"Den Kopf gesenkt, den Körper in eine warme Wolldecke gewickelt, saß Gustav Mahler auf dem eigens für ihn abgetrennten Teil des Sonnendecks der Amerika und wartete auf den Schiffsjungen. Das Meer lag grau und träge im Morgenlicht. (…) Er saß auf einer Kiste aus Stahl, mit dem Rücken an die Wand eines Deckcontainers gelehnt, und spürte das dumpfe, gleichmäßige Hämmern der Schiffsmotoren unter sich."
Der sterbenskranke Komponist Gustav Mahler im Frühjahr 1911 auf einem Schiff – unweigerlich beschwört dieser Anfang literatur- und filmgeschichtliche Erinnerungen herauf. Etwa an Viscontis kongeniale Verfilmung von Thomas Manns Schriftsteller-Novelle "Der Tod in Venedig". In deren angeschlagenen Haltungs-Helden Gustav von Aschenbach hatte Thomas Mann bereits die Züge Mahlers eingeschrieben. Visconti wiederum hatte seiner Verfilmung Musik Gustav Mahlers als seelenaufwühlenden Soundtrack unterlegt. Nimmt man etwa noch Filme wie Ken Russells "Mahler" aus dem Jahr 1974 oder Percy Adlons "Mahler auf der Couch" von 2010 hinzu, wird deutlich: Robert Seethaler bewegt sich in seinem neuen, wie gewohnt sehr schlanken Roman diesmal auf einem bereits prominent besetzten und hoch bedeutsamen Gelände, während er bisher eher unauffällige oder randständige Figuren ins Zentrum seiner Geschichten gestellt hat, wie die verstorbenen Kleinstädter in seinem letzten Roman "Das Feld" oder den Hilfsarbeiter Andreas Egger in "Ein ganzes Leben". Nun also ein Chef der Musik, eine Promi-Persönlichkeit, zu deren Biographie es kaum Neues zu sagen gibt.
Sterbenskrank zieht Gustav Mahler Bilanz
Bei der Schiffsreise handelt es sich um die letzte Atlantik-Überquerung Mahlers. Nur wenige Wochen später wird der zuvor noch in New York gefeierte Komponist und Dirigent in Wien sterben. Der Roman besteht vor allem aus Erinnerungssequenzen, die in die fast ereignislose Rahmenhandlung der Reise eingefügt sind. Das wirkt zwanglos, denn dass sich Mahler, in Decken eingewickelt auf Deck sitzend, beim Blick auf den leeren Horizont seinen inneren Bildern überlässt, erscheint plausibel. Stationen seines Lebens passieren Revue.
Es sind Erinnerungen an Demütigungen und Tragödien, wie den frühen Tod seiner Tochter Maria, aber auch an Triumphe, wie die monumentale Erstaufführung der 8. Sinfonie, die vom Veranstalter auf den zirkushaften Namen "Sinfonie der 1000" getauft wurde. Mahler empfand die angeberische Formel als grundfalsch und peinlich.
Der Künstler als fragiles, unverstandenes Genie
Wie schon in den Geschichten von Thomas Mann hat die künstlerische Begabung ihre Schattenseite. Reizbare Sensibilität, Nervosität und Krankheit sind die Bedingung und der Preis der Kreativität. Seethaler beschreibt, wie der kleinwüchsige, fragile Mahler von Migräne, Schlaflosigkeit und anderem Körperelend geplagt wird.
"Er hatte sich nie gesund gefühlt. Es lag in der Familie: Von den dreizehn Geschwistern starben sechs im frühen Kindesalter, insofern konnte man das Kind Gustav schon als Überlebenden bezeichnen. Seit seiner Schulzeit litt er unter Migräne, Schlaflosigkeit, Schwindelanfällen, entzündeten Mandeln, schmerzenden Hämorrhoiden, einem gereizten Magen, einem unruhigen Herzen. 'Sie sollten sich ausruhen', hatte ein befreundeter Arzt vor Jahren zu ihm gesagt. 'Am besten ein Leben lang'."
Als Leistungsethiker, dessen Genie sich mit Willensstärke paart, schafft Mahler seine Werke und führt einen Kampf gegen viele Widerstände: gegen die begriffsstutzigen Musiker, gegen die ganze – wie es heißt – "verlogene und hinterfotzige Bande" der Wiener Hofoper, gegen die "Wächter des Althergebrachten", gegen unverständige Kritiker und nicht zuletzt gegen viele antisemitische Anfeindungen. Und setzt sich immer wieder durch.
"Innerhalb weniger Wochen sprach sich herum, dass etwas Außergewöhnliches vor sich ging, und natürlich wollten alle dabei sein. Die Wiener waren ein im Grunde heißblütiger Menschenschlag; unter dem Speckmantel der Gemütlichkeit brodelten gleichermaßen Begeisterung wie Empörung. Man wollte dabei sein. Man wollte mitreden. Vor allem aber wollte man diesen kleinen, zappeligen Juden sehen, der es aus unerfindlichen Gründen geschafft hatte, das beste und störrischste Orchester der Welt zu disziplinieren."
