auf Abgrenzung drängen, wählen viele Gläubige heute einen anderen Weg.

Von Peter Leusch |
     Vielfalt der Religionen: Buddhismus, Judentum, Katholische Kirche
    Vielfalt der Religionen: Buddhismus, Judentum, Katholische Kirche (picture alliance / dpa / Collage Deutschlandradio)
    Sie suchen sich aus verschiedenen religiösen Traditionen und Anschauungen dasjenige heraus, was ihnen für ihren Alltag, für ihr Leben sinnvoll erscheint. Indisches Yoga, buddhistische Meditation, chinesisches Tai Chi haben deshalb längst Eingang gefunden in die bundesdeutsche Lebenswelt, - ja, viele Menschen haben heute Elemente verschiedener Religionen für sich zusammengenommen zu einer multireligiösen Existenz. Den wechselseitigen Einfluss von Religionen in Gegenwart und Geschichte sowie Formen multireligiöser Identität – diese Themen beleuchtet jetzt eine interdisziplinäre Ringvorlesung an der Universität Münster.

    Vielfältiges Indien
    "Schiffbruch mit Tiger" - der jüngst verfilmte Roman des kanadischen Schriftstellers Yann Martel erzählt ein packendes Drama. Wie der junge Hindu Pi den Stürmen des Indischen Ozeans, der Not und Einsamkeit ebenso trotzt wie dem bengalischen Tiger in seinem Rettungsboot. Für Pi bilden die übermächtigen Gewalten nicht nur eine dramatische Herausforderung, das ganze gilt ihm auch als eine spirituelle Erfahrung mit Gott und Natur. Pi ist ein Gottsucher. Als gläubiger Hindu erzogen, hatte er sich - schon vor der Schiffsreise - dem Christentum geöffnet und taufen lassen, und war obendrein auch noch der islamischen Glaubensgemeinschaft beigetreten.
    Ein Mensch mit drei Religionen - das sei in Indien beileibe nichts romanhaft Fantastisches, erklärt die Indologin Annette Wilke von der Universität Münster:
    "Indien war seit Alters her eine multireligiöse Gesellschaft, mehrere Hindu- Traditionen und Religionen existieren nebeneinander, nicht nur das, sondern auch Jainismus, Buddhismus, Sikhismus, Islam und Christentum. Und es ist nicht selten, dass zum Beispiel ein Hindu einen Jesus auf seinem Hausaltar hat, das ist eine ganz natürliche Situation in Indien - durchaus kann man als Hindu mehrere religiöse Identitäten zusammenleben."
    Indien hat eine lange Erfahrung mit religiöser Vielfalt. Menschen dort gehen beinah selbstverständlich davon aus, dass es in jeder Religion hilfreiche Einsichten und Wahrheiten gibt, sodass man für sein eigenes Leben daraus lernen könne. Menschen in Indien glauben auch nicht, dass unterschiedliche Religionen völlig getrennte Welten seien, vielmehr dass sie Facetten einer einzigen großen Wahrheit darstellen. Das ist eine Sichtweise, die man auch in anderen ostasiatischen Ländern antreffen könne, erläutert Perry Schmidt-Leukel. Er lehrt am Seminar für Religionswissenschaften und Interkulturelle Theologie der Universität Münster.
    "Beispielsweise gibt es im gesamten chinesischen Kulturraum gar nicht diese scharfen Abgrenzungen zwischen Religionszugehörigkeiten, wie wir sie in unseren Breiten kennen. Bekannt ist etwa, wenn in japanischen Statistiken, in Volksbefragungen alle paar Jahre erhoben wird, welchen Religionen die Japaner angehören, da kommt man insgesamt immer auf eine Gesamtzahl von über 160 Prozent der Bevölkerung, weil einfach viele Menschen mehrere Religionen angeben, denen sie sich zu zugehörig fühlen, und die Religionslosen sind bei diesen 160 Prozent noch gar nicht mitgezählt."
