Burkhard Müller-Ullrich: Vor mehr als 40 Jahren beschloss die UNESCO das Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturgutes der Welt, die Grundlage der berühmten Kulturerbelisten. Inzwischen gibt es ein weiteres Übereinkommen zum Schutz des immateriellen Kulturerbes, das nun auch in Deutschland umgesetzt werden soll. Darüber gibt jetzt Auskunft Professor Stefan Simon von der Forschungsallianz Kulturerbe. Herr Simon, führt der Begriff des immateriellen Kulturerbes nicht zu einer geradezu beliebigen Ausweitung der Sache?
Stefan Simon: Das liegt vielleicht auch ein bisschen an unserer deutschen Sprache. Immaterielles Kulturgut. Eigentlich ist die englische Fassung, "Intangible Heritage", also "Nicht berührbares Kulturgut", vielleicht ein bisschen verständlicher. Sie wissen, wir haben natürlich – jedem Menschen ist das eingängig, Baudenkmäler, Museen, kleine und große Objekte, die zum Kulturgut zählen - aber daneben natürlich auch kulturelle Ausdrucksformen, die auch ganz lebendig sind, zum Beispiel Traditionen, Feste.
Ich denke da an unsere Landshuter Hochzeit in Bayern oder die Passionsspiele in Oberammergau. Das ist auch Kulturgut, das nicht berührbar ist. Das ist eben immateriell. Das wird über Generationen weitergegeben, da gehören auch Handwerkstechniken dazu, da gehört auch Wissen im Umgang mit Naturheilkunde, Naturmitteln dazu. Das sind alles so Sachen, die sich in Gesellschaften entwickelt haben, die über Generationen tradiert werden, und die auch zur Kultur gehören.
Müller-Ullrich: Die berührbaren Dinge, die kann man konservieren, die kann man restaurieren, aber wie schützt man Ideen?
Simon: Ich glaube, der Schutz ist nur eine Komponente. Die Ideen, beziehungsweise diese lebendigen Inhalte sind natürlich nur dadurch existent, dass sie auch leben und dadurch, dass sie sich auch verändern. Auch das berührbare Kulturerbe verändert sich, und natürlich verändert sich auch das immaterielle Kulturgut, vielleicht noch stärker, weil es eben ein gemeinschaftsbasierter Wert ist. Also, es lebt natürlich von den Menschen, die es heute praktizieren und die es in der Zukunft weitergeben. Ich würde nicht sagen, dass es beim immateriellen Kulturgut darum geht, etwas so, wie es heute ist, auf immer unverändert zu bewahren.
Müller-Ullrich: Aber warum dann überhaupt schützen? Wer ist sozusagen der Feind, gegen den man da vorgeht? Die Gefährdung authentischer Kulturtradition, von der da die Rede war und vor der die Konvention schützen soll, die wird ja meist der Globalisierung, die von den USA ausgeht, zugeschrieben.
Simon: Ja. Das ist jetzt – Sie haben schon recht, das ist vielleicht aber auch ein sehr politisches Argument, ob die Globalisierung nun immer von einem Land ausgehen muss oder ob sich das nicht sehr schnell ändern wird, das sei mal dahingestellt. Aber warum ist es schützenswert?
Anlass oder der Ansporn für diese Konvention kam aus den asiatischen Ländern, weil man dort auch ein bisschen einen anderen Kultur- und Originalitätsbegriff hat. Es gibt im asiatischen Raum Tempel, die existieren seit, sagen wir mal dem 6./7. Jahrhundert, die werden alle Jahre wieder aufgebaut, sodass die heute, sag ich mal, 2000 Jahre oder 1500 Jahre alt sind, aber in ihrer Materialität vielleicht nur 20, 30 Jahre.
Das Kulturerbe steckt in der Handwerkstradition, im Machen. Holz per se, da hilft unsere Charta von Venedig, unsere denkmalorientierte Basis hier im Westen nicht so richtig weiter. Aber Ihre wichtigste Frage, die ich jetzt so verstanden habe, warum ist es eigentlich schützenswert.
Ich glaube, es ist schützenswert, weil immaterielle Kulturgüter verbindet die Menschen in einer Gemeinschaft. Es ist – nehmen Sie – ich schau bloß gerade raus, bei mir, beim Fenster, das bayerische Weißbier und den Leberkäs, wenn Sie so etwas haben, dann fühlen Sie sich dieser Gemeinschaft auch zugehörig, wenn Sie weit, weit weg davon sind.
Müller-Ullrich: Sie haben ja selber schon von dem Wandel gesprochen, dem alles Immaterielle, alles Brauchtum unterliegt. Sie haben auch gesagt, dass es ursprünglich aus Asien kam. In der Tat, zu den ersten drei Unterzeichnern gehörten China, Indien und Pakistan. Aber auch in den chinesischen Großstädten möchte die Jugend mittlerweile nach New Yorker Standard leben. Und wenn sich diese Jugend eben von der traditionellen Guqin-Musik oder der Kunqu-Oper, um nur mal zwei Beispiele von der UNESCO-Liste zu nehmen, abwendet. Was kann die UNESCO, mit und ohne Konvention, dagegen tun?
