"Diese Bevölkerungsgruppen wurden gezwungen dort zu leben. Das ist der rote Faden, alle wurden zum Aufenthalt in Rivesaltes gezwungen, von dem Land, das sie aufgenommen hatte."
Gezwungen zum Leben unter schwierigsten Bedingungen. In Baracken und einfachsten Behausungen in der menschenöden Ebene am Fuße der Pyrenäen.
"Dieser Bereich hier, das war das Internierungslager, mit zwei Blöcken für die Logistik und fünf für die Unterbringung."
Halb zerfallene Baracken ragen in den strahlend blauen Himmel.
"Block F - das ist der Bereich, der jetzt der Regionalverwaltung gehört und wo die Erinnerungsstätte errichtet wird - und der Block K, das waren die Blöcke, in denen die männlichen Juden, Männer und Kinder bis 14 Jahre, eingeschlossen wurden, bis zur Deportation zwischen August 42 und November 42."
"Meine Mutter war auf einem der ersten Transporte, die von Rivesaltes nach Branch gingen, in das Durchgangslager nördlich von Paris. Ein Augenzeuge, ein Herr aus Karlsruhe, der Auschwitz überlebt hat, sah sie dann dort ankommen. Weil sie schon zwei Jahre in französischen Lagern interniert war, war sie derart geschwächt und krankt, dass sie nicht zum Arbeiten eingeteilt wurde. Sie wurde auf der Rampe selektioniert und ging direkt in die Gaskammer."
Türlose Mauern erzählen einen Teil der Elendsgeschichten
Paul Niedermann, Jahrgang 1927, geboren in Karlsruhe, wurde im März 1941 mit seiner Familie ins Lager von Rivesaltes gebracht. Die Barracken in der kargen Ebene unweit von Perpignan waren für Niedermanns Eltern Zwischenstation auf dem Weg in die Vernichtungslager. 2.313 Juden wurden von hier aus in den Tod transportiert. "Die Juden, die in der nichtbesetzten Zone zusammengetrieben wurden, wurden hier hergebracht und dann deportiert."Außerdem 600 Zigeuner, überwiegend aus der Region Elsass-Lothringen. "Von Januar 1941 bis November 1942 waren hier 21.000 Menschen interniert." 16 verschiedene Nationalitäten.
Nathalie Fourcarde führt die kleine Schar internationaler Journalisten, Spanier, Franzosen, Algerier, Deutsche, weiter über das Gelände, betritt eines der kargen Steinhäuser, das noch nicht verfallen aber doch in schlechtem Zustand ist.
"Dort ein einziger Eingang, man muss sich vorstellen, bis zu achtzig, manchmal 100 Menschen waren hier untergebracht, keine Fenster, Stroh, vielleicht Tücher vor den Öffnungen. Stellen Sie sich vor, drei Uhr in der früh, es regnet, es ist kalt, der Weg zur Toilette.“
Fourcarde weist auf die Latrinenbaracke, die türlosen Mauern erzählen einen Teil der Elendsgeschichten, die sich hier abgespielt haben. Familien wurden getrennt, Frauen und Männer, Eltern und Kinder. Die pralle Sonne über der Ebene, die eiskalten Nächte im Winter, die undichten Baracken und Zelte tun ihr Übriges, um Rivesaltes zu einem Ort des Elends zu machen.
Nicht nur in der Zeit, als Rivesaltes Kriegsgefangenenlager war, starben die Menschen an den katastrophalen hygienischen Bedingungen, die in Rivesaltes herrschten.
"In Folge einer Epidemie gab es viele Tote, die Gefangenen wurden zunächst auf dem Gelände beerdigt, später, in den 50er-, 60er- Jahren wurden die Körper nach Deutschland gebracht und von den Familien dort bestattet.“
Viele Geschichten um das Internierungs- und Gefangenenlager Rivesaltes liegen noch im Dunkeln. Wo wurden die Toten bestattet, die vielen Kinder etwa, die das harte Leben in der wüstengleichen Landschaft nicht durchstanden. Zeitzeugen berichten den Forschern, dass regelmäßig Lastwagen zum Lager fuhren, um Tote abzuholen. Aber niemand kann mit Gewissheit sagen, wo die Körper bestattet wurden. Was sagen die Archive der lokalen Entbindungsstationen? Gab es Kontakt zur Bevölkerung? Welche Zeitzeugenberichte gibt es weltweit noch, neben den rund 300 Stunden Material, das bereits aufgezeichnet wurde?
Die verfallenen Baracken sollen, so weit möglich, gerettet und rekonstruiert werden, sie stehen unweit der Großbaustelle: "Hier sehen Sie das Hauptgebäude der Erinnerungsstätte. Die im Januar 2015 eröffnet werden wird. Die Konstruktion des Architekten Rudy Ricciotti. Ein sehr langes Gebäude, gut 220 Meter lang, 20 Meter breit, vier Meter hoch."
Das Gebäude duckt sich in die rötliche Erde dieser wüstengleichen Landschaft. "Das ist ein Gebäude, das unterirdisch beginnt und sich langsam erhebt, aber niemals höher sein wird als die Barackendächer. Ein Gebäude, das sich in die Landschaft fügt, das nicht durch seine Architektur erdrückt, nicht die noch stehenden Baracken erdrückt, nicht die Erinnerung erdrückt, das den Ort respektiert. Der Ort, an dem dieses Internierungslager stand, soll für sich sprechen. "
1.000 Quadratmeter Ausstellungs-Fläche für Dauer- und 400 Quadratmeter Wechselausstellungen, ein Kinoraum für Vorführungen, Säle für pädagogische Veranstaltungen - wenn im Januar 2015 die Eröffnung gefeiert wird, liegt ein langer und steiniger Weg hinter den Verantwortlichen.
Denn die Geschichte des Internierungslagers Rivesaltes ist an vielen Enden bitter für das nationale, französische Gedächtnis. Die Algerien-Kämpfer, die Harki, denen der Einsatz für Frankreich mit einem Leben in Baracken und Zelten unter schwersten Wetterbedingungen gedankt wurde. Die jüdischen Familien, die vergeblich auf französischen Schutz vor den Nazis gehofft hatten.
Noch 2007 wurden illegale Einwanderer untergebracht
Dass die heruntergekommenen Baracken von Rivesaltes, mit ihrer düsteren Vergangenheit, noch bis 2007 zur Unterbringung für illegale Einwanderer genutzt wurden, machte den Weg zur Erinnerungsstätte nicht leichter. In den Schulen der Region, berichten Lehrer und Zeitzeugen, sei nie über den Ort gesprochen worden. Rivesaltes, das war Militärgelände, da war die Schweigsamkeit groß, die französische Armee trägt nicht zufällig den Spitznamen "La Grande Muette", die Große Schweigsame.
"Wenn Sie nach Rivesaltes kommen, haben Sie das zerstörerische vor Augen, diese Baracken, die vermitteln, was es bedeutet, interniert zu sein, deportiert zu werden, welche große und zugleich dramatische Chance", sagt der Historiker, aber es dauerte, bis diese Chance genutzt wurde. Das Schweigen über das Lager von Rivesaltes war national, die Tür für die Erinnerungsarbeit musste erst aufgestoßen werden.
Hilfreich war da die Arbeit lokaler Initiativen, wie der Verein "Trajectoire" , der sich seit Jahren um Zeitzeugenberichte bemüht, Dokumente sammelt und bis heute mit pädagogischen Projekten am Erhalt des Erinnerungsortes beteiligt ist. Die lokalen Vereine waren es auch, die erste Kontakte über die Grenzen hinweg knüpften, die auf internationalen Menschenrechtskonferenzen das Bewusstsein für diesen in der Geschichte Europas einzigartigen Ort schärften.
Für den Weg von den vergessen Baracken, die in der Witterung untergingen, bis zum "Mémorial", der Erinnerungsstätte, die nun aus dem steinigen Boden wächst, fehlte aber vor allem eines, sagt der wissenschaftliche Leiter des Projektes:
"Es brauchte eine politische Entscheidung, politische Beteiligung."
Zuerst mussten die Baracken gerettet werden
Die kam mit dem ebenso eigenwilligen wie zähen Christian Bourquin ins Spiel. Der Sozialist kämpfte 16 Jahre gegen lokale und regionale Widerstände, gegen die Konkurrenz der unterschiedlichen Opfer-Gruppen, gegen Ablehnung auf den verschiedenen politischen Ebenen: "Keiner wollte was von dem Projekt hören, keiner!"
Rivesaltes - mit dem Namen verbinden sich schmerzhafte Etappen der französischen Geschichte, deren Aufarbeitung Jahrzehnte brauchte und in Teilen bis heute nicht abgeschlossen ist. So ging der Widerstand gegen eine öffentliche Erinnerungsstätte dort, wo die letzten Baracken stehen, bis hinauf zur Staatsspitze. Im Präsidentenpalast sei ihm Desinteresse begegnet, sagt der Präsident der Region Languedoc-Roussillon.
"Ich war allein gegen alle und habe mich schon gefragt, ob ich mich irre."
Bourquin ist eitel, aber eben auch entschlossen, sein Projekt voranzutreiben. Zunächst sei es darum gegangen, die Baracken, die bei Wind und Wetter verfielen, zu retten – zwölf Jahre dauerte dieser politische Kampf. Denn das Gelände für die Erinnerungsstätte musste aus dem militärisch genutzten Bereich gleichsam herausgeschnitten werden. Dabei ging es auch um Geld.
"Das sollte die Nachwelt wissen, für Erinnerungsarbeit muss man hier zahlen."
Der damalige Staatspräsident Sarkozy ließ sich das Gelände bezahlen, bevor dort die historische Arbeit aufgenommen werden konnte. Der Sozialist Bourquin lässt kein gutes Haar an seinem konservativen Verhandlungspartner von einst - Sarkozy habe von einer Gedenkstätte zunächst nichts wissen wollen, erst im Wahlkampf 2012 habe er Rivesaltes für sich entdeckt und für ein paar werbetaugliche Fotos am Rande einer Stippvisite genutzt.
"Ich denke, ganz klar, dass er persönlich ein Problem mit Erinnerungsarbeit hat."
Allerdings war der Weg keineswegs frei, als in Paris die politische Farbe wechselte und die Sozialisten ans Ruder kamen. Auf den Fluren des Elysée seien ihm dieselben Beamten begegnet, die das Projekt schon seit Jahren blockiert hätten, weil es zu viele Wunden der französischen Geschichte aufzureißen drohte. Aber auch daheim, in der Region Languedoc-Roussillon habe es immer wieder den ein oder anderen gegeben, der sagte, lasst uns das heiße Eisen Rivesaltes nicht gerade jetzt anpacken.
Ich habe gekämpft, habe Widerstand geleistet, sagt Bourquin, der sich mit seinem Team nun an die internationale Arbeit machen will.
"Jetzt gibt es viel Arbeit, die vor uns liegt. Mit Spanien, mit Deutschland, mit der Schweiz, Israel, den USA."
Da im Laufe der langen Geschichte des Lagers Menschen aus 16 Nationen in Rivesaltes untergebracht waren, gibt es viele Archive zu durchforsten, Namenslisten zu vergleichen, Dokumente zu sammeln. Die Forscher stehen erst am Anfang ihrer Arbeit.
Die Bevölkerung ist inzwischen mit großer Mehrheit für die Erinnerungsstätte. Aus Spanien kommen bereits Schulklassen über die Berge in die Gegend, die pädagogische Arbeit hat begonnen. Anders als andere Lager in Frankreich soll Rivesaltes nicht vergessen werden.
"Es gab bei der Befreiung Frankreichs 1944 natürlich die Spuren der Internierungslager. Aber die wurden schnell vergessen, vor allem die, die auf Initiative des französischen Staates unterhalten und errichtet worden waren."
Der Regionalpräsident der Region Languedoc-Roussillon lehnt sich zurück und sagt, wenn die Erinnerungsstätte erst einmal eröffnet ist, kann keiner mehr sagen: "Ach, erklär mir das mit dem Lager doch später."
Spanische Bürgerkriegsflüchtlinge, Juden, Algerien-Kämpfer, deutsche und österreichische Kriegsgefangene, jeder könne in Rivesaltes, an ein und demselben Ort, vom anderen lernen, sagt Historiker Peschanski.
"Jeder, der mit seiner eigenen Geschichte hierherkommt, kann die Geschichten des anderen entdecken, das ist eine außergewöhnlich humanistische Geste!"
Wir befinden uns, an einem Ort, erklärt Peschanski, an dem sich an ein und derselben Stelle verschiedene Geschichten nacheinander abgespielt haben. Das sei einzigartig in Europa. Verschiedene Geschichten im Laufe der Historie. Das heiße, verschiedene Erinnerungen, eine außergewöhnliche Chance.