    Ein solches statistisches Ergebnis wäre in Deutschland nicht möglich, weil man institutionell nicht mehreren Religionsgemeinschaften zugleich angehören kann. Aber auf der informellen persönlichen Ebene, so registrieren die Wissenschaftler, würden sich auch hierzulande immer mehr Menschen von verschiedenen Religionen beeinflussen lassen. Die Wissenschaftler stützen sich dabei auf die Ergebnisse des sogenannten Religionsmonitors, - das sind repräsentative Befragungen, die erstmals 2007 in Deutschland und in einer Reihe von anderen Ländern durchgeführt wurden. Annette Wilke:
    "Man misstraut Dogmen und Autoritäten, man will selber entscheiden - vielleicht ein Erbe der Aufklärung. Man will selber entscheiden, was tut mir gut. Heute ist es so, dass jemand sagt, ich gehe am Sonntag in die Kirche, weil mir das guttut persönlich, nicht weil das quasi meine Pflicht ist, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen. Aber eine andere Person kann sagen, ich gehe lieber in den Wald oder ins Yogaseminar, das bringt mir mehr an innerem Frieden und an Wohlbefinden."
    Seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts haben Europäer verstärkt Praktiken und esoterische Ideen übernommen, die aus fernöstlichen Religionen stammen: Yoga-Übungen, buddhistische Zen-Meditationen, chinesisches Tai Chi, Ying und Yang. Aber handelt es sich wirklich um einen multireligiösen Trend oder ist das alles nur eine Art Religion-Light, wo einem säkularisierten dürr gewordenen christlichen Glauben importierte Techniken und Übungen aus Fernost wie frische Zweige aufgepfropft werden sollen?
    Nach Ansicht von Perry Schmidt-Leukel reichen die Veränderungen durchaus tiefer.
    "Es werden auch Glaubensinhalte rezipiert. Auch hier wissen wir von verschiedenen Umfragen, dass die Zahlen etwa der Christen in Europa, die gleichzeitig an Reinkarnation glauben, relativ konstant um die 20 Prozent betragen."
    Die buddhistische Lehre der Wiedergeburt, dass die Seele in neuer Gestalt auf die Erde zurückkehrt, ist mit der christlichen Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und dem ewigen Leben im Jenseits streng genommen unvereinbar. Im Übrigen ist für einen Buddhisten die Wiedergeburt keine positive Verheißung, gilt es doch gerade, dem Rad der Geburten zu entkommen, herauszutreten aus dem ewigen Kreislauf menschlicher Leidenschaft.
    Wie geht das multireligiöse Indien mit solchen Widersprüchen um? Das indische Konzept sei integrativ, so Annette Wilke, verfährt in der Regel aber auch hierarchisch. Das heißt, es gibt eine Hauptreligion, der Elemente anderer Religionen hinzugefügt, dabei aber untergeordnet werden. Das sei auch in der Gestaltung der Tempel sichtbar, so Annette Wilke:
    "Sie werden in Tempeln immer viele Götterbilder finden, aber Sie werden auch immer einen zentralen Hauptaltar finden, der ganz klar markiert ist als der zentrale, in der Mitte stehend oder an einem Ende. Und das ist die zentrale Gottheit des Tempels. Und das scheint mir das typische Modell für Indien und den indischen Toleranzbegriff."
    Obwohl hierarchisch geordnet spiegelt das Ensemble verschiedener Gottheiten in einem hinduistischen Tempel die Auffassung wider, dass die Religionen enger zusammen gehören, als ihre geistlichen Führer wahrhaben wollen. Religionen sind keine monolithischen Blöcke, sie haben sich immer schon wechselseitig beeinflusst und dadurch auch weiterentwickelt. Das gilt zumal für die abrahamitischen Religionen: Judentum, Christentum und Islam.
    Assaad Kattan, der orthodoxe Theologie an der Universität Münster lehrt, stammt aus dem Libanon, wo die christliche Minderheit immer schon ein besonderes Verhältnis zur muslimischen Mehrheit und zum Islam hat:
    "Die arabisch sprachigen Christen - die haben eine besondere Note, weil sie in der Lage sind, die islamischen Quellen in ihrer eigenen Muttersprache zu lesen, die meisten von ihnen haben ja auch Arabisch als Muttersprache, sie sind in der Lage das heilige Buch der Muslime, den Koran, in der Originalsprache zu lesen. Und die Geschichte der orientalischen Christen mit dem Islam fängt schon mit der Entstehung des Islams an im siebten Jahrhundert, das heißt, ungefähr 13 Jahrhunderte haben die orientalischen Christen eine lebendige Erfahrung mit dem Islam und mit den Muslimen gehabt, und das hat im Lauf der Geschichte zu vielen Austauschprozessen geführt zwischen Christen und Muslimen."