Simon: Wenig. Wenig, aber das ist ein generelles Problem der Konservierung. Um eine richtige Entscheidung darüber zu treffen, was sollen wir erhalten und wie sollen wir es erhalten, müssen wir uns aber zunächst einmal mit all diesen Rahmenbedingungen auseinandersetzen.
Wir müssen identifizieren, was ist daran wichtig für unsere Gesellschaft. Ich kann nur sagen, mein Vater persönlich, der hat sich sehr dafür interessiert über alte Handwerkstechniken bei uns im bayerischen Raum, wie man Weidenkörbe flechtet. Im fränkischen Raum, da gibt es Weidenkörbe, die sind für Kirschen anders als für Kartoffeln und anders für Brot. Heutzutage ist das alles aus Plastik und man braucht das nicht mehr. Sich zumindest darüber Gedanken zu machen, was verlieren wir eigentlich, wenn diese Techniken mal alle weg sind – weil sie gehen ja, sie verschwinden ja. Das hat nichts mit Globalisierungsgegner zu tun, sondern einfach zu sagen, wo stehen wir, und was diskutieren wir an Werten. Eigentlich ist das eine Wertediskussion. Was ist uns heute wichtig und was kann uns morgen wichtig sein?
Müller-Ullrich: Um gleich bei den Werten noch mal zu bleiben. Sie bringen immer sehr zustimmungsheischende und freundliche, ich möchte nicht sagen, harmlose Beispiele zu den authentischen kulturellen Praktiken. Früher gehörte das Kreuzigen bei den Römern, gehörte das Duellieren in nicht so ferner Zeit dazu. Wenn es da schon eine UNESCO gegeben hätte – käme das auch auf die Liste?
Simon: [lacht] Das habe ich mir noch nicht überlegt, das ist richtig, das Kreuzigen. Also ich weiß, dass Religionen von den Intangible Heritage ausgenommen sind. Rituale sind zwar drin, aber Religionen an sich nicht. Es gibt aber auch viele, vielleicht noch ein letztes Beispiel auch aus dieser Reihe, die Falknerei. Kulturerbe ist eben universell, und Kulturerbe ist nicht unbedingt auf Nationen und enge politische Gemeinschaften ausgerichtet. Klar, beim Intangible Heritage, beim immateriellen Kulturerbe ist das ein bisschen anders, aber auch da gibt es natürlich, wie gesagt, bei der Falknerei auch, Werte, die sich quer durch Kulturgemeinschaften ziehen.
Müller-Ullrich: Die UNESCO kümmert sich jetzt auch in Deutschland ums Unfassbare. Das waren Auskünfte über immaterielles Kulturerbe von Professor Stefan Simon von der Forschungsallianz Kulturerbe.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Stefan Simon: Das liegt vielleicht auch ein bisschen an unserer deutschen Sprache. Immaterielles Kulturgut. Eigentlich ist die englische Fassung, "Intangible Heritage", also "Nicht berührbares Kulturgut", vielleicht ein bisschen verständlicher. Sie wissen, wir haben natürlich – jedem Menschen ist das eingängig, Baudenkmäler, Museen, kleine und große Objekte, die zum Kulturgut zählen - aber daneben natürlich auch kulturelle Ausdrucksformen, die auch ganz lebendig sind, zum Beispiel Traditionen, Feste.
Ich denke da an unsere Landshuter Hochzeit in Bayern oder die Passionsspiele in Oberammergau. Das ist auch Kulturgut, das nicht berührbar ist. Das ist eben immateriell. Das wird über Generationen weitergegeben, da gehören auch Handwerkstechniken dazu, da gehört auch Wissen im Umgang mit Naturheilkunde, Naturmitteln dazu. Das sind alles so Sachen, die sich in Gesellschaften entwickelt haben, die über Generationen tradiert werden, und die auch zur Kultur gehören.
Müller-Ullrich: Die berührbaren Dinge, die kann man konservieren, die kann man restaurieren, aber wie schützt man Ideen?
Simon: Ich glaube, der Schutz ist nur eine Komponente. Die Ideen, beziehungsweise diese lebendigen Inhalte sind natürlich nur dadurch existent, dass sie auch leben und dadurch, dass sie sich auch verändern. Auch das berührbare Kulturerbe verändert sich, und natürlich verändert sich auch das immaterielle Kulturgut, vielleicht noch stärker, weil es eben ein gemeinschaftsbasierter Wert ist. Also, es lebt natürlich von den Menschen, die es heute praktizieren und die es in der Zukunft weitergeben. Ich würde nicht sagen, dass es beim immateriellen Kulturgut darum geht, etwas so, wie es heute ist, auf immer unverändert zu bewahren.
Müller-Ullrich: Aber warum dann überhaupt schützen? Wer ist sozusagen der Feind, gegen den man da vorgeht? Die Gefährdung authentischer Kulturtradition, von der da die Rede war und vor der die Konvention schützen soll, die wird ja meist der Globalisierung, die von den USA ausgeht, zugeschrieben.
