2008 war der Wendepunkt: Seither leben weltweit mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Städte sind Anziehungspunkte und Sehnsuchtsorte, sie wachsen und wuchern. Sie tun dies auf der Welt sehr unterschiedlich - es gibt etwa den chinesischen "Hochgeschwindigkeitsurbanismus", wie Robert Kaltenbrunner und Peter Jakubowski es nennen. Oder die "Armutswucherungen der Dritten Welt", wo Slums und Luxusviertel aufeinanderstoßen.
Doch auch viele unserer alten, traditionellen Großstädte stehen nach Ansicht der Autoren vor neuen Wachstumsschüben:
"In Frankfurt, Köln, München oder Berlin wühlt das derzeitige Baufieber den gegelten Glanz vieler zwischenzeitlich zur Ruhe gekommener Stadtviertel auf. Es gibt wieder Landschaften von Baustellen und halbfertigen Häusern. […] Die Stadtbewohner ächzen unter diesen Wachstumsschmerzen und möchten lieber nichts von der neuen Stadtlust wissen. Und zugleich sprechen Planer und Stadtpolitiker vom Sexappeal, einer Renaissance der Städte."
Urbanisierung bringt Konflikte mit sich: Wohnungen werden knapp und teuer, manche Bevölkerungsschichten werden aus ihren angestammten Vierteln verdrängt. Andererseits ist Urbanisierung auch eine Chance. Denn wo gebaut wird, kann gestaltet werden.
Von Gentrifizierung bis Grünflächen
Fragt sich nur, wie die Städte der Zukunft aussehen sollen. Wie können Wohnungen bezahlbar bleiben, wie müssen Grundrisse aussehen, die für Familien ebenso funktionieren wie für Senioren oder Studenten? Was tun gegen Luftverschmutzung und Verkehrsinfarkt?
Der Architekt Robert Kaltenbrunner und der Volkswirt Peter Jakubowski arbeiten beide im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. In ihrem Buch liefern sie zunächst eine umfassende Bestandsaufnahme. Sie analysieren die Elemente des Urbanen von Grund auf: Es geht um städtische Plätze mit Aufenthaltsqualität, um die Fehler von Verkehrsplanern, die stets dem Auto die Vorfahrt gaben, um die widersprüchlichen Facetten der Gentrifizierung, um Grünflächen und Heimatgefühle, um öffentliche Sicherheit und um die Frage, wie viel Tourismus eine Stadt ertragen kann.
Nicht einmal das Unterirdische einer Stadt lassen die Autoren unerwähnt:
"In der Stadttechnik, mag sie auch noch so sehr im Verborgenen wirken, liegt eine entscheidende Triebfeder der Urbanisierung. […] Aborte und Kanalquerschnitte, Gaslaternen und Stromnetze, Absatzbecken und Pumpwerke, Schwemmkanalisation und Aufbau der Radialsysteme: Das sind entscheidende Schlagworte - nicht bloß in der Geschichte, sondern auch für die Zukunft der Stadt."
Vom Straßennetz über die Kloake bis hin zum Internet: Die sogenannte graue Infrastruktur muss zuverlässig funktionieren.
Gelingendes Stadtleben
Die Analyse, die Robert Kaltenbrunner und Peter Jakubowski vorlegen, ist im besten Sinne interdisziplinär. Sie bringen nicht nur ihre eigenen Fachgebiete Architektur, Stadtplanung und Volkswirtschaft mit ein.
Sie schöpfen auch aus den Erfahrungen der Baugeschichte; und sie zitieren zahlreiche Experten: Soziologen und Verkehrsplaner, aber auch Philosophen, Psychoanalytiker, Pädagogen, Schriftsteller. Menschen, die etwas zum Gelingen des Stadtlebens beitragen können. So entsteht eine Vorstellung davon, was das gute Leben in der Stadt braucht:
"Entschleunigung, Fußläufigkeit, Klein-Maßstäblichkeit und viel Stadtgrün. Und das Fernziel: die großen Metropolen in kleine, übersichtliche Nachbarschaften auflösen."
Doch wartet dieses Buch angenehmerweise nicht mit Patentrezepten auf. Vielmehr zeigen die Autoren, welche Entwicklungen problematisch sind und wo bereits gute Lösungen ausprobiert werden. Beispiel Fahrradverkehr in Kopenhagen:
"Eine Fußstütze an der Fahrradampel erleichtert Radlern […] das Warten bei Rot […]. An zentralen Kreuzungen stehen öffentliche Luftpumpen. […] Die Fahrradwege selbst sind breit angelegt. […] Mitunter gibt es gesonderte Fahrradbrücken, um den Verkehr unabhängiger von Autoströmen zu machen."
Städte brauchen öffentlichen Raum
Das ganze Buch liest sich auch wie ein Plädoyer für mehr politische und stadtplanerische Gestaltungsmacht: Es sollten nicht allein die Investoren, die Immobilienkonzerne und Shopping-Mall-Betreiber sein, die über die Entwicklung der Städte entscheiden.
Marketing allein macht eine Stadt nicht lebenswert. Im Gegenteil. Öffentliches und urbanes Leben, das machen die Autoren deutlich, ist etwas anderes als das Flanieren in einem Einkaufszentrum - das eben kein öffentlicher Raum mehr ist, sondern das Eigentum eines Unternehmens, das dort über Hausrecht verfügt.
"Hier entstehen Surrogate des öffentlichen Raums, aus denen alle negativen Erscheinungen des städtischen Lebens ausgesperrt werden: Die Witterung und der Straßenverkehr, aber auch bestimmte Bevölkerungsgruppen. Diese Räume gehören also nicht mehr allen, können nicht mehr von allen genutzt werden, weil in diesem Konzept von Raum nur noch da sein soll - und eingelassen wird - wer gleichsam als Puzzleteil eines Business-Cases eingeplant ist."
Diese Entwicklung halten die Autoren für gefährlich. Weil der öffentliche Raum "das Rückgrat unserer Städte" ist, wie Kaltenbrunner und Jakubowski schreiben.
Wer verstehen will, warum sich Städte wie entwickeln, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt. Es ist gut geschrieben, die Lektüre ist kurzweilig und erkenntnisreich. Dazu gehört auch die alte Einsicht, dass Städtebau ein langwieriges Geschäft ist. Was in zehn oder zwanzig Jahren vorhanden sein soll, muss heute geplant und entwickelt werden. Die Stadt der Zukunft wird also in der Gegenwart gestaltet.
Dass die Städte weiterwachsen werden, steht bereits fest. Die Frage ist nur noch, wie sie das tun.
Robert Kaltenbrunner, Peter Jakubowski: "Die Stadt der Zukunft. Wie wir leben wollen",
Aufbau Verlag, 364 Seiten, 20,00 Euro.
Aufbau Verlag, 364 Seiten, 20,00 Euro.