Robert Ashley: "Dust"
* Musikbeispiel: Robert Ashley - "It's Easy" aus "Dust" Guten Morgen, auf den ersten Eindruck hin handelt es sich bei dieser "It's-Easy,-it's-fun"-Musik um eine höchst traditionelle, höchst tonale, Tonika, Subdominante, Dominante, Tonika abschreitende Musik für eine Frauenstimme und sanfte E-Gitarrenklänge aus einem Synthesizer. Es scheint um leichte Unterhaltung zu gehen. Aus der Nähe und im Kontext gesehen aber handelt es sich bei diesem Ausschnitt aus Robert Ashleys "Opera" um neue experimentelle Musik der New Yorker Szene in den USA. Robert Ashley, 1930 in Michigan, im sogenannten Mitwesten der USA, geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen, hat in der State University of Michigan Musiktheorie und Komposition studiert, hat sich in seiner abwechslungsreichen Laufbahn als Komponist, Interpret, Librettist und Produzent seiner "Operas" schon früh mit musikszenischen Zusammenhängen beschäftigt. Zu Raumtheaterkonzeptionen von Milton Cohen und zu Filmen von George Manupelli fügte er Klangebenen hinzu und entwickelte elektronische Musiktheaterarbeiten mit Titeln wie "Combination and Funeral" und "Morton Feldman Says". 1967 erprobte er sich an einer eher traditionellen Bühnenoper und seit 1976 kreist sein Planen und Realisieren um eine Vorstellung von "TV Opera", die sich mit Fernsehoper nur schlecht ins Deutsche übersetzen ließe. Die letzte derartige TV Opera, deren Libretto und Musik von Ashley stammen, trägt den Titel "Dust" - Staub -, ist 1998 im Auftrag der Kanagawa-Kunst-Stiftung und von Dorothea Tanning entstanden und im November 1998 in Yokohama im Konzertsaal der Kanagawa-Präfektur uraufgeführt in Zusammenarbeit mit dem visuellen Künstler Yukihiro Yoshihara. 1999 wurde das Stück beim Warschauer Herbst-Festival und beim Musikprotokoll des Steirischen Herbst-Festivals und im New Yorker Kitchen aufgeführt, bei welcher Gelegenheit das Stück für das New Yorker Label Lovely Music aufgezeichnet wurde. Seit Anfang 2000 ist "Dust" von Robert Ashley auf einer Compactdisc von Lovely Music, 10 Beach Street, New York auf dem Markt und über www.lovely.com erhältlich. Bei der Uraufführung in Yokohama und bei der Grazer Aufführung sind Programmbücher erschienen, die den gesamten Text des Stücks im Original und in Übersetzungen in Japanische und ins Deutsche wiedergeben. Die Platte selbst enthält leider nichts davon, nur eine kurze Beschreibung der Szenerie und die Zuordnung der Stimmen zu den fünf Rollen. Die TV Opera "Dust" - Staub - aber ist, auch nach der Plattenaufnahme geurteilt, keine bloße Unterhaltungsmusik. In den sieben Abschnitten des ersten Teils werden aus sieben verschiedenen Perspektiven Geschichten in einer ausgesprochen alltäglichen Sprache von Außenseitern, Obdachlosen, Verarmten und Vereinsamten wiedergegeben. Im vierten Teil von "Dust" faßt die Interpretin nach einer rüden Aufzählung davon, wie sie ihre nächste Umgebung einschätzt, zusammen, worum es beim Überleben unter anderem geht: "Talk, talk, talk, practicing talk. Learning to talk. Dirty words. You got to learn the dirty words, Just practicing. Talk, talk, talk." * Musikbeispiel: Robert Ashley - "If There's Anything" aus: "Dust" Es geht also um Worte, um Worte im Kopf, um Worte im Monolog, um Worte mit ihren Echos von anderen. Im ersten Teil "Friends" werden Geschichten von fünf im Park lebenden Obdachlosen erzählt, die sich immer wieder treffen, die Geschichte von einem reichen Typ zum Beispiel, der bei einem berühmten Maler ein Porträt seiner Frau in Auftrag gibt und was daraus wird: * Musikbeispiel: Robert Ashley - "Friends" aus "Dust" Im zweiten Teil wird aus der Perspektive eines Typen erzählt, dessen Bezugspersonen eine Beziehung zur Theosophie haben: * Musikbeispiel: Robert Ashley - "Theosophy" aus "Dust" Schon der dritte Teil hat sozusagen ein Element "künstlicher Paradiese". In ihm wird aus der Perspektive eines Erfolgslosen erzählt, der einen Pfarrer einer heruntergekommenen Kirche kennt, abends zu ihm geht und sich wie "im Himmel" fühlt. * Musikbeispiel: Robert Ashley - "The Priest" aus "Dust" Den härteste Worttext aber bietet der fünfte Teil mit dem Titel "The Little Gun". Hier werden Gewaltphantasien ausgelebt - mit Worten: * Musikbeispiel: Robert Ashley - The Little Gun" aus Dust" Das härteste Schicksal spiegelt sich schließlich in der Geschichte von dem Mann ohne Beine mit dem Titel "No legs", seinen halluzinatorischen Erfahrungen im Krieg und im Krankenhaus, seine Zwiesprache mit Gott unter dem Einfluß von Morphium: · Musikbeispiel: Robert Ashley - "No legs" aus "Dust" Nach den Ausschnitten aus diesen fünf verschiedenen Geschichten, denke ich, ist das Gemeinsame und das Spezifische der Einzelheiten erkennbar geworden. Auf der Bühne dieser TV Opera stehen in diesem Fall fünf Interpreten, Ashley selbst, sein Sohn Sam Ashley und Thomas Buckner und Jacqueline Humbert sowie Joan LaBarbara in den beiden Frauenrollen. Jeder hat seinen Abschnitt allein vorzutragen. Im Hintergrund über eine von Tom Hamilton betreute digitale Zuspielung ist ein Akkord- und ein taktmetrisches Gerüst wahrnehmbar, in das die Interpreten den Text einfügen. Dabei wird nicht nur gesungen, sondern auch gesprochen und auch ein Gesangston in Sprechen überführt und umgekehrt. Dazu kommen - ebenfalls auf der digitalen Zuspielung vorproduziert - von einzelnen Stimmen hinzugefügte Echozeilen mit einem Harmonizer in einen "chorus" aufgefächert. Für das Verständnis erschwerend und zugleich ein klanglich reizvolles Spezifikum ist die Stimme von Robert Ashley selbst, die leicht zu erkennen, aber schwer verständlich ist. Ashley spricht einen starken Akzent, den sogenannten Midwest Drawl und er moduliert Sprache zu einem ganz eigenartig melancholischen Singsang. Natürlich spiegelt sich Ashley in seinen Stücken, so auch in "Dust". Er hat selbst die notwendige Recherche vorgenommen, hat mit den fünf Charakteren aus einem New Yorker Park gesprochen, gesprochen und gesprochen, selbst das Libretto aus deren Geschichten aufgeschrieben und in die Form gebracht, in der sie in einem einzigen durchlaufenden Strom von Worten aufgeführt werden.