Robert Menasse hat eine Vision: Er träumt von der finalen Überwindung des Nationalismus in einem großen, geeinten Europa.
"Das hat ja die Geschichte gezeigt: Der Nationalismus hat Europa in Schutt und Asche gelegt, er hat die größten Menschheitsverbrechen bewirkt – Millionen Tote, die Zerstörung der europäischen Kultur, die Zerstörung der europäischen Infrastruktur, das musste alles wieder mühsam aufgebaut werden, und das war eben die Lehre der Gründer des europäischen Vergemeinschaftungsprojekts, dass das nie wieder passieren soll, dass der Nationalismus überwunden werden muss."
"Die Nationalstaaten werden sterben," prognostiziert Menasse in seinem neuen Buch, einer Sammlung von dreizehn Reden und Vorträgen, allesamt zum Thema Europa:
"Die Nationalstaaten werden sterben. Und die nationale Demokratie wird sterben. Denn in transnationale Prozesse kann nur eine transnationale Demokratie gestaltend eingreifen."
Robert Menasse hat auch schon präzise Vorstellungen, wie eine neue, transnationale Demokratie auf europäischem Boden aussehen könnte:
"Das Kontinuum in der Geschichte – was Einheiten betrifft, die auch politische Verwaltungseinheiten sein können – ist die Region. Und die Regionen haben den Vorteil, dass sie alle gleich groß sind und in subsidiärer Demokratie wirkliche Bürgerpartizipation ermöglichen, den Zentralismus aushebeln, den ja auch kein Mensch will."
Konkret formuliert: Menasse entwirft in seinem Buch die Utopie einer Europäischen Union, in der sich starke, identitätsstiftende Regionen wie Flandern, Hessen, Schlesien, Tirol, Nordjütland, der Alentejo, die Lombardei und Dutzende, wenn nicht hunderte andere zusammenschließen – unter Umgehung der traditionellen Nationalstaaten. Mehr noch: Menasse träumt davon, dass Staatsgebilde wie Frankreich, Spanien, Belgien, Österreich und natürlich auch die Bundesrepublik Deutschland sich über kurz oder lang auflösen:
"Das ist die logische Entwicklung. Und jeder Mensch, der genauer hinschaut auf die europäische Realität, weiß, dass das längst so angelegt ist."
Klingt doch etwas utopisch
Das alles klingt aus heutiger Sicht doch etwas utopisch. Ob europäische Entscheidungen einfacher werden, wenn nicht mehr 28 Regierungschefs zusammensitzen, sondern zwei- bis dreihundert Regionspräsidentinnen und –präsidenten, das ist doch sehr die Frage. Menasse zeigt sich gleichwohl davon überzeugt, dass ihm die historische Entwicklung über kurz oder lang Recht geben wird. Er verweist in seinem Buch – einigermaßen überraschend für einen Linken – auf ein historisches Vorbild, von dem sich die EU, so meint er, einiges abschneiden könnte:
"Die Habsburgermonarchie war im Grunde ein Netzwerk, das kleinen Ländern und ihren Bewohnern bei all ihren kulturellen Unterschieden Schutz und Entwicklungsmöglichkeiten bot, indem sie für Sicherheit in einem verbindlichen Rechtszustand und für gemeinsame Rahmenbedingungen sorgte und Ressourcen zur Verfügung stellte, die für alle wichtig waren: Straßen, Eisenbahnlinien, Parlamente, Gesetze und Polizei, Bildung, und eben den zentralen Beamtenapparat, um das alles zu verwalten. Alleine und jedes für sich hätten sich die kleinen Länder nicht behaupten können – wie sich später ja auch erwies. Und für die Juden, die einzige Ethnie ohne eigenes Territorium, war die Donaumonarchie der schönste Wartesaal bis zur Ankunft des Messias, so sie überhaupt noch daran glaubten."
José Manuel Barroso weint er keine Träne nach
Auch wenn man manche Einschätzungen Robert Menasses nicht teilt, sein EU-Buch – blendend geschrieben, wie immer – ist eine anregende und immer wieder amüsante Lektüre, eine Lektüre, die zum Nach- und Weiterdenken anregt. Menasse beschäftigt sich mit dem Erbe des europäischen Faschismus, er schreibt über die politischen Erfahrungen seiner Großmutter, die fünf verschiedene Systeme er- und überlebt hat – vom habsburgischen Kaiserreich bis zur zweiten österreichischen Republik –, und er arbeitet sich an den Niederungen der aktuellen EU-Politik ab. José Manuel Barroso, dem abgetretenen EU-Kommissionspräsidenten, weint der Wiener Schriftsteller keine Träne nach:
"Barroso war vollkommen abhängig von den nationalen Staats- und Regierungschefs. Er hat schwere Fehler in seiner Willfährigkeit gegenüber den nationalen Staatschefs gemacht."
In seiner kriecherischen Unterwerfung unter den Willen der Staats- und Regierungschefs habe Barroso den europäischen Gedanken systematisch hintertrieben, meint Menasse.
"Wenn es schon eine europäische Verfassung gegeben hätte oder gäbe, und wenn Barroso auf sie vereidigt worden wäre, dann müsste man ihn heute eigentlich vor Gericht stellen: Er hat dem europäischen Gedanken schweren Schaden zugefügt."
Jean-Claude Juncker dagegen, der neue EU-Kommissions-Präsident, ist in den Augen Menasses ein Hoffnungsträger.
"Bei Juncker habe ich die Hoffnung, dass er das anders machen wird, dass er die Kommission stärker positionieren wird gegenüber dem Europäischen Rat und die Macht der nationalen Staats- und Regierungschefs eher wieder ein bisschen zurückdrängen wird, was notwendig ist, um wirklich zu Gemeinschaftslösungen zu kommen im Hinblick auf Probleme, die nur noch gemeinschaftlich gelöst werden können."
In seinem jüngsten, meinungsstarken Buch präsentiert Robert Menasse sich zuspitzungsfreudig wie eh und je. Eine belebende, teils provozierende Lektüre für jene, denen die Zukunft unseres Kontinents am Herzen liegt.
Robert Menasse:"Heimat ist die schönste Utopie. Reden (wir) über Europa"
Edition Suhrkamp. 176 Seiten, 10 Euro
Edition Suhrkamp. 176 Seiten, 10 Euro