Simon: Ja. Das ist jetzt – Sie haben schon recht, das ist vielleicht aber auch ein sehr politisches Argument, ob die Globalisierung nun immer von einem Land ausgehen muss oder ob sich das nicht sehr schnell ändern wird, das sei mal dahingestellt. Aber warum ist es schützenswert?
Anlass oder der Ansporn für diese Konvention kam aus den asiatischen Ländern, weil man dort auch ein bisschen einen anderen Kultur- und Originalitätsbegriff hat. Es gibt im asiatischen Raum Tempel, die existieren seit, sagen wir mal dem 6./7. Jahrhundert, die werden alle Jahre wieder aufgebaut, sodass die heute, sag ich mal, 2000 Jahre oder 1500 Jahre alt sind, aber in ihrer Materialität vielleicht nur 20, 30 Jahre.
Das Kulturerbe steckt in der Handwerkstradition, im Machen. Holz per se, da hilft unsere Charta von Venedig, unsere denkmalorientierte Basis hier im Westen nicht so richtig weiter. Aber Ihre wichtigste Frage, die ich jetzt so verstanden habe, warum ist es eigentlich schützenswert.
Ich glaube, es ist schützenswert, weil immaterielle Kulturgüter verbindet die Menschen in einer Gemeinschaft. Es ist – nehmen Sie – ich schau bloß gerade raus, bei mir, beim Fenster, das bayerische Weißbier und den Leberkäs, wenn Sie so etwas haben, dann fühlen Sie sich dieser Gemeinschaft auch zugehörig, wenn Sie weit, weit weg davon sind.
Müller-Ullrich: Sie haben ja selber schon von dem Wandel gesprochen, dem alles Immaterielle, alles Brauchtum unterliegt. Sie haben auch gesagt, dass es ursprünglich aus Asien kam. In der Tat, zu den ersten drei Unterzeichnern gehörten China, Indien und Pakistan. Aber auch in den chinesischen Großstädten möchte die Jugend mittlerweile nach New Yorker Standard leben. Und wenn sich diese Jugend eben von der traditionellen Guqin-Musik oder der Kunqu-Oper, um nur mal zwei Beispiele von der UNESCO-Liste zu nehmen, abwendet. Was kann die UNESCO, mit und ohne Konvention, dagegen tun?
Simon: Wenig. Wenig, aber das ist ein generelles Problem der Konservierung. Um eine richtige Entscheidung darüber zu treffen, was sollen wir erhalten und wie sollen wir es erhalten, müssen wir uns aber zunächst einmal mit all diesen Rahmenbedingungen auseinandersetzen.
Wir müssen identifizieren, was ist daran wichtig für unsere Gesellschaft. Ich kann nur sagen, mein Vater persönlich, der hat sich sehr dafür interessiert über alte Handwerkstechniken bei uns im bayerischen Raum, wie man Weidenkörbe flechtet. Im fränkischen Raum, da gibt es Weidenkörbe, die sind für Kirschen anders als für Kartoffeln und anders für Brot. Heutzutage ist das alles aus Plastik und man braucht das nicht mehr. Sich zumindest darüber Gedanken zu machen, was verlieren wir eigentlich, wenn diese Techniken mal alle weg sind – weil sie gehen ja, sie verschwinden ja. Das hat nichts mit Globalisierungsgegner zu tun, sondern einfach zu sagen, wo stehen wir, und was diskutieren wir an Werten. Eigentlich ist das eine Wertediskussion. Was ist uns heute wichtig und was kann uns morgen wichtig sein?
Müller-Ullrich: Um gleich bei den Werten noch mal zu bleiben. Sie bringen immer sehr zustimmungsheischende und freundliche, ich möchte nicht sagen, harmlose Beispiele zu den authentischen kulturellen Praktiken. Früher gehörte das Kreuzigen bei den Römern, gehörte das Duellieren in nicht so ferner Zeit dazu. Wenn es da schon eine UNESCO gegeben hätte – käme das auch auf die Liste?
Simon: [lacht] Das habe ich mir noch nicht überlegt, das ist richtig, das Kreuzigen. Also ich weiß, dass Religionen von den Intangible Heritage ausgenommen sind. Rituale sind zwar drin, aber Religionen an sich nicht. Es gibt aber auch viele, vielleicht noch ein letztes Beispiel auch aus dieser Reihe, die Falknerei. Kulturerbe ist eben universell, und Kulturerbe ist nicht unbedingt auf Nationen und enge politische Gemeinschaften ausgerichtet. Klar, beim Intangible Heritage, beim immateriellen Kulturerbe ist das ein bisschen anders, aber auch da gibt es natürlich, wie gesagt, bei der Falknerei auch, Werte, die sich quer durch Kulturgemeinschaften ziehen.
Müller-Ullrich: Die UNESCO kümmert sich jetzt auch in Deutschland ums Unfassbare. Das waren Auskünfte über immaterielles Kulturerbe von Professor Stefan Simon von der Forschungsallianz Kulturerbe.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.