    Hagia Sofia in Istanbul
    Hagia Sofia in Istanbul (Marius Becker/dpa)
    Fruchtbarer Austausch
    Solche fruchtbaren Transfers zwischen Christentum und Islam, zwischen Orient und Okzident, wo es um nicht weniger als das Erbe der Antike geht, beleuchtet Michael Grünbart, der Byzantinistik an der Universität Münster lehrt.
    "Beginn des achten Jahrhunderts bis Mitte des neunten Jahrhunderts etwa, wo man eine sehr intensive Beziehung zwischen islamischen Kalifaten und dem byzantinischen Kaisertum feststellen kann, wo es zu einem sehr intensiven Transfer der Wissenschaften gekommen ist, wo byzantinische Gelehrte nach Bagdad reisen beziehungsweise der Sultan versucht, byzantinische Gelehrte abzuwerben und hier eine sehr intensive Beziehung in den Fachwissenschaften stattfindet: Mathematik, Geometrie, Musik - da wird sehr viel griechisch Byzantinisches ins Arabische übersetzt, was dann dort verarbeitet und weiter entwickelt wird und dann über Spanien in den Westen kommt."
    Hier treffen wir auf einen großen Bogen: Philosophie und Wissensbestände der Antike werden von den orthodoxen Griechen Konstantinopels, wo ja immer noch der oströmische Kaiser regiert, im Osten an die islamische Welt weiter gegeben und gelangen mit den Muslimen ins maurische Spanien, wo sie nun dem lateinisch-christlichen Westen vermittelt werden.
    Es ist ein Transfer, von dem beide Seiten profitieren, der die islamische Welt ebenso bereichert hat wie das christliche Abendland. Solche wechselseitigen Einflüsse kann man auch in der Sakralarchitektur nachweisen, wo so sensible Bereiche wie das Gotteshaus betroffen sind. Das berühmteste Beispiel ist die Hagia Sophia in Konstantinopel, heute Istanbul. Nach der Eroberung der Stadt wurde die Kirche in eine Moschee umgewandelt. Heute ist sie ein Museum. Michael Grünbart:
    "Die Hagia Sophia selbst beeinflusst sehr stark die osmanische Architektur. Wenn man in Istanbul herumgeht, dann wird man auf Bauten treffen, die ähnlich aussehen wie eine byzantinische Kirche. Sinan etwa, der hat die Hagia Sophia als Vorbild genommen und sie in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts als Modell verwendet und dann Moscheen nach diesem Modell errichtet, da sieht man den Transfer in der Architektur sehr schön, die Blaue Moschee noch etwas später - die korrespondieren quasi mit der Hagia Sophia."
    Ein anderer Bereich, wo Christen und Muslime traditionell zusammenkommen, sind gemeinsame Feste im Jahreskreis der Natur, zum Beispiel das Frühlingsfest in Ägypten. Assaad Kattan:
    "Das ist ja auch ein sehr altes Fest in Ägypten, das wahrscheinlich auf heidnische Wurzeln zurückgeht, aber in seiner jetzigen Form ist dieses Fest sehr stark von den Kopten, von den ägyptischen Christen geprägt, das seit vielen Jahrzehnten zusammen gefeiert wird von Christen und von Muslimen. Sie feiern zusammen, sie essen dieselben Süßigkeiten, sie greifen auf dieselben Lieder zurück oder bestimmte Gedichte, die von Christen und Muslimen in dieser Zeit rezitiert werden."
