Im Alter von kaum 14 Jahren erlebte Robert Cecil, der am 14. September 1864 in London in eine der einflussreichsten Familien Englands geboren wurde, die traditionelle Großmachtdiplomatie aus nächster Nähe mit: 1878 begleitete er seinen Vater, den konservativen Außenminister Salisbury, zum Berliner Kongress, wo Otto von Bismarck und Benjamin Disraeli die Hauptrollen spielten und das prekäre europäische Gleichgewicht austarierten. 40 Jahre später, am Ende des Ersten Weltkriegs, war Cecil in Europa der leidenschaftlichste Verfechter einer radikalen Abkehr vom hergebrachten Denken in Mächtegruppen und Interessensphären. Am 12. November 1918, einen Tag nach dem Waffenstillstand mit dem besiegten Deutschland, forderte er in der Universität von Birmingham eine völlig neuartige Friedensordnung:
"Wir haben dafür gekämpft, die verderbliche und unwahre Idee einer exklusiven nationalen Moral auszulöschen, um an ihre Stelle etwas Besseres zu setzen. Der Frieden kann der Welt nicht durch eine mächtige Allianz der Sieger aufgezwungen werden, er kann nur durch ein allgemeines Abkommen, eine Vereinigung der Nationen gesichert werden. Wenn der Bund der Völker nur ein Traum bleiben sollte, ist es schwer, nicht zu verzweifeln."
Lehre aus dem Ersten Weltkrieg
Wenn es auch zu keinem Verständigungsfrieden kam, so gelang es 1919 doch immerhin, gegen starke Vorbehalte einen Völkerbund zu gründen, der sich in den 20er Jahren als nützliches Instrument der internationalen Entspannung erweisen sollte. Im Ausschuss für Völkerbundfragen der Pariser Friedenskonferenz war Robert Cecil neben dem gleichgesinnten amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson die dominierende Figur. Ein Mitglied der amerikanischen Delegation erinnerte sich:
"Dass das Statut des Völkerbundes mit den politischen Realitäten rechnete, statt sie zu ignorieren, hat sich in den folgenden Jahren gezeigt - diese Qualität des Statuts war zum großen Teil der Klugheit von Lord Cecil zu verdanken."
Seit 1915 hatte sich Cecil innerhalb der britischen Regierung unermüdlich für den Völkerbundgedanken eingesetzt, der bis dahin nur in linken Zirkeln diskutiert worden war. Cecil griff dieses Konzept auf, da in seinen Augen der Ausbruch des Weltkriegs, jenseits der konkreten Schuldfrage, ein völliges Versagen der traditionellen Geheimdiplomatie bedeutete. Für den tief religiösen Konservativen bedeutete der Weltkrieg eine Zeitenwende: Das Massenmorden an der Front nannte Cecil eine "Schande für die Christenheit", durch die er die bürgerlich-aristokratische Gesellschaftsordnung an sich infrage gestellt sah. Ein Jahrzehnt später erinnerte sich Cecil:
"Der Krieg wurde weithin als Beweis dafür gesehen, dass den alten sozialen und politischen Gesetzen nicht mehr vertraut werden konnte. In meinem Wahlkreis traf ich selbst bei den normalerweise gutmütigen Landbewohnern auf einen starken Drang zu Revolte und Revolution. Für den einfachen Wähler waren Institutionen, die eine solche Katastrophe wie den Weltkrieg hervorgebracht hatten, von Grund auf im Unrecht. Dieser Krieg hatte das Ansehen der regierenden Klassen Europas zerschmettert. Wenn wir die Gesellschaft retten wollen, (…) ist ein Bund der Völker der einzige plausible Ausweg, unsere einzige Chance."
Vergeblich eine kollektive Sanktionspolitik gefordert
Cecils Glaube an die friedenssichernde Kraft des Völkerbunds war nicht idealistisch-versponnen, sondern eher nüchtern-pragmatisch: Er hoffte, dass in künftigen Krisen eine Kombination aus institutionalisierter Konferenzdiplomatie, Rechtsfindung und Streitschlichtung den nötigen Zeitgewinn bewirken werde, um den Friedenswillen der Völker durch die internationale öffentliche Meinung zur Geltung zu bringen. Zudem sollte der wesentlich auf Cecil zurückgehende effektive Sanktionsmechanismus des Völkerbundstatuts auf Aggressoren abschreckend wirken.
Doch als in den 30er-Jahren Italien und Deutschland auf einen imperialistischen Kurs einschwenkten, setzte die konservative britische Regierung zu Cecils großer Enttäuschung auf bilaterale Großmachtdiplomatie und Beschwichtigung. Cecil warnte vor der Hinnahme von Rechtsbrüchen und forderte vergeblich eine kollektive Sanktionspolitik gegen Aggressoren.
Der Legende, der Völkerbund habe sich als Instrument der Friedenssicherung nicht bewährt, trat der 1937 mit dem Friedensnobelpreis geehrte Robert Cecil bis an sein Lebensende 1958 entgegen:
"Es ist nicht so, dass man ihn erprobt und für untauglich befunden hätte, sondern man fand ihn unbequem und hat ihn nicht erprobt."