"Es wird keinen Putsch geben", rufen die Demonstranten am Donnerstagabend im Zentrum von Rio de Janeiro immer wieder. Sie schwenken rote Fahnen, tragen Aufkleber mit den Gesichtern von Präsidentin Dilma Rousseff und ihrem Vorgänger Lula da Silva, hüpfen und singen. Landesweit sind es am Donnerstag wieder Zehntausende, die gegen ein Amtsenthebungsverfahren der linken Präsidentin auf der Straße sind. Für die Demonstranten hier ist der Vorwurf absurd, Rousseff habe die Haushaltszahlen geschönt und ihren Wahlkampf illegal finanziert.
"Niemand kann ihr etwas beweisen", sagt die Bankangestellte Carla Lemos. "Ich glaube an die Regierung! Sie hat dem Volk viel Positives gebracht!" Und der Schriftsteller Levy Ferrari beschuldigt eine Clique aus Opposition und Finanzelite, eine demokratisch gewählte Präsidentin aus dem Amt treiben zu wollen: "Teile der Legislative nutzen die Institutionen aus, um einen parlamentarischen Staatsstreich durchzuführen. Wir sind hier, um die Demokratie zu verteidigen."
Chaotische Situation
Die Befürworter der Amtsenthebung sehen das naturgemäß anders: Bei einer anderen Demo vergangene Woche sagt der Arzt Augusto Ferreira: "Wir wollen, dass die Präsidentin aus dem Amt entfernt wird und Lula ins Gefängnis kommt! Ich arbeite in einem Krankenhaus. Die Situation ist chaotisch. Es geht nicht so weiter, dass das Geld für Behandlungen fehlt, aber so viel gestohlen wird!"
Damit meint er einen gigantischen Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras, bei dem Politiker Millionen an Schmiergeldern verdient haben – darunter soll auch Rousseffs Amtsvorgänger Lula da Silva sein. Zum Ende dessen Amtszeit 2010 brummte die brasilianische Wirtschaft durch Rohstoffexporte und Brasilien galt als neuer Global Player. Inzwischen steckt Brasilien in der schlimmsten Rezession seit Jahrzehnten, die Arbeitslosigkeit steigt, die Preise ebenso und das Land ist politisch gelähmt. Das werde Auswirkungen auf die Olympischen Spiele haben, sagt Brasiliens bekanntester Sport-Kolumnist Juca Kfouri.
"Es ist absurd, dass Brasilien Gastgeber einer Olympiade ist! Wir wissen ja noch nicht einmal, wer der Präsident sein wird, der die Spiele im August eröffnet. Bleibt es bei Dilma Rousseff oder wird es ein anderer Präsident?"
Monatelanger Prozess im Amtsenthebungsverfahren
Mitte April stimmt das Abgeordnetenhaus darüber ab, ob ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet wird oder nicht. Der Prozess würde sich über mehrere Monate hinziehen. Rousseffs wichtigster Koalitionspartner, die demokratische Bewegung PMDB, hat in dieser Woche das Regierungsbündnis aufgekündigt und unterstützt das Verfahren. Auf der anderen Seite wird Rousseff mit den freigewordenen sieben Ministerien nun pokern, um kleinere Parteien auf ihre Seite zu ziehen. Das Motto: ich gebe Dir ein Ministerium, Du stimmst gegen das Amtsenthebungsverfahren. Sollte die Taktik scheitern, sieht Juca Kfouri die olympischen Spiele direkt betroffen.
"Rousseffs Anhänger werden dann die Straßen besetzen. Es ist ja offensichtlich, dass eine Olympiade eine ideale Möglichkeit darstellt, auf die Straße zu gehen, denn die Presse der ganzen Welt ist dann hier. Ich habe keinen Zweifel, dass das noch mehr Öl ins Feuer gießen könnte."
Sportministerium Teil des politischen Geschachers
Zu den sieben Ministerien der PMDB kommt das Sportministerium, verantwortlich für Athleten-Vorbereitung, Anti-Doping-Labor und über die Bundesregierung für die Mehrheit der Olympia-Bauten. Sportminister Jorge Hilton, seit Anfang 2015 im Amt, dirigierte sich letzte Woche selbst ins Aus, indem er zu einer Splitterpartei wechselte. Rousseff ernannte am Donnerstag Staatssekretär Ricardo Leyser zum Übergangs-Sportminister. Juca Kfouri:
"Leyser hat den Vorteil ein Fachmann zu sein, der schon lange im Sportministerium ist. Aber er hat nicht das geringste politische Gewicht. Das lässt mich vermuten, er wird zu Olympia nicht mehr Sportminister sein."
Stattdessen sei das Sportministerium nun Teil des politischen Geschachers.
Rio de Janeiro letzte Woche. Auf einem Hügel in bester Lage mit Aussicht über die Bucht von Copacabana sterben mindestens zwei Personen, Anwohner sprechen sogar von neun. Die beiden Favelas hier gelten eigentlich als befriedet und sind beliebt bei Touristen. Auch die Polnisch-Lehrerin Katarzyna Chmura lebte bis jetzt hier.
"Letzte Woche hatten wir drei oder vier Schießereien. Am beängstigten war es am Mittwoch. Es wird immer schlimmer, nicht nur hier, sondern auch in Copacabana und Ipanema sehe ich immer mehr Gewalt, wenn ich über die Straße laufe oder in einem Taxi sitze."
Wachsende Kriminalität
Ihr Gefühl wird durch die letzten Zahlen des Instituts für öffentliche Sicherheit bestätigt. Demnach stieg in Rio die Zahl der Morde im Februar im Vergleich zum Vorjahr um zwölf Prozent auf 477 – das sind 16 pro Tag – und die Zahl der Überfälle um 28 Prozent auf 10.000 in einem Monat. Gleichzeitig musste Rios Staatssekretär für öffentliche Sicherheit, José Beltrame, bekanntgeben, dass er wegen der miesen Wirtschaftslage dieses Jahr gut eine halbe Million Euro einsparen muss.
"Das ist ohne Zweifel delikat. Wir müssen sehr aufpassen. Aber ich glaube an die Polizeiinstitutionen. Und jetzt müssen wir darüber nachdenken, wie es weitergeht."
Das amerikanische Konsulat hat seine Bürger aufgefordert, auch als befriedet geltende Favelas nicht mehr zu besuchen. Kommentator Juca Kfouri meint, auch während der Olympischen Spiele gehe das Land im Vergleich zu früheren Großevents durch die instabile Lage ein höheres Risiko ein, das etwas passiere.
Ob Pro- oder Kontra-Regierung – in zwei Punkten sind sich alle Demonstranten in Rio de Janeiro, mit denen der Deutschlandfunk gesprochen hat, einig. Momentan interessiert sich niemand für das Thema Olympia. Aber wenn es erst soweit ist, werde man Athleten und Besucher mit aller Herzlichkeit aufnehmen.
"Die Cariocas sind ein feierfreudiges Volk!", sagt Kfouri. "In den Hallen, Schwimmbädern und Arenen werden die olympischen Spiele empfangen werden, wie sie es verdient haben. Was derweil auf der Straße passieren wird, ist das große Fragezeichen."
Sein Resümee: Der Moment könnte nicht schlechter sein für Brasilien, die Olympischen Spiele auszurichten.