Ehefrau Alma wünscht sich einen 'richtigen' Mann
Aber ungeachtet aller Erfolge: Robert Seethaler schildert Gustav Mahler als Schmerzensmann. Von Bitterkeit durchzogen sind seine Gedanken an die junge Gattin Alma, eine ganz Wien in ihren Bann schlagende, von vielen Männern begehrte Frau. Mahlers geschwächter Körper wird vom Liebesschmerz gequält. Auch von dieser Ehekrise erzählt Seethaler mit seinem charakteristischen Pathos der Beiläufigkeit. Alma klagt, dass sie eigentlich immer nur gewartet habe auf den unaufhörlich beschäftigten, in Wahrheit mit der Musik vermählten Mahler. Nun hat sie seit einiger Zeit eine Affäre mit dem späteren Star-Architekten Walter Gropius, dem "Baumeister", wie Mahler ihn herablassend nennt. Ein richtiger Mann, deutet Alma nicht ohne Sadismus an:
"'Und ich werde dir jetzt nicht im Einzelnen ausführen, was genau ihn zum Mann macht. Er liebt mich, er möchte sein Leben mit mir verbringen. Er meint es ernst. Er hat einen sanften, traurigen Blick, sogar wenn er lacht, und das tut er oft. Er rührt mich. Weißt du, wie sich das anfühlt? Es ist wie ein neues Leben."
Erzählkniff des bedeutungsschweren "Lücke-Lassens"
"Nicht im Einzelnen ausführen" – das ist immer wieder auch die Devise von Seethalers Erzählkunst. Aber sind die Motive und Antriebe der Menschen wirklich immer so plakativ und holzgeschnitzt, wie es solche Sätze andeuten? Bisweilen wirkt Seethalers zur Formel neigende Schicksalslakonie doch sehr manieriert. Etwa hier:
"Es war ja ganz einfach: Ein Mann stirbt. Eine Frau lebt. Mehr gab es dazu nicht zu sagen."
Oder hier:
"Er sehnte sich nach Klarheit und Einfachheit. Die ersten Gedanken sind einfach, die letzten sind es auch. Nur dazwischen verliert sich alles."
So lässt Seethaler Gustav Mahler denken, dessen sinfonische Sprache unterdessen immer komplexer, vertrackter und ausufernder geworden war. Aber zur Musik Mahlers hat der Roman bedauerlicherweise nur wenig zu sagen.
Kaum ein Wort über Mahlers Musik
Stattdessen darf auch ein kleines Kapitel über Mahlers Begegnung mit Sigmund Freud nicht fehlen, in dem Seethalers Erzählverfahren noch einmal sehr deutlich wird. Der Autor versenkt sich nicht, Details und Dialoge erfindend, in solche legendären Szenen, sondern trocknet sie gleichsam aus, bis von ihrer vermeintlichen Bedeutsamkeit nicht mehr viel übrig bleibt, nichts außer ein paar scheinbaren Nebensächlichkeiten, wie Freuds irritierender Vitalität oder seinen Ermahnungen über die Zugluft in Eisenbahnwaggons. Die eigentlichen freudianischen Ausführungen über Mahlers Mutterkomplex bleiben dagegen ausgespart. Hinzuerfunden hat Seethaler eine Nebenfigur, die diesen Effekt des Lücke-Lassens noch einmal verstärkt, gerade weil ihr im Roman das Schlusswort bleibt: einen Schiffsjungen, der Mahler auf der Atlantik-Überfahrt den Tee bringt und andere Hilfsdienste verrichtet. Mahler führt mit ihm immer wieder kleine Gespräche, über das Meer oder die fliegenden Fische – aber nie über das, was sein Leben zutiefst bestimmte, die Musik.
Letztlich geht es Seethaler auch gar nicht darum, Mahlers Biographie gerecht zu werden. Leben und Krankheit des Komponisten dienen ihm vielmehr nur als Material und Folie, um mit Mahler exemplarisch eine Figur der Fremdheit zu inszenieren, fremd im Leben, sowohl im körperlich-biologischen wie im sozialen Sinn. Mahler als Mann, der in naher Erwartung des Todes mit Verzweiflung, Schmerz, aber auch Sehnsucht und einer gewissen Abgeklärtheit auf die menschliche Existenz blickt. "Der letzte Satz" hat viele vorletzte Sätze, die bei aller Lakonie im Pathos der großen Vergeblichkeit schwelgen.
Robert Seethaler: "Der letzte Satz"
Hanser Berlin, Berlin. 126 Seiten, 19 Euro.
Hanser Berlin, Berlin. 126 Seiten, 19 Euro.