Nein. In diesem Roman fliegen keine Raumschiffe durchs All. Ferne Welten werden dennoch erkundet, in doppelter Hinsicht. Der Leser mag sich versetzt fühlen in die ferne Welt der eigenen Jugend, die Welt des Abenteuers und der großen Verheißung namens Zukunft. Die Hauptfiguren von "Der Geist der Science-Fiction" wiederum verspüren eben jene Verheißung, erleben jeden Tag jenen unermesslich großen Zukunftsraum, der den Namen "Heute" trägt, erleben die Verheißungen des Tages und vor allem der Nacht, des Hier und Jetzt. Das "Hier" heißt Mexiko Stadt, und zwei junge Chilenen ist diese Stadt ein großes Versprechen, eine Befreiung zudem von einer ungenannten Vergangenheit. Astronauten tauchen gleichwohl ebenfalls auf.
"'Ich habe von einem Russen geträumt… Zuerst dachte ich, es sei Juri Gagarin, aber du kannst dir nicht vorstellen, was dann geschah… Der Russe schlüpfte in seinen Raumanzug und kehrte mir den Rücken zu. Er ging fort. Ich wollte ihm nachgehen, aber keine Ahnung, was mit mir los war, ich konnte nicht gehen. Da wandte sich der Russe noch einmal um und hob zum Abschied die Hand … Und weißt Du, wer er war, was er war?' - 'Nein.' - 'Ein Delphin… in dem Anzug steckte ein Delphin… Mir standen die Haare zu Berge.'"
Lichtes Dunkel
"Der Geist der Science-Fiction" beginnt mit einem Interview: Ein junger Schriftsteller erhält einen Preis für sein erstes Werk und wird von einer Journalistin befragt. Dass dieses Interview ein etwas anderes Interview darstellen und einen zumindest ungewöhnlichen Verlauf nehmen wird, machen schon die ersten Sätze deutlich, bringt die Journalistin das Gespräch doch gleich auf die Frage, was der Schriftsteller denn getrunken habe - Tequila -, um dann davon zu schwärmen, was für eine schöne Nacht es doch sei. Vom Ort der Preisverleihung aus habe man einen wunderbaren Ausblick auf die abgelegensten Dörfer und fernsten Sterne. "Eine optische Täuschung", erwidert der Schriftsteller,
"Wenn Sie genau hinschauen, werden Sie erkennen, dass die Fensterscheiben auf eine sehr eigenartige Weise beschlagen sind. Gehen Sie mal auf die Terrasse, ich glaube, wir befinden uns mitten im Wald. Wir können praktisch nur Äste und Zweige sehen."
Als Leser ist man also gleich zu Anfang gewarnt. Nicht alles, was man auf den folgenden zweihundert Seiten zu lesen bekommt, sollte man für bare Münze nehmen. Zugleich aber spricht diese kurze Szene dem Leser Mut zu. Mag der Blick zuweilen auch verstellt oder getrübt sein, die wahre Natur der Dinge lässt sich durchaus mit bloßem Augen erkennen. Man muss vielleicht nur einmal den Standpunkt, muss vom Salon auf die Terrasse wechseln.
Ob der Schriftsteller und die Journalistin dies wirklich tun, bleibt offen, ihr Interview aber dauert lange an. Es zieht sich durch das ganze Buch, unterbrochen von drei weiteren Handlungssträngen, wobei eine "Handlung" im Sinne fortlaufender Ereignisse nur einer dieser Stränge in sich birgt. Gleichwohl lässt er sich leicht als Hauptstrang oder erzählerisches Zentrum von "Der Geist der Science-Fiction" ausmachen:
Zwei junge Männer, der eine siebzehn Jahre alt, der andere einundzwanzig, sind gerade aus Chile nach Mexiko Stadt gekommen und haben sich in einer kleinen Wohnung auf dem Dach eines Hauses eingerichtet. Der jüngere heißt Jan, verlässt diese Wohnung praktisch nie und nimmt allein postalisch Kontakt mit der Außenwelt auf. Ganze Nächte hindurch schreibt er Briefe an hierzulande nicht unbedingt berühmte amerikanische Science-Fiction Autoren, an Alice Sheldon, James Hauer oder Philip José Farmer.