    Feste feiern
    Feste sind ein Ausdruck gemeinsamer Wertvorstellungen. Wenn heute zum Beispiel am Laternenumzug zu St. Martin muslimische genauso wie christliche oder nichtreligiöse Kinder teilnehmen, so ist das keineswegs bloß ein billiges Event, sondern auch Ausdruck gemeinsamer Überzeugungen: vom humanen Wert der Barmherzigkeit, egal welcher Glaubensgemeinschaft man angehört. Assaad Katan:
    "Im Libanon gibt es seit Kurzem ein gemeinsames Fest, das sowohl für Christen als auch für Muslime gilt und gefeiert wird, das ist das Marienfest. Marien-Verkündigung am fünfundzwanzigsten März, weil Maria ja nicht nur die Mutter Jesu Christi im Christentum ist, sondern sie gilt auch als die Mutter Jesu als die Mutter von Isa im Islam, und spielt auch eine eminente Rolle für die islamische Frömmigkeit. Es ist auch gut, in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass Maria die einzige Frau ist, die namentlich im Koran erwähnt wird. Und es gibt sogar eine koranische Sure, ein koranisches Kapitel, das nach Maria genannt wurde. Auf alle Fälle hat sich das so entwickelt, dass Maria so eine Art gemeinsames Element gewesen ist, bei dem Christen und Muslime sich begegnen können."
    Die Grenzen zwischen Religionen seien fließend, erklärt Assaad Kattan. Und die Intention der Ringvorlesung sei es, aufzuzeigen, wo und wie Religionen immer wieder Elemente von einander übernommen und anverwandelt hätten.
    "Wir versuchen jetzt durch die Ringvorlesung, das Auge dafür zu schärfen aus heutiger Perspektive. Ich denke, auf der Metaebene kann man auch sagen, wenn man sich dieser Austauschprozesse bewusster wird, dann werden bestimmte Absolutheitsansprüche beziehungsweise der Versuch von Religionen, die Deutungshoheit zu monopolisieren, mit Sicherheit infrage gestellt."
    Eine Blume aus Silber liegt auf einer Gedenktafel im Vernichtungslager Auschwitz
    Der nationalsozialistische Antisemitismus hatte eine lange antijudaistische Vorgeschichte. (dpa / Maxppp)
    Dass Religionen sich voneinander abzugrenzen trachten, ist verständlich; höchst problematisch aber ist ein Absolutheitsanspruch, der andere religiöse Überzeugungen nicht ertragen oder sogar vernichten will. Gerade in Deutschland erwies sich ein solcher Absolutheitsanspruch der christlichen Lehre gegenüber dem Judentum als fatal, weil er dem nationalsozialistischen Antisemitismus Vorschub geleistet hat.
    Schmidt-Leukel: "Wir dürfen nicht vergessen, dass der Holocaust, der nicht christlich motiviert war, sondern der nationalsozialistischen Ideologie entsprang, nichtsdestotrotz eine lange antijudaistische Vorgeschichte hatte, die aus christlich-theologischen Motiven kam. Es gab im Christentum immer wieder die Frage, ob das nachchristliche Judentum überhaupt eine Existenzberechtigung hat. Denn man ging davon aus, Jesus ist der Messias, der zu Juden gesandt war und Juden haben den Messias abgelehnt. Mit Entwicklung der christologischen Dogmen steigerte sich das zu der Vorstellung, Juden hätten Gottesmord begangen, und dann wurde die Auffassung doch sehr stark, dass eigentlich das Judentum als Religion keinerlei Daseinsberechtigung mehr hat."
    Die Konfrontation mit einer fremden Religion geschieht nie abstrakt, sondern immer im konkreten historisch-politischen Zusammenhang. Asiatische Buddhisten erlebten das Christentum lange Zeit als Religion der Kolonialherren. Ebenso die meisten islamischen Länder im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Da müsse man sich fragen, meint Schmidt-Leukel: Wie hätten Christen umgekehrt auf eine muslimische Herrschaft reagiert?
    Ein besseres gegenseitiges Verstehen wäre Voraussetzung für eine friedliche Koexistenz der Religionen. Doch daran, so Schmidt-Leukel weiter, hapert es immer noch.
    "Häufig dürfte es ein Mangel an Verstehen für Menschen anderer Religionen sein. Eine Unfähigkeit sich wirklich so mit Inhalten einer anderen Religion auseinander zusetzen, dass man sich für die Möglichkeit öffnet, darin womöglich dem gleichen Gott zu begegnen, wie man ihn aus der eigenen Tradition kennt. Diese Kompetenzen fehlen heute noch zu vielen Menschen, wobei viele andere sie auch in einer ganz natürlichen Weise mitbringen und sich öffnen für andere Religionen, und was besonders wichtig ist in interreligiösen Beziehungen: Die eigene Religion durch die Augen des religiös Anderen zu sehen, denn das kann zum wirklichen Augenöffner werden."