Ralf Krauter: Mein Kollege Volkart Wildermuth beobachtet das Feld schon lange. Zunächst einmal: Was ist RNA-Interferenz genau?
Volkart Wildermuth: Ein Gen ist erst einmal nur gespeicherte Information. Damit sie etwas bewirken kann, muss diese Information in ein Protein umgesetzt werden, in ein Enzym, ein Hormon oder in zelluläres Baumaterial. Zwischen dem Gen und den Proteinfabriken braucht es einen Informationsüberträger und das ist eine lange Boten-RNA eine Kopie der DNA. Die ist der Schlüssel zur Aktivität eines Gens. Deshalb wird sie sehr genau kontrolliert unter anderem über die RNA-Interferenz. Beim Menschen spielt sie bei fast einem Drittel der Gene eine Rolle. Dabei bildet die Zelle in bestimmten Phasen sehr kurze RNA-Stücke, die dann eine Art Schere aktivieren, die ganz bestimmte Boten-RNAs zerstören und das Gen damit abschalten. Das Schöne daran ist, solche kurzen RNAs kann man auch künstlich herstellen und damit Gene von außen regulieren. Das Konzept ist fast zwanzig Jahre alt, jetzt hat es sich erstmals bewährt.
Es geht um eine recht seltene Erbkrankheit
Krauter: Warum hat das denn so lange gedauert, bis zur ersten Zulassung einer Therapie auf Basis der RNA-Interferenz?
Wildermuth: RNA ist außerhalb der Zelle nicht besonders stabil. Man muss also einen Weg finden, sie sicher an den Ort des Krankheitsgeschehens zu bringen. Viele Unternehmen konzentrieren sich auf Augenleiden, da kann man die RNA relativ einfach per Spritze verabreichen. Die erste Zulassung gab es aber bei der Familiären Amyloidpolyneuropathie. Bei diesem Erbleiden lagert sich ein Protein, das eigentlich Schilddrüsenhormone durchs Blut transportieren soll, als Eiweißschrott in den Nerven ab. Es kommt zunächst zu Missempfindungen in den Beinen, später breiten sich die Probleme aus, es kommen Schmerzen und Lähmungen dazu, etwa zehn Jahren nach Auftreten der ersten Symptomen sterben die Patienten. Das defekte Eiweiß wird in der Leber gebildet. Deshalb hat das Unternehmen Alnylam, übrigens mitgegründet von Thomas Tuchel, einem deutschen RNAi-Forscher der ersten Stunde, das Unternehmen hat die kurze RNA also in ein Fettbläschen verpackt. Dafür fühlt sich die Leber zuständig, nimmt es auf, und die kurze RNA kann die schädliche Genaktivität blockieren. Die Patienten bekommen alle drei Wochen eine Infusion, und sie hatten danach tatsächlich mehr Kraft, weniger Schmerzen, nahmen Gewicht zu und konnten weiter laufen. Für die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA Grund genug für die Zulassung.
Krauter: Es geht ja um eine recht seltene Erbkrankheit. Das Medikament hat also nur einen kleinen Markt, wie hoch sind denn da die Behandlungskosten?
Wildermuth: Die sind bei solchen Medikamenten für seltene Krankheiten oft hoch, in diesem Fall 345.000 Dollar im Jahr. Alnylam sagt aber, die Entwicklungskosten waren hoch, die müssen wieder hereinkommen. Außerdem, und das finde ich wirklich beachtlich: die vollen Kosten fallen nur an, wenn das Medikament auch funktioniert. Jeder Patient wird vor der Behandlung untersucht, und wenn die Krankheit nach neun Monaten weiter fortgeschritten ist, dann gibt es Geld zurück. Das dürfte für die Krankenkassen doch ein Argument sein, die Kosten zu übernehmen. Und auf Seiten des Unternehmens zeigt es eine gehörige Portion Selbstbewusstsein. Dieses wurde an der Börse übrigens nicht honoriert. Überraschenderweise fiel die Akte von Alnylam nach der Zulassung, wohl weil das RNA-Medikament vorerst nur erwachsenen Patienten gegeben werden darf, die bereits Symptome zeigen. Alnylam wollte eigentlich schon vorbeugend behandeln, bevor es zu Schäden kommt. Da wäre der Patientenkreis etwas größer. Aber ob das etwas bringt, dazu gibt es eben noch keine Studien
Krauter: Bei dem hohen Preis muss man natürlich auch nach Alterativen fragen, gibt es die?
Wildermuth: Tatsächlich ist in Europa schon länger ein Medikament zugelassen, dass das defekte Eiweiß stabilisiert und den Krankheitsverlauf so verlangsamt. Eine neue Studie aus diesem Jahr zeigt, dass das Medikament auch eine andere Variante der Krankheit positiv beeinflusst. Mit rund 14.000 Euro für die Monatspackung ist es halb so teuer, wie die RNA-Interferenz, aber die soll effektiver sein. Demnächst werden die Patienten noch mehr Auswahl bekommen, weil andere Unternehmen noch weitere Wirkstoffe in klinischen Studien haben.
RNA-Interferenz ist nur ein Weg, auf dem sich die Genaktivität beeinflussen lässt
Krauter: Werden denn nach dieser ersten Zulassung schnell weitere ähnliche Medikamente folgen?
Wildermuth: Darauf können die Patienten hoffen. Ich würde den Blick etwas weiter fassen, die RNA-Interferenz ist nur ein Weg, auf dem sich die Genaktivität beeinflussen lässt. Es gibt auch sogenannte Antisense-Moleküle, die über einen etwas anderen Mechanismus ganz ähnliche Effekte erzielen. Da ist in Europa zum Beispiel ein Medikament gegen eine Form des Muskelschwundes zugelassen. Auch für die Familiäre Amyloidpolyneuropathie ist ein solches Antisense-Medikament in der Erprobung.
Dieser ganze Ansatz, also bei Erbkrankheiten nicht den Gendefekt selbst anzugehen, sondern die Aktivität der Gene auf RNA-Ebene zu beeinflussen, der hat viel Potential. Eine RNA für eine neue Erbkrankheit maßzuschneidern, ist heute kein Problem. Die Hürde war, sie im Körper an der richtigen Stelle zu aktivieren und da gibt es langsam Lösungen, die sich wohl auch auf andere Krankheiten übertragen lassen. Es gibt klinische Studien zur Makula-Degeneration einem Augenleiden, zu Chorea Huntington einer Krankheit des Gehirns, zu verschiedenen Erbleiden, bei denen die Leber zentral ist. Tumoren sollen so angegangen werden aber auch Viren wie etwa Ebola oder HIV. Es wird also sicher nicht noch einmal 20 Jahre dauern, bis aus einer Idee ein zugelassenes Medikament wird.