"Lieber Philip José Farmer, der Krieg kann durch Sex oder Religion gestoppt werden. Alles scheint darauf hinzudeuten, dass dies die beiden einzigen zivilen Alternativen sind. Lassen wir die Religion einstweilen beiseite. Bleibt noch der Sex. Versuchen wir, ihn einer nützlichen Verwendung zuzuführen. Erste Frage: Was können Sie im Besonderen und Science-Fiction-Autoren der Vereinigten Staaten im Allgemeinen in dieser Hinsicht tun? Ich schlage die sofortige Gründung eines Komitees vor, das sämtliche Anstrengungen bündelt und koordiniert. Als erste Maßnahme, müssen die zehn oder zwanzig Autoren in einer Anthologie gebündelt werden, die das Thema von körperlicher Liebe und Zukunft am radikalsten behandelt haben."
Die Spuren eines Symptoms
Jans Freund und Mitbewohner heißt Remo und hat ebenfalls literarische Ambitionen. Er läuft im Gegensatz zu seinem Freund geradezu euphorisch durch die große Stadt, wird schnell zum Mitarbeiter einiger Magazine und besucht bald einen Kurs für literarisches Schreiben an der Universität. Hier lernt er einen weiteren jungen Lyriker kennen, den unbändigen und überaus talentierten José Arco. Gemeinsam bilden Remo und Arco so etwas wie die Blaupause für Ulises Lima und Arturo Belano in "Die wilden Detektive". Geht es Lima und Belano in Bolaños Erfolgsroman allerdings darum, eine gewisse Cesárea Tinajero ausfindig zu machen, so finden Remo und José Arco ihre Dichterin recht schnell. Diese ältere Dame namens Estrellita ist allerdings nicht ihr eigentliches Zielobjekt, sie erhoffen sich von ihr lediglich Auskunft über ein rätselhaftes Phänomen, dem sie auf der Spur sind: Der sprunghaften Vermehrung literarischer Zeitschriften im Mexiko ihrer Zeit.
"'In "Mein Lustgarten" behauptet Don Ubaldo', fügte ich hinzu, 'es könnten bis zum Jahresende über tausend sein, Guinness-Buch-verdächtig.' - 'Möglich', Doktor Carvajal zuckte mit den Schultern, 'aber auch wenn dem so wäre, sehe ich nicht, was sie daran zu interessant finden.' - 'Es interessiert uns als Symptom.' - 'Als Symptom wofür?' - 'Als Symptom für die Revolution.'"
Auch darin erweist "Der Geist der Science-Fiction" der Genre-Literatur Reverenz, dass er sehr dialogisch angelegt ist. Dialoge erstens zu schreiben, zweitens aber vor allem Dialoge zu übersetzen ist eine sehr große, von wenigen beherrschte Kunst. Bolaño freilich beherrscht sie im Schlaf, aber auch seinem Übersetzer Christian Hansen gelingt es, die Natürlichkeit der Gespräche zu bewahren, wie er überhaupt sehr sicher und schlank übersetzt. Eine Reihe von kleineren Fehlern und Ungeschicklichkeiten ist denn auch eher dem Lektorat anzukreiden. So hätte man aus einer "billigen Supermarktkette" doch besser eine "Discounterkette" gemacht, aus einem "fuhr ich auf" ein "entfuhr es mir", aus einem Imperfekt in der wörtlichen Rede lieber ein alltäglicheres Perfekt, statt "als du noch schliefst" also "als du noch geschlafen hast".
Das Lächeln Mexikos
Wie dem auch sei, "Der Geist der Science-Fiction" also spielt mit verschiedenen Genre-Versatzstücken: Detektive kommen vor, wenn auch solche ohne Lupe und Revolver, Astronauten tauchen auf, wenn auch bloß in Träumen. Es finden zwar keine Verfolgungsjagden statt, doch immerhin lernt Remo von José Arco, wie man Motorrad fährt. Auch Sexszenen gibt es. Es passieren also lauter Dinge, die zumindest Anfang der achtziger Jahre, als Bolaño seinen Roman schrieb, nicht unbedingt mit schöner Literatur in Verbindung gebracht wurden. Wenngleich die Postmoderne schon längst Einzug gehalten hatte, wurde in Mexiko, wie überhaupt in der spanischsprachigen Welt, noch ein gewisser Konservatismus gepflegt, ein schöngeistiges Literatentum, gegen dass sich die "Infrarealisten" wendeten, eine Gruppe junger Dichter, zu dessen Wortführern neben Mario Santiago der junge Roberto Bolaño gehörte.
Dessen Zeit bei den "Infrarealisten" war zwar beschränkt - von 1975 bis 1977, dann reiste er nach Spanien aus -, aber sie war von entscheidendem Einfluss auf sein noch ungeschriebenes Werk - in ästhetischer Hinsicht einerseits, viel mehr aber noch als biographisch-energetischer Quell.
So ist es möglich, in vielen Figuren des Romans Züge realer Vorbilder zu erkennen, ja unter dem letzten Brief des Buches steht gar "Jan Schrella alias Roberto Bolaño". Einige der Handlungsorte wie das Café La Habana kann man auch heute noch aufsuchen, was allerdings nurmehr auf den Seiten dieses 1984 im katalanischen Blanes vollendeten Romans zu finden ist, ist die Atmosphäre, ist der rätselhafte Zauber jener Welt, die Bolaño hier beschwört, ein Zauber der sich nicht benennen, sondern nur mittelbar darstellen lässt.
"Ganz sachte drehte ich mich um. Ich wusste es. Jan stand am Fenster und schaute zu mir herunter. Ich winkte ihm. Jan rief etwas Unverständliches und schob sich bis zum Bauch nach draußen… Ich begann zu lachen. Die Passanten drehten sich nach mir um, dann schauten sie hoch und sahen Jan, der so tat, als streckte er ein Bein heraus, um nach einer Wolke zu treten. Das ist mein Freund, verkündete ich, wir sind erst seit ein paar Tagen hier. Er will mir Mut machen. Ich gehe mir gerade Arbeit suchen. Ah, phantastisch, was für ein guter Freund, sagten einige und setzten lächelnd ihren Weg fort. Niemals würde uns in dieser liebenswürdigen Stadt etwas Böses zustoßen, dachte ich."
Vier Erzählebenen also gibt es: Die Geschichte von Remo, Jan und ihren Dichterfreunden und -freundinnen, kleinere Traum-Kapitel, sowie das Interview bei der Preisverleihung. In diesem Interview selbst öffnet sich eine weitere, die vierte und letzte Ebene des Romans, ein Roman im Roman sozusagen. Die Interviewerin bittet den Autor, der sich als ein etwas älterer Jan, bzw. Roberto identifizieren lässt, ihr etwas über sein preisgekröntes Werk zu erzählen. Stattdessen aber entwickelt Jan dieses Werk überhaupt erst im Erzählen. Er referiert keine einmal erfundene Geschichte, sondern lässt diese Geschichte neu entstehen. Sie handelt von einer sogenannten Kartoffelakademie in einer chilenischen Kleinstadt, einem Kartoffelspezialisten, der zugleich eine Art Amateurfunker ist, der niemals Kontakt zu irgendjemandem herstellt, eines Tages aber durch eine Stimme aus dem Äther aufgeschreckt wird, der Stimme eines gewissen Boris Lejeune, eines Leutnants, der sich offenbar im Krieg befindet.
Es ist eine Geschichte, die sich im Grunde, so wie Jan es tut, nur in Gänze erzählen lässt, weil die Erzählebenen in ihr unmerklich ineinanderlaufen, wodurch dieser Boris Lejeune bald selbst an den Rändern der Felder der Kartoffelakademie steht.
"Der Verwalter hat nur Augen für seine Kabellage. Lejeune seufzt, dann setzt er seine Offiziersstiefel in die schwarze Erde und geht auf die Zelte zu, die man auf der anderen Seite des Ackers aufgeschlagen hat. Im Lager herrscht ein allgemeines Durcheinander. Als er am Lazarettzelt vorüberkommt, sieht Lejeune die ersten Toten und stellt das Pfeifen ein. Ein Korporal zeigt ihm die Zelte des Generalstabs. Auf dem Weg dorthin fällt ihm auf, dass man das Lager abbricht. Allerdings geschieht alles mit einer Langsamkeit, dass man schwerlich sagen könnte, ob die Truppe sich zurückzieht oder einrichtet. Als er endlich seine Vorgesetzten findet, fragt Lejeune, was er tun soll. Wer sind Sie?, donnert die Stimme des Generals. Das Mädchen kauert sich plötzlich vor dem Loch in der Treppe zusammen. Der Verwalter schluckt seinen Ärger hinunter. Lejeune antwortet: Leutnant Lejeune, ich stehe auf der anderen Seite des Kartoffelfelds, Herr General, bin gerade angekommen. Zur rechten Zeit, sagt der General und hat ihn sofort vergessen. Das Gespräch verwandelt sich bald in ein Geschrei, das niemand versteht. Lejeune vernimmt die Worte Ehre, Vaterland, Schande, Größe, Ordnung et cetera, bevor er sich aus dem Zelt schleicht."
Die Revolution im Séparée
Wenn Roberto Bolaño mit Elementen des Kriminalromans spielt, so ist auch der Leser angehalten, sich als Detektiv zu betätigen. Denn so seltsam, ja geradezu abstrus die Geschichte von der Kartoffelakademie klingt, so gibt es doch einige Verbindungslinien zu der Geschichte von Jan und Remo und mithin in die Realität Mexikos und Chiles in den siebziger Jahren. So erwähnen Jan und Remo selbst einmal den Namen Boris, ganz nebenbei nur, es scheint sich um einen vielleicht fünfzehnjährigen Jungen zu handeln, der mit ihnen gereist, aber nicht mit ihnen angekommen ist, der womöglich gestorben ist. Und da junge Männer eher selten einfach so, häufiger aber im Krieg sterben, ist man schnell bei der Frage, warum diese jungen Chilenen eigentlich nach Mexiko wollten? Hier spielt wieder die Biographie Bolaños mit in die Interpretation hinein, hatte er sich doch am Kampf gegen den Putsch Augusto Pinochets beteiligen wollen, war aber schon nach wenigen Tagen gefangen und eingesperrt worden und nur durch Glück wieder freigekommen, so dass er selbst nach Mexiko und später dann nach Spanien reisen konnte.
Dabei sind die Namen "Mexiko", "Chile" oder "Pinochet" austauschbar, was Bolaño hier erzählt, ist eine universale Geschichte des äußeren, politischen Kampfes, des Kampfes gegen falsche Autoritäten, wie auch eine Geschichte der inneren Kämpfe, die das Heranwachsen mit sich bringt, nicht zuletzt eine Geschichte von der ersten Liebe. Als Leser fällt es leicht, sich mit Jan und Remo, oder mit Lola und Laura, die bald auftauchen werden, zu identifizieren. Ebenso leicht lässt sich die politische Geschichte Lateinamerikas mit der Europas vergleichen. Nicht umsonst ist in "Der Geist der Science-Fiction" mehrfach von Guderians Panzern die Rede. Und dass wir es nicht mit einem historischen Roman zu tun haben, der eine bestimmte Situation Ende der siebziger Jahre konserviert, sondern mit einen Roman, der sich auch heute noch als aktuell erweist, beweist nicht zuletzt die Prophetie mit der Remo über Kriegsspiele, damals noch reine Brettspiele, redet.
"Die meisten verorten sich im Zweiten Weltkrieg und liegen hinsichtlich ihrer Ikonographie und Identifikationsangebote auf Nazilinie. Beispielsweise locken sie ihre potentiellen Spieler mit dem Versprechen, dass, bei entsprechendem Glück und spielerischem Geschick, die Operation Barbarossa von Erfolg gekrönt sein könnte, Rommels Panzer doch noch Kairo erreichen und sich mit der Ardennenoffensive womöglich ein ehrenhafter Waffenstillstand zustande bringen ließe. Der Verlag, der die Brettspiele herausbringt, arbeitet sicher schon an Computerversionen seiner Kriegsspiele. Ein Geschäft im Aufwind, denke ich."
Von Kriegsspielen handelt auch Bolaños ebenfalls aus dem Nachlass veröffentlichter, ebenfalls faszinierender Roman "Das Dritte Reich". Wie überhaupt viele Motive seines Schreibens schon in diesem sehr frühen Werk angelegt sind. Faszinierend an "Der Geist der Science-Fiction" ist aber auch, dass es nichts von einem Frühwerk, dass es trotz seiner puzzlehaften Struktur, nichts von einer Erzähletüde an sich hat. Wie planvoll Bolaño geschrieben hat lässt sich auch im Anhang nachvollziehen. Hier hat der Verlag dankenswerterweise vierundzwanzig Seiten aus den Notizbüchern und Kalendern faksimiliert, auf deren Seiten der Autor am "Der Geist der Science-Fiction" gearbeitet hat. Die schon erstaunlich sauber gearbeitete und für den des Spanischen mächtigen leicht lesbare erste Fassung ist hier in Auszügen der späteren Reinschrift gegenüber gestellt. Aber auch der des Spanischen unkundige wird anhand der Listen, der Spiegelstriche und Zahlenreihen erkennen, wie strukturiert Bolaño gearbeitet hat und wie deutlich ihm von Anfang an die Komposition des Ganzen vorgeschwebt haben muss.
Es handelt sich also um einen ganz und gar eigenständigen, ausgereiften und zudem leichthändigen Roman, der gleichrangig neben "Den wilden Detektiven" oder "Stern in der Ferne" steht. Letzterer Kurzroman befasst sich, wie auch "Die Nazi-Literatur in Amerika" oder "Chilenisches Nachtstück" mit den Verlockungen, die der Faschismus für Schriftsteller besaß und womöglich heute noch besitzt. Für Bolaño ist diese Faszination freilich eine Faszination des Grauens, und die Verbindungslinien von den Folterkellern Pinochets in "Chilenisches Nachtstück" zu den Folterkellern der Polizei und den Frauenmorden in "2666", ist leicht erkennbar. Es ist der Geist des Bösen, dem Bolaño immer wieder nachspürt. Ihm entgegen steht tatsächlich so etwas wie "Der Geist der Science-Fiction", ein Geist des Spiels, der Neugierde, ein Geist auch des toleranten Hedonismus.
"Von Zeit zu Zeit kreuzten sich unsere Blicke, und wir lächelten, wenn auch noch nicht zu Anfang, erst Jahrhunderte später, als wir die Tortas aßen, die José Arco an einem nur ihm bekannten Ort besorgt hatte, und vielleicht lächelten wir damals nicht einmal aus gegenseitiger Sympathie, zumindest nach außen hin, sondern weil in den winzigen Abmessungen des Zimmers nach und nach die Energie zunahm, die von Jan und Angélica ausging, beide wie zu Statuen erstarrt, errötet wie malayische Brautleute, und von den anderen auch, durch Fotosynthese oder weil wir damals so drauf waren oder weil es uns an diesem Ort und in dieser Nacht nicht gegeben war, uns anders zu verhalten, ich weiß es einfach nicht, ehrlich!, wir fingen an zu lächeln, waren einander immer mehr malayische Brautleute, aßen und tranken ohne Hast und ohne Pause, während wir geduldig warteten, dass im Fenster, unter dem Estrellita schlief, jemand das Morgengrauen anknipste."
Man kann "Der Geist der Science-Fiction" als geradezu programmatisches Werk lesen, steht doch am Ende ein Kapitel, das mit "Mexikanisches Manifest" überschrieben ist. Es handelt davon, wie Remo und seine Freundin Laura öffentliche Bäder aufsuchen und dort in als Séparées anzumietenden Dampfkammern nicht nur selbst miteinander schlafen, sondern auch den Beischlaf zweier Jungen unter der Regie eines älteren Mannes wie ein Theaterstück vorgeführt bekommen. Sicher kann man dieses Kapitel auf vielerlei Weise lesen. Nimmt man es aber tatsächlich als "Manifest", als Manifest auch, das sich Bolaño in erster Linie selbst geschrieben hat (denn veröffentlicht hat er selbst den Roman schließlich nicht), dann könnte es bedeuten: Übersetz die Energie dieser Zeit in Literatur, nimm auch die sexuelle Energie dieser Zeit und mache große Kunst daraus. Es waren die großartigsten Jahre, es waren Jahre, die nie wiederkehren werden, mach etwas daraus, mit deinen Mitteln. Und das hat Roberto Bolaño zweifellos getan.
Roberto Bolaño: "Der Geist der Science-Fiction"
aus dem Spanischen von Christian Hansen
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 256 Seiten, 22 Euro.
aus dem Spanischen von Christian Hansen
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 256 Seiten, 22